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26 Anthropologische und andere Konstanten

I.

 

Was ist eine anthropologische Konstante? Wie schon der Name zu beschwören scheint: sie soll etwas Konstantes, sie soll ein konstantes Etwas sein, und sie soll eine menschliche Konstante oder doch eine für alle Menschen gültige Konstante sein. Sie soll ein Ruhendes in aller Unruhe, ein Gleichbleibendes in aller Veränderung sein; auf sie soll Verlaß sein, denn auf ihr Wesen und Sein, auf ihr unveränderliches Etwas kann man sich rückbeziehen, wenn unsicherer Leute unsicheres Denken uns einreden möchte, es sei da nichts zwischen Himmel und Erde, auf das man sich verlassen könne, denn Himmel und Erde seien nun einmal so gebaut, daß sie gegen keine Zerbrechlichkeit versichert sind. Das Konstante aber wäre allem Verändern und aller Bewegung, aller Unruhe des Nichtkonstanten, allen Unsicherheiten der unsicheren Welt entnommen. Der tragende Balken über dem Abgrund, die Brücke, die uns hinüberlaufen läßt. Denn: Was konstant ist, das bleibt konstant.

Demnach viele Konstanten und nicht nur eine Konstante? Eine gute oder eine raffinierte Frage? Eine konstante Frage? Daß Göttern und Gott etwas Konstantes eignet oder eignete, scheint außer Streit zu stehen. Aber Götter und Gott sind nicht zwischen Himmel und Erde, noch weniger in Himmel und Erde eingezwängt. Außer und über dieser Welt ist es leicht, konstant zu sein und als Konstante angenommen zu werden. Das Ewige ist per definitionem konstant; aber diese Welt, die wir unsere Welt zu nennen gewohnt sind – was wäre an ihr ewig und konstant, bleibend und unvergänglich? Wenn nicht einmal den Göttern die Konstanz ihrer Existenz verbürgt war?

Was aber haben theologische mit anthropologischen Konstanten zu schaffen? Vielleicht dies: theologische sollen als Vorbild oder könnten wenigstens als Korrektiv aller (vorgeschlagenen) anthropologischen Konstanten fungieren? Oder sollten wir uns eher in den Räumen der Naturwissenschaften nach vorbildlichen Konstanten und Kriterien für tragfähige Konstanten umsehen?

Fündig scheint die Physik geworden zu sein: die Konstante Lichtgeschwindigkeit sei unter allen Umständen konstant, sie sei die einzige Konstante der Natur. Ganz besonders im Umstand Vakuum; womit wir eine Doppelkonstante gefunden hätten: das Vakuum als existierendes Nichts und das Licht, nein, nur dessen Geschwindigkeit, als konstantes Etwas. Aber Geschwindigkeit als Konstante? Eine gleichbleibende Höchst-

Geschwindigkeit als Kriterium anthropologischer Konstanten? Kein Mensch möchte sich einer unüberbietbar raschen Fluchtgeschwindigkeit als Konstante anvertrauen. Sie scheint nicht jener Fels zu sein, den wir finden möchten.

 

II.

 

Der bisherige Aufriß hat drei Blicke in drei sehr verschiedene Räume oder Welten eröffnet, in denen je eigene Konstanten existieren könnten: theologisch-religiöser, kosmisch-natürlicher und anthropologisch-menschlicher Raum.

Könnte es sein, daß dieser Unterschied – dreier differenter Welten möglicher Konstanten – schon eine oder gar die tragende Konstante wäre? Die erste und letzte, die ursprüngliche und auch anthropologisch ursprüngliche Konstante? Wir sind nicht Gott und nicht Natur und doch zugleich Kinder von des Vaters Geist und der Mutter Natur? Eine unziemlich komplizierte Konstante, in deren Falten sich allzu viele Nichtkonstanten zu verbergen scheinen. Und „ein Unterschied“ tauge überhaupt nicht als Konstante, wendet unser gesunder Menschenverstand ein. Konstante und konstant: das muß etwas Identisches, mit sich Übereinstimmendes sein. Kein Sowohl-als-Auch und auch kein Entweder-Oder, sondern ein Bleibendes in jedem Sowohl-als-Auch, in jedem Entweder-Oder.

Dabei scheint nichts so fest zu stehen wie der konstante Unterschied von außer- und vormenschlicher Kosmos-Welt einerseits und innermenschlicher Vorstellungswelt andererseits. Wäre zwischen physischen und nicht-physischen Konstanten kein konstanter Unterschied, wie könnten wir diese beiden jemals unterscheiden? Aber „konstant“ in welchem Sinne? In einem Dauersinn, in einem „ewigen“ Sinn? Als ewiger Unterschied somit, als unentstandener und nicht vergehender Konstanten-Unterschied?

Dagegen erhebt unser modernes wissenschaftliches Weltbild vehementen Einspruch, weil nach modernem Wissen das Menschliche und der Mensch erst spät innerhalb der kosmischen und deren planetarischer wie biologischer Welt entstanden ist.

Und zudem noch gar nicht gewiß sei und vielleicht niemals gewiß sein wird, ob der Mensch in anderen Sonnensystemen und Galaxien verwandte Wiedergänger hat oder auch ganz andere Arten von „intelligenten“ übertierischen Wesen als seine Nicht-Verwandten existieren könnten.

Solche nämlich, in denen nicht ein konstanter Unterschied, sondern ein unbekannt inkonstantes Übergehen von Physischem in Psychisches und umgekehrt stattfindet. Eine These, die nicht wenige Anthropologien und Philosophien ohnehin schon am und im hiesigen Menschen verwirklicht sehen – überschlägt man nur flüchtig das Pantheon aller Varianten, das Leib-Seele-Problem zu lösen.

 

III.

 

Wer somit behauptet, es gebe neben natürlichen Konstanten auch noch kulturelle Konstanten, scheint schon entschieden zu haben, daß zwischen beiden ein konstanter Artunterschied regiert. Eine Entscheidung und ein Schein, denen die moderne Evolutionstheorie und deren evolutionäre Erkenntnistheorie bekanntlich nicht zu folgen gesonnen sind.

Also dürften wir nur unter Vorbehalt formulieren, daß es sich bei kulturellen Konstanten nicht um solche des biologischen Lebens des Menschen handelt. Denn geistige Konstanten anzunehmen, wäre nur Schein und konstruierende Entscheidung. Also wäre zwischen dem Leben des Geistes und dem Leben der Natur des Menschen kein Unterschied, was schon dadurch bewiesen sei, daß jeder Mensch stets nur als Einheit und Wechselkurs der beider fundamentalen Lebens-Faktoren als Mensch leben kann.

Immer ungünstiger wird die Aussicht, am Horizont unseres Suchens veritable anthropologische Konstanten zu finden. Denn ein Wesen, das ständig zwischen Geist und Natur, zwischen Psyche und Soma fluktuiert, indem folglich zwei gegensätzliche Konstanten permanent und inkonstant ineinander vagabundieren, ein solches Wesen scheint nur über vagabundierende Konstanten zu verfügen.

Was wir aber auch anführen, um den Unterschied von biologischer Natur und nichtbiologischer Freiheit des Menschen als konstanten und unhintergehbaren Unterschied zu unterscheiden, kritische Evolutionswissenschaft wird uns jedes Mal eines Besseren belehren: daß nicht denkbar sei, was als denkbar behauptet wird: daß Mensch und Tier mehr unterscheide, als die orthodoxe Evolutionslehre zu denken vermag.

Offensichtlich sind wir in ein vermintes Feld geraten: in ein Kampffeld, auf dem über die Definitionshoheit unter den Wissenschaften vom Menschen gekämpft wird. – Könnte ja sein, daß Heraklits Gesetz vom Krieg als Vater aller Dinge zugleich die Mutter aller Konstanten und somit die einzig wahre Konstante wäre. Was unter euch und für euch Menschen Konstante

sei, das muß unter euch ausgerauft werden. Und welche Mutter auch siegt und fruchtbaren Kindern das Leben schenkt, die nächste Mutter wird anderen Kindern ein anderes Leben mit anderen Konstanten schenken. Wie jeder Blick in die Geschichte der Menschheit beweise.

