Categories Menu

9 Bücherbelästigung

A.
Das Schreiben von Büchern sei im Zeitalter ihrer Massenproduktion zu einer
unerträglichen Belästigung des demokratischen Bürgers geworden; und ein
Philosoph unserer Tage fordert daher die allerleichteste Lesbarkeit aller neuen
Schriften als Sühne für das Verbrechen der neuen (demokratischen)
Majestätsbeleidigung.

Dieser kaum noch übertreibende Kalauer, schon der späten vorindustriellen Epoche
in gemäßigter Form bekannt, verkündet eine neue und kräftigere Variante des betagt
gewordenen „Unbehagens an der Kultur.“ Erreicht der Ausstoß an Geschriebenem
und Gedrucktem eine Quantität, die schon als pure Anzahl der wöchentlich
erscheinenden Bücher und Schriften jeden demokratischen Bürger nur mehr dazu
bewegt, seinen Kopf zu schütteln (um sogleich vor seinen Fernseher zurückzukehren),
dann kann dieser kaum noch stimuliert werden, dem Unübersehbaren nochmals eine
Prise Unbehaglichkeit zu entnehmen.

Und dennoch scheint das Gegenteil zu geschehen, wie der abnorme oder auch ganz
normale und immer noch steigende Bücher-Ausstoß beweist, und dies führt zu
mindestens zwei Gefühls-Antinomien im Bewußtsein des demokratischen Bürgers von
heute: „So viele Bücher und höchstwahrscheinlich einige gute darunter; aber ich habe
keine Chance, in diesem Leben auch nur ein repräsentatives Minimum davon zu
lesen.“ – Oder: „Was für ein Büchermeer, wer soll es durchschwimmen? Aber was
kümmert es mich, der ich noch weitere hinzuschreiben werde, der Marktantrieb in mir
ist unwiderstehlich.“

Mag das Schreiben für die Märkte der Unterhaltungsleser vielleicht achtzig Prozent
der Bücherