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60 Die „strategische Souveränität“ der EU

  1. Der Fall des Friedenstabus

Mußte der Angriffskrieg Rußlands gegen einen seiner Nachbarstaaten zu einem radikalen Umdenken in Europas „Sicherheitspolitik“ führen?

Unter diesem mit Undeutlichkeit geschwängerten Wort pflegte man im friedensverliebten Europa die Frage zu erörtern, wie sich der europäische Staatenverbund im Falle eines Angriffes durch äußere Mächte verteidigen soll. Eine Frage, die seit Rußlands Angriffskrieg gegen die Ukraine offensichtlich nicht mehr unter europäischem Friedenstabu steht.

Bis vor Kurzem schien das Tabu wie in ewigen Stein gemeißelt: Wer sollte denn Europa angreifen, wenn dessen Friedensvorbild schon längst globale Wirkung zeigt und alle Welt zu Nachahmung und Nachfolge motiviert? Auch scheint EU-Europa den Islam endgültig als Religion des Friedens erkannt zu haben, – täglich holt man neue „Flüchtlinge“ aus Afrika und Asien „heim“ nach Europa.

Wenn Rußland einen ehemaligen Bruderstaat der Sowjetunion mit einem verheerenden Vernichtungskrieg überzieht, wäre nach Europas langjähriger Friedensdoktrin eigentlich zu erwarten gewesen, daß sich „Brüssel“ heraushält und für neutral erklärt. In eine innerrussische Angelegenheit habe sich EU-Europa so wenig einzumischen wie in die permanenten Konflikte und Kämpfe zwischen Sunniten und Schiiten.

Doch selbst ein grüner Minister der Berliner Republik warnte die diesjährigen deutschen Ostern-Märschler eindringlich, nicht dem Irrtum anheimzufallen, Angreifer und Angegriffene zu verwechseln. Wer im Fall des Ukraine-Krieges Täter und wer Verteidiger sei, stehe außer Zweifel.

Und da nur noch wenige („Ewiggestrige“) innerhalb der linksgrünen Friedensfront in Deutschland an die USA als eigentlichen Verursacher des russischen Überfalls auf die Ukraine glauben, sei es auch ein Gebot der Stunde, an der Seite der USA zweckdienliche Waffen an die bedrohte Ukraine zu liefern.

Wobei die akademische Frage, ab wann und ab wo gewisse Waffen als „verhältnismäßige“ Verteidigungswaffen zu gelten haben, rasch als gefährliches Appeasement an den Aggressor beiseitegeschoben wurde. Nicht zur Freude aller notorisch Friedensbewegten, die bereit wären, an der Seite des Papstes die Rolle des biblischen Pilatus und nicht die des „gleichewigen“ Modell-Samariters nachzuspielen.

(Der Jammer eines religiösen Denkens, das mit ewigen Modellen, etwa mit biblischen, die noch dazu durch die innere Pluralität vieler Modellgeschichten gebrochen sind, an die große Geschichte der jeweiligen Weltmächte als „Advisor“ heranzutreten, ist ebenso unheilbar wie stets wiederkehrend.)

2. Armeebildung ohne vernünftiges Kopfzerbrechen

Bis 2022 stand in der EU ein erklärtes Fernziel unwidersprochen fest: von den USA so unabhängig wie nur möglich zu werden, um in erwartbarer Zukunft mittels eigener Armee alle Mitgliedsstaaten der EU definitiv schützen zu können.

Ein Ziel, mit dem aber die Massenmigration nach Europa nichts zu tun habe, weil die Logik der Menschenrechte nicht unter die Logik der Sicherheitspolitik subsumiert werden dürfe. Reale Wehrlosigkeit hier, gewünschte Armeebildung dort: ein Widerspruch, der den EU-Eliten bisher noch kein Kopfzerbrechen bereitet.

Hingegen zerbrach und zerbricht man sich den Elitenkopf über der Frage, ob man das geplante Armee-Building mit oder ohne Nato, folglich mit oder ohne USA vorantreiben sollte. Auch in dieser Frage hat der Überfall Rußlands auf die Ukraine mit einem Schlag neue Klarheit geschaffen. Nicht nur wegen des Brexits von 2020 kann man den großen Bruder hinter dem großen Teich nicht mehr in unbekannte Fernen wünschen.

Auch in der Türkei wurde der Knall gehört: Ankara sucht neuerdings wieder an der Seite des Westens anzuheuern. Erdogan wird die von Rußland erworbenen Raketen-Abwehrsysteme garagieren und unter der US-Aufsicht einmotten. Dieses Goodwill wird ihm freilich nicht ersparen, in der Frage eines NATO-Beitritts von Finnland und Schweden schon bald Abstimmungs-Farbe bekennen zu müssen. Und dies in einem Land, in dem 35 Prozent der Bevölkerung gegen die USA gestimmt sind, teils aus antiisraelischen, teils aus antisemitischen Gründen oder schlichter: weil die USA mit Saddam Hussein das Paradebeispiel eines Menschenfreundes vernichtet haben.

Doch wie lange Europa noch auf die Bündnisfreudigkeit der USA mit Europa setzen kann, wurde angesichts der über dem pazifischen Ozean aufziehenden Wolken (Nordkorea und Taiwan) mehr als fragwürdig. Dennoch und auch deshalb: An der „sicherheitspolitischen“ Kooperation von EU und NATO führt vorerst kein Weg vorbei. Es dämmert allenthalben, daß die Suche nach einer größeren militärischen Autonomie Europas gegenüber den USA dem Schutz aller EU-Staaten nicht dienen, sondern wie ein selbstzerstörerisches Gift wirken könnte.

Die EU, soeben noch führende Friedensmacht der Welt, findet sich seit 2022 nur noch als eine der schwächeren Mächte im „Konzert“ der Weltmächte wieder. Da kommt das politologische Sprachspiel mit einer „strategischen Souveränität“ gerade zur rechten Zeit: als erster bediente sich Macron der Überzeugungskraft einer neuen Devise, die den EU-Staaten gewisse Vertrauensverluste und Ängste austreiben soll. Mit dem neuen Wort sei schon ein neuer großer Anfang gemacht: EU-Europa werde lernen, sich als reale Großmacht gegen die Ansprüche der anderen Realos der Weltgeschichte zu erhalten und durchzusetzen.

Doch „Souveränität“ im Namen und Dienst welchen Souveräns? Nach dem demokratischen  Selbstverständnis der EU kann dies nur das Volk der vereinigten Europäer sein, ein Volk der Völker. Ein „Volk“ in statu nascendi folglich, das seit dem Brexit-Jahr 2020 hofft, der Austritt Großbritanniens möge der erste und letzte gewesen sein.

Aber „Souveränität“ wirft noch viele andere Fragen auf, die europaintern bisher noch kaum gestellt wurden. Auch der Konsens über eine EU-Enthaltung vom russischen Vernichtungskrieg in der Ukraine wurde nicht durch demokratische Prozeduren und politische Auseinandersetzungen erreicht, er wurde als Selbstverständlichkeit angenommen, weil eine friedensführende Weltmacht nicht anders denn als kriegsenthaltsam entscheiden und agiere könne. Allenfalls als Waffenlieferantin und Flüchtlingshelferin könne sie zu Diensten stehen.

Nun ist aber ein Krieg an die (Ost)grenze der EU vorgerückt, eine Grenze, der kein großes Meer vorgelagert ist und keine anderen Staaten als hemmender Puffer dienen wie im Süden Europas, obwohl das Nicht-EU-Mitglied Türkei bekanntlich als höchst unsicherer Kantonist im europäischen Verbund agierte und agiert und die Open-Border Politik der NGOs zwischen Afrika und Europa nicht nur die Sympathien des Papstes hinter sich weiß.

An der Ostgrenze der EU könnte der aus der Geschichte Europas vertraute Spruch: „Noch ist Polen nicht verloren“, bald zu neuen (Un)Ehren kommen.

3. Strategische Souveränität

„Strategische Souveränität“ ist eines jener Hochworte der Politologen-Zunft, das die Politiker der EU liebend gern aufgreifen und wie Konfetti über die staunende und befriedigte Journalistenmeute streuen, um deren Befürchtung, Europa könnte ein Schiff ohne Kommandobrücke und ohne Steuerruder (geworden) sein, zu zerstreuen.

Daß das technokratische Wort „strategisch“ das allzu realistisch klingende Wort „militärisch“ flaumig abfedern soll, um auch zwischen „glühenden Europäern“ von Mund zu Mund eilen zu können, ist offensichtlich. Jede selbstauferlegte Zensur wird erst nach der nächsten Wende der Weltpolitik als solche erkannt und ausgekehrt.

Hinter jeder offiziell verkündeten (Strategie)Frage steht eine Phalanx nicht verkündbarer Fragen, weil deren Verkündung allen diplomatischen Versteckspielen ein Ende bereiten oder prophezeien würde.

Es definiert den Denkstil des herrschenden Journalismus, das konfliktuöse Wesen der Sache(n) immer nur anzudeuten, niemals „durchdeklinieren.“ Auf diese Kritik erwidert der Journalist „postwendend“, daß er unter chronischem Zeit- und Platzmangel denken und schreiben müsse.

Worauf die vorausgesetzte Frage wieder einmal unerörtert bleibt: ob dieser Zeit- und Platzmangel nicht dadurch zustande gekommen sein könnte, daß die üblichen Tritsch-Tratsch-Texte des selbsternannten „Qualitätsjournalismus“ die Geduld der meisten Leser erschöpft und deren Flucht in die Fänge von Social media vorbereitet haben. Social media denkt einfacher und direkter und vor allem auf Aktuelles stets ebenso aktuell und spontan reagierend. (Die Geburt eines anonymen Digital-Journalismus wird als unvermeidlicher Kollateralschaden hingenommen.)

Im politologischen Diplomaten-Stil formuliert: Die neue Strategie Europas sei a)militärisch abzusichern, b) durch reformierte oder gänzlich neue Institutionen zu organisieren c)durch reformierte oder gänzlich neue Prioritäten zu gestalten, und d)durch eine neue EU-Erweiterungspolitik zu begleiten, worunter auch neue EU-Beziehungen zu allen Drittstaaten fallen.

Eine Auswahl von Handlungsfeldern, denen sich vermutlich hundert weitere anfügen ließen, wenn Zeit und Zeilenraum wäre, alle vorhandenen und alle noch aufzuspürenden Felder und deren Verflechtungen abzustecken. Mit einem Wort: leere Regalsätze, die nur Platzhalter spielen für dringliche Entscheidungen, die nicht unentschiedener sein könnten.

Und dennoch ist die Antwort auf die Frage: warum eine neue Souveränität, warum eine neue Strategie? – von unübertreffbarer Einfachheit: Weil sich die Nah- und Fernziele der europäischen Sicherheitspolitik von 1990 bis 2022 nicht nur nicht erfüllt haben, sondern durch eine weltpolitische Katastrophe ins Gegenteil gestürzt wurden.

Ein Friedensraum war geplant und vorgesehen: von Lissabon bis Wladiwostok, von Vancouver bis Wladiwostok. Dieser bleibt nun – je nach Interpretation – Wunschtraum oder „vertane Chance“.

Es hilft wenig, nachträglich zu erkennen, daß dieser bevorstehende Sturz ins Gegenteil schon an den Gräueln der Tschetschenien- und Georgien-Kriege und an der listigen Okkupation der Krim und Teilen der Ostukraine, ebenso an den neoimperialistischen Eingriffen Rußlands in Libyen und Syrien zu erkennen gewesen wäre.

Jetzt ist neue Unsicherheit und Fundamentalverwirrung in Europa eingekehrt: Der Dayton-Balkan beispielsweise wird zu einem noch unberechenbareren Faktor, um von der dominierenden Rußlandliebe der meisten Serben zu schweigen. Die Schande Deutschlands, die russisch-deutsche Ostsee-Gasleitung Nord Stream 2 als privatwirtschaftliches Projekt zu preisen und durch Gründung einer Stiftung die gegen Rußland verhängten US-Sanktionen zu umgehen, wird der aktuellen Ampelkoalition in Berlin noch lange in den Knochen sitzen.

Die einst gegen Amerika gerichtete Schröder-Chirac-Putin-Achse ist, um den Faktor unüberbietbar gesteigert, wiederauferstanden, um dem latenten und manifesten Antiamerikanismus Europas ein endgültiges Ende zu bereiten. Ein ausgedientes, ein sinnlos gewordenes Fehlverhalten von old europe.  

Unabsehbar auch die Konsequenzen für das Verhalten Europas in der iranischen Atom-Deal-Frage, aber auch für den Kampf gegen den Islamismus jenseits der Adria (Mali usf.), den man hierzulande noch unter „afrikanische Befriedungsprojekte“ regalisiert.

4. Neue Verwirrung, neue Unsicherheit

Die Ausgliederung der USA aus dem europäischen Sicherheitsraum wurde bereits mehrmals von der aktuellen Kreml-Administration als  strategisches Ziel der Neuordnungspolitik Rußlands in und für Europa genannt.

Zum Ergötzen aller Amerika- und NATO-Feinde auf der Seite der europäischen Linken erfolgen alle verdeckten und offenen Versuche Rußlands, Zwietracht in die EU, in die NATO und vor allem zwischen EU und Nato zu säen. Je schwächer und isolierter Europa, umso stärker der neue Osten, in dem sich Rußland auf die starke Schulter Chinas wird verlassen können, ohne die russische Hegemonie über den postsowjetischen Raum zu verlieren und seine Freunde von der Fünten Kolonne in Europa wieder einmal in Moskau empfangen zu dürfen. Noch ist der heilige Boden Rußlands nicht ausgeküsst.

Der polemische Begriff EUdSSR, von EU-Gegnern oft zurecht angebracht, hätte zum großen Wohlgefallen der vereinigten europäischen Linken seine unbeabsichtigte Neubedeutung erreicht.  

Völlig unklar bleibt weiters, wie mit den EU-Beitrittsansuchen der Republiken Moldau und Georgien verfahren werden soll. Gegen einen NATO-Beitritt von Schweden und Finnland hat Rußland bereits ein verbales Veto eingelegt. Welches Veto im Fall eines Beitrittsversuches der Ukraine zur EU zu erwarten wäre, wollen wir uns vorerst lieber nicht ausmalen.

Nachdem die Chance eines Nato-Beitritts der Ukraine 2008 durch Merkel und Sarkozy „vergeigt“ wurde, wartet die nächste Gelegenheit vielleicht erst in dreißig bis fünfzig Jahren. Allerdings kennt das Denken von EU und westlicher Welt bekanntlich nur ein institutionengebundenes Veto. Ein anderes kennt nicht einmal die ehrwürdige Charta-Sammlung der UNO. Sollte sich ein russisches Veto jenseits der UNO und „mitten in Europa“ auszutoben beginnen, würden viele Vertrauenslichter erlöschen, die bisher den Traum von einem gestärkten EU-Europa angeführt haben.

Als „Mutter“ aller strategischen Ziele wurde mittlerweile die energiepolitische Abkoppelung des Westens von Rußlands Ressourcenhandel (Gas und Öl) erkannt. Die unüberbietbare Peinlichkeit, daß „Putins Krieg“ mit den Geldern des Westens, Euro und Dollar voran, finanziert wird, führt nicht nur in Deutschland zu gravierenden Turbulenzen und Verwerfungen. Die aktuelle Berliner Ampelkoalition wagt es bereits, die verheerenden Rußland-Irrtümer der Merkel-Ära offen auszusprechen.

Die Anstrengungen des Kremls, in Europa und im Nahen und Weiteren Osten Fuß zu fassen- von der Ukraine bis auf den Balkan, vom Iran über Syrien bis Libyen – machen eine Strategie deutlich, die anders als die friedensmoralische des Westens überall an der Untrennbarkeit von energiepolitischen und sicherheitspolitischen Optionen festhält. „Handel“ steht hier nicht im Dienst von „Wandel“, sondern wird als probates Mittel für offensive Kriegsziele hemmungslos eingesetzt. Es wird „offensiv furagiert“, hätte man früher, etwa in der Zeit der napoleonischen Kriege, verkündet.

Seit Macron im Jahr 2017 das neue Zentral-Mantra der „strategischen Souveränität Europas“ öffentlich in den Mund genommen hat, wird es einer unaufhörlichen Um- und Neudefinition unterworfen.

In der Tat: Wenn dieser Findungsprozeß nicht in absehbarer Zeit überzeugende Erfolge vorweisen kann, wird auch das „strategische Projekt“ einer politischen „Vertiefung“ der europäischen Integration hinfällig geworden sein.

Leo Dorner April 2022