Die Frage der permanenten Umstrittenheit – wie und durch wen der Mensch zu definieren sei – ist unumstritten brisant: wie kann es für ein Wesen, das als natürliches zugleich aus Freiheit handeln und existieren muß, so etwas wie Konstanten geben? Ist Freiheit die gesuchte anthropologische Urkonstante, die Mutter aller menschlichen Subkonstanten? Kann Freiheit Konstante sein? Wohl nicht als „Etwas“, aber vielleicht als eine vorgegebene Aufgabe, als stets sich erneuender Auftrag, den der Mensch nur um den Preis seiner (Selbst)Vernichtung vernachlässigen kann? Somit wäre der Begriff der Freiheit, nicht der Begriff von Konstante – konstant?

Auch diese Grundreflexion wird von der Evolutionslehre des Menschen zurückgewiesen. Denn wie soll Freiheit als jüngstes Kind der Evolution anerkennbar sein, als wirkliche Freiheit möglich geworden sein? Als zufälliges Letztprodukt einer biologischen Anfangszufälligkeit? Weil schon in den atomaren Kleinteilen der Gene aller Einzeller jene Quantenfluktuationen tobten, die nach millionenjährigen Mutationen und Selektionen das Nebenprodukt menschlicher Freiheit entäußerten? Wonach Freiheit und frei sein hieße, mit Lust und Laune zufällig sein, zufällig entscheiden, zufällig handeln, zufällig definieren?

 

IV.

 

Zurück auf den Boden der gelebten Tatsachen: Trinken und Essen könnten als natürliche Konstanten des Menschen behauptet werden, obwohl sie natürlich kulturell (etwa religiös) kontaminiert sind oder waren, und obwohl sich die Freiheit des Menschen bei diesen Konstanten eher mit einer Nebenrolle zu begnügen scheint. Daran kann auch die Zweideutigkeit des Ausdrucks „natürlich“ im Ausdruck „natürlich kulturell“ nichts ändern: der Löwe frißt nicht aus und für Freiheit, der Mensch muß auch um der Erhaltung seiner Freiheit willen essen und trinken, wenn er um seines Lebens willen essen und trinken muß.

„Natürliche Konstanten“ des Menschen wären demnach solche, die wir als unwillkürliche Eigenaktiva des menschlichen Körpers, wie Atmen und Verdauen, erleben und beschreiben. Und dies, obwohl der Mensch auch seine biologischen Aktiva wenigstens partiell seiner Willkür unterwerfen kann: nicht-natürlichen Techniken wie Diäten, Askesen oder auch

Völlereien und Besäufnissen. Die Rationierung von Speise und Trank ist in Zeiten kollektiver oder individueller Hungersnot ein Akt von Vernunft und Freiheit.

Ist aber im natürlich-menschlichen Bereich keine Konstante ohne Variante, könnte eben dies als eigentliche Konstante durchgehen: ein Begriff von Konstante, der um seine Dialektik weiß. Immer nur konstant sein, ist nicht einmal den Staubteilchen der intergalaktischen Hemisphären gegönnt. Aber immer nur variant sein, ist jedem Etwas (in jeder Subwelt dieser Welt) nicht ohne Konstante möglich. Die Konstante allein wäre nur Identität des Etwas; die Variante allein wäre immer nur neue Nichtidentität des Etwas; schon daß ein „des Etwas“ möglich sein soll, setzt die Einheit von Konstante und Variante voraus.

 

V.

 

Und diese Dialektik gälte auch im Raum der Kultur und möglicher kultureller Konstanten? Fragen wir uns quasiunwillkürlich nach kulturellen Konstanten, nach solchen, die uns zufällig einzufallen scheinen, melden sich die Namen gewisser basaler Universalien des nicht-tierischen Verhaltens der Nicht-Spezies Mensch: Sprechen und Denken etwa, auch Wollen und Handeln, um vorerst nur diese zu nennen.

Wobei wir uns großzügige Ausnahmen gestatten: ein Blinder bleibt, wenn als Mensch erkannt und anerkannt, der gefragten kulturellen Konstanten teilhaftig; ein Stummer nicht weniger; und auch noch der Verbrecher, der sein Leben hinter Gefängnismauern wird beschließen, fällt nicht auf die Lebens-Stufe des Tieres zurück. Hitler und Stalin werden als Menschen, wenn auch als Menschenungeheuer, gehandelt.

Sprechen und Denken, Wollen und Handeln und ähnliche Aktiva scheinen jedoch sehr allgemeine Konstanten zu sein, sie scheinen nicht das gesuchte Etwas von Konstante zu sein. Und im Okular und Mikroskop der Evolutionslehre entpuppt sich jede Konstante ohnehin als flüchtige Durchgangsstation, mögen die Fluchtstationen auch Jahrmillionen gedauert haben.

Haarklein und knochengenau sei nachweisbar, durch welchen Übergang von welchem Lurch zu welcher Affenart – vor über vierzig Millionen Jahren – die viel später erschienene letzte Primatenaffenart der ersten Menschenart die Erbschaft der genannten „Konstanten“ hinterließ. Schon damals entschied sich das Schicksal des Menschen (einer werden zu müssen), schon damals bildeten sich Variablen eines tierischen

Verhaltens, die wir Spätnachgeborene als Sprechen und Denken, Wollen und Handeln glauben erkennen zu müssen.

Eine etwas komplizierte Genese von Konstante, eine etwas komplizierte Konstante von Genese: nicht gerade das, was wir als Konstante im inneren Auge haben, wenn wir nach deren realer Existenz Ausschau halten. Könnte ja sein, daß in der Evolution, daß in der gesamten existierenden Welt überhaupt, immer nur Übergang ist, von einer Epoche zur nächsten, von einer Art zur nächsten, von einem Moment zum nächsten. Daß folglich nichts konstant ist, dies aber konstant.

 

VI.

 

Außerdem lehrt uns die Evolutionstheorie, daß im Anfang der Übergänge und Entwicklungen, auch jener in Richtung „Krone der Schöpfung“, zuletzt nur Zufälle Schicksal spielten, wie nach Ansicht nicht weniger moderner Kosmologen auch schon am Beginn des Universums. Denn nicht wenig hätte gefehlt, und es wären gleich viele Teilchen wie Antiteilchen in die Welt geworfen worden – Gott hätte sich verwürfelt oder nach falschen Würfeln gegriffen.

Doch scheint die Entwicklung zum Menschen wenigstens insofern determiniert gewesen zu sein, als sie nicht abgebrochen wurde; sogar die Dinosaurier hatten genug Anstand, hinter der Bühne zu verschwinden und unseren Werdegang nicht zu stören.

Ein determinierender Zufall als glücklicher Zufall; ein glücklicher Zufall als determinierende Konstante, denn der Mensch, einmal geworden, hörte nicht mehr auf, einer zu bleiben. Dennoch bleibt ein verunsicherndes Gefühl zurück: Zufall als Konstante, Zufälle als Konstanten? Zuverlässige, weil konstante Konstanten sehen anders aus.

Zudem scheinen wir nun wählen zu können, folglich wählen und uns entscheiden zu müssen: soll die gesuchte Konstante, oder wenn mehrzahlig vorhanden, sollen die gesuchten Konstanten allgemeine oder spezielle oder nur einzelne sein? In der letztgenannten Variante – einzelne Konstante – würde sich ein gleichbleibender Äther, ein gleichbleibendes Vakuum oder auch ein starkes und mächtiges Ding, ein fest und unveränderlich – „konstant“ – und vielleicht im Zentrum der Welt verankertes Urding anbieten: ein Schwarzes Loch, das schwärzeste und schwerste von allen, die Mutter aller Schwarzen Löcher, die alle Fäden zieht, und alle bisherige Astrologie wäre durch eine neue und unüberbietbar letzte ersetzbar.

Und was hilft uns die Konstante Lichtgeschwindigkeit, wenn uns zugleich versichert wird, der Raum des Universums dehne sich permanent aus, und dies nicht konstant gleichbleibend, sondern konstant sich steigernd?

Aber auch die gleichbleibende Entität Schwarzes Loch wäre eine nur relative Singularität; schon im Sprechen darüber haben wir sie mit Ihresgleichen verglichen und als größtes Exemplar ihrer Art und Gattung behauptet. Also sind auch alle „einzelnen“ Konstanten immer nur zugleich als spezielle und allgemeine existenz- und erkenntnismöglich, weil sie ohne diese immanente Relation ihres Daseins und Begriffes nicht als einzelne erkennbar und aussprechbar wären.

 

VII.

 

Ist somit die Frage (ob allgemeine, spezielle oder einzelne Konstanten zu suchen seien) als Scheinfrage erkannt, so ist damit noch nicht die Frage nach möglichen Konstanten beantwortet – in der Fülle nicht nur möglicher, sondern aller wirklichen Welten. Etwa in der biologischen Welt, etwa in der anorganischen Welt terrestrischer Herkunft, etwa in der kosmologischen Welt extraterrestrischer Existenz; und natürlich auch in der kulturellen Welt und ihren unzähligen Subwelten, sei es synchron, sei es diachron.

Die Frage, ob immerhin das Universum als Ganzes eine unvergleichbare Singularität sein könnte, ein allgemeines Wesen, das differenzlos seine eigene Spezifizierung und Vereinzelung sei, das somit als einzelnes sein allgemeines und daher das einzige und höchste allgemeine Wesen sei, führt sogleich auf die Frage nach dem Inhalt von Universum. Konkret: Geist kann nicht Inhalt von Universum sein, weil nur Geist diesen soeben angedeuteten Begriff von Universum zu denken vermag. Das Universum als Ganzes denkt sich nicht, es muß vom Denken gedacht werden; folglich ist Denken ein noch anderes Universum, sei es in dem (empirisch) „ganzen“ oder über diesem, in jedem Fall nicht mit diesem identisch und daher „anderen Ortes.“

Dieser Reflexion verweigert sich das Physiker-Phantasma „Pluriversen“, weil es mit materialen Hypothesen spielt, nicht aber den Begriff des wirklich „ganzen“ Universums als Einheit von Geist und Materie, von Ewigkeit und Welt als Problem begreift.

Wenn aber gilt, daß Konstanten nur als System ihrer Subkonstanten (und deren Variabilitäten) möglich und wirklich sind, wenn es folglich zur formalen Konstitution möglicher Konstanten gehört, stets nur in der

Differenz von Gattung, Art und individueller Einzelrealität wirkliche Konstante sein zu können, scheint „Konstante“ mit jenem „etwas“ zusammenzufallen, das wir noch heute als „platonische Idee“ zu bezeichnen oder mißzuverstehen pflegen.

Platons berühmte „Pferdheit“ mag in allen empirisch existenten Pferden deren „konstante Idee“ sein, und die Systembeweglichkeit der Idee mag deren Differenzierung gegen die Ideen von Löwe, Maus und allem anderen Getier gestatten. Ein durchaus bewegliches System von Negationen, das die Positionen der Ideen als ewige festlegt, obwohl der Zeitfaktor in dieser Reflexion aus und durch Negationen eine andere Relation von Idee und Realität der Zeit verlangt. Platon kennt keine zeitliche Evolution der Arten seiner Ideen.

 

VIII.

 

Doch gewichtiger ist das Problem Individualisierung: denn die Individualisierung der einzelnen Pferde kann nicht vollständig aus dieser allgemeinen Konstante deduziert werden, sie fällt außerhalb des Begriffes und damit der Idee: Eine Reformulierung der Relation von Konstante und Variante, von Identität und Nichtidentität. (Und es gibt auch keine Art von Mathematik, die das wirkliche Realisieren vorausberechnen und prognostizieren könnte. Die Gleichung zwischen Individuum und Gattung enthält stets mehr Ungleiche als mathematische Gleichungen prinzipiell erfassen können.)

Folgt demnach die permanente Individualisierung der Gattung zugleich nicht der Gattung (und Art), muß jedes Individuum Gattung und Art mitrealisieren, obwohl es zuletzt und zuerst sich selbst als stets neues und einmaliges Individuum realisieren muß. Woraus die Synthese von (allgemeiner) Konstante und je individueller Nichtkonstante als eigentlicher – nichtkonstanter – Konstante resultiert. Die Konstante ist nicht ohne ihr Geschwister Variante möglich. Wobei aber das Individuum mehr ist als eine Variante als beliebiger Variabilität, weil es als letzte Variante existiert, somit – nach Aristoteles – als vollendete Variante höchsten Wirklichkeitsgrad beanspruchen muß. Daher sind Mißgeburt und Krankheit wirkliche Tragödien, kein Spiel, kein beliebiger Zufall.

Daß aber in Platons System natürlicher Gattungen und Arten die der Dinosaurier und aller anderen Lebewesen, die Platon unbekannt waren, nicht erscheinen konnten, bestätigt zunächst nur die Trivialität, daß Platons Weltbegriff noch nicht total sein konnte. Doch folgt daraus weder, daß unser wesentlich umfassenderer Weltbegriff vollendete Totalität

beanspruchen könnte, noch daß irgendein Weltbegriff, den das Denken des menschlichen Geistes künftig erobern wird, jemals vollendete Totalität wird beanspruchen können.

Der rührende Aberglaube der Evolutionstheorie, kulturelle Konstanten und Varianten wären nichts als eine Fortsetzung der natürlichen Konstanten und Varianten – nur mit anderen natürlichen Mitteln – simplifiziert das Problem Weltbegriff auf unerlaubte Weise. Ist alles Natur, ist Natur alles – das Ende des römischen Imperiums nicht nur ein Analogat, sondern eine reale Variante des konstanten Kampfes ums Dasein natürlicher Lebewesen. Die Gehirne natürlicher und die Gehirne geistiger Wesen unterschiede nur ein Schein von Unterschied. Diesen habe die Evolutionslehre zu durchschauen und als totalen Weltbegriff zu verkünden. (Die Dinosaurier haben vergessen, ihr Testament ihren Nachkommen zu hinterlassen.)

 

IX.

 

Hat jede kulturelle Konstante ihre Geschichte, wären dieselben auch als totale Ideen denkbar, wenn sie zugleich Prinzipien der Ausführung ihrer Geschichte enthielten. Daß dies unmöglich ist, wurde gezeigt. Was folgt daraus?

Musizieren beispielsweise ist gewiß eine kulturelle Konstante der Menschheit. (Im Unterschied zu natürlichen Konstanten genehmigen kulturelle großzügig Ausnahmen: die Anzahl nicht-musizierender Menschen wird zu jeder Zeit der Menschheitsgeschichte beträchtlich gewesen sein, aber dies ändert nichts an der „Konstante“ Musizieren. Eine nichtfressende Tier-Spezies hingegen wurde noch nicht gesichtet. Kulturelle Konstanten sind repräsentative, natürliche Konstanten sind überlebensnotwendige.)

Und der Konstante Musizieren können wir schwerlich vermeiden, die Differenz von Singen und mit Instrumenten Spielen als konstante Differenz gutzuschreiben. (Obwohl es denkbar ist, daß die frühe Menschheit das Schlagen auf Bäume und Steine oder auch in die Hände lange Zeit nicht als Musizieren wahrgenommen hat.) Statt einer haben wir zwei Konstanten in Händen. Wie gezeigt: Kaum nennen wir eine Konstante, also deren Namen, zerfällt sie in Subkonstanten.

Von einer Idee jedoch wird mehr gefordert als nur konstantes Üben und Ausführen. Die Idee von Musik und Kunst ist ohne Inhalte und deren spezielle Normen und Ideale nichts als ein konstanter Name, der füglich

frei und beliebig in die Geschichte aller Musiken und Künste rückprojizierbar ist – kein Ruhmesblatt unseres Erkennens von Kunst und Kunstgeschichte.

Die Konstante Musizieren läßt sich spielend in unzählige Subkonstanten teilen: Frauen-, Männer- und Kindergesang; Blas-, Zupf- und Schlaginstrumentenspiel usf. Aber schon die Differenz von religiös-magischem und Arbeitsgesang, von Kriegsgesang und –tanz, von Begräbnis- und Hochzeitsmusik usf. läßt sich nicht aus den genannten Konstanten und Subkonstanten ableiten.

Diese enthalten die formalen Möglichkeitsbedingungen jenes konkreten Musizierens, das konkreter Art- und Normprinzipien wie gelebter Ideale bedarf. Und wären die Normen und Ideale der religiös-magischen Musik nicht höher als jene der archaischen Arbeitsmusik, wäre schon die Einsicht in diese Inhalts-Differenz unmöglich. Daher ist auch heute noch gültig, daß die Tautologie, jede Musik sei in ihrer Art so gut wie jede andere in ihrer Art, eine Tautologie ist.

Die Fraglichkeit von Name und Begriff „Konstante“ hat sich gezeigt. Kaum läßt sich der Verdacht unterdrücken, daß der Respekt vor diesem Terminus wie auch der Gebrauch desselben auf ein instabiles und inkonstantes Denken verweist. Auf ein Denken, das sich noch nicht im Denken orientiert hat. Weiters hat sich gezeigt, daß Name und Begriff von „Konstante“ in den Welten von Naturidee und Kulturidee nicht dasselbe bedeuten können. Und drittens hat sich gezeigt, daß die Dialektik der Konstante(n) noch nicht die Dialektik der Idee(n) ist.

 

X.

 

Die religiösen Konstanten und die Konstanten des Denkens scheinen unterwegs auf der Strecke geblieben zu sein. Vielleicht weil sie eine Hermeneutik des Verstehens und ein Verstehen der Hermeneutik alles Verstehens verlangen? Heilige Schriften sind Konstanten, solange sie zwischen zwei Buchdeckeln im Regal oder sonstwo verharren. Auch Homers Illias behauptet ihre Identität mit sich, wenn sie zwischen zwei Buchdeckeln im Regal steht, obwohl in dieser Beschreibung ihrer Identität nicht einmal der Ansatz einer Begegnung mit auch nur einem Vers der Heiligen Dichtung des antiken Geistes geschieht.

Ein religiöses Gebot ist eine Konstante, und jeder Religionsgründer ist für die Angehörigen seiner Religion eine Konstante. Dennoch gilt: je näher der verstehende Blick, das deutende Wort, die verkündende Rede an den Kern des Konstanten herangeht, umso unerbittlicher wird die Identität der Konstante verlassen und aufgehoben. Vorher scheint die Konstantheit der

Konstante durch keine Berührung verletzbar; nachher scheint die Annahme einer eindeutigen und unberührbaren Identität der Konstante ein Kinderglaube gewesen zu sein.

Der Geist kann versuchen, sich jedes deutenden Verstehens zu enthalten, und die reine Identität des Konstanten zu wiederholen: in diesem Fall versteht er dennoch, aber zunächst ohne Gedanken. Die Andacht denkt nur an, nicht durch und nicht hinein, und ewig besteht der Zwist zwischen dieser Art von Erkennen und der anderen, etwa der theologischen, durch deutendes Verstehen in das Innere des Konstanten einzudringen.

Unser Geist will demnach entweder einfaches Anschauen oder vielfältiges Denken sein, und falls dieser entzweite Wille durch ein Müssen erzwungen wäre, wäre dieser Notwendigkeit nicht mehr einfach, sondern durch notwendige Begründung auf den Grund zu gehen.

Die Konstanten Anschauung und Denken wurden daher schon früh in der Wissenschaft des Denkens (Philosophie) nach ihrem Grund befragt. Ob es ein für beide gemeinsamer sein könnte, oder ob beide ihre je eigenen und nicht aufeinander reduzierbaren Gründe haben könnten. Gründe aber, die keine Konstanten wären, sind im und für das Denken nicht denkbare Gründe.

Daraus resultierte gleichfalls schon früh die Frage nach der Einheit, nach dem Ganzen, nach einem möglichen System der konstanten Gründe, wovon bereits Platons Philosophie ein erster Versuch war.

Wie aber in der Religion deren Konstanten, auch wenn sie erst spät in der Geschichte der Menschheit erschienen, ihren Anfang in die Ewigkeit rückverlegten, so auch in der Geschichte des Denkens. Vernunft als konstante Ewigkeit des Denkens, aber erst spät als solche denkbar geworden: das Dilemma von Konstante und Variante, von Ewigkeit und Geschichte, stets wieder kehrt es zurück, als konstantes Dilemma, als Dilemma-Konstante.

Die Realisierung dieses Dilemmas lautet bekanntlich: noch jede, noch die konstanteste Religion mußte Veränderungen hinnehmen, auch Teilungen, auch Schismen; und noch jedes philosophische Vernunftsystem war nicht das endgültige, sondern immer nur ein vorläufiges. Das Dilemma ist mehr als eines, es ist seine vorauslaufende Lösung zugleich – nur daß wir eben nur Läufer und Mitläufer, nicht aber Priester oder Weise – weder des Ziels noch des Starts – sein können.

(Oktober 2013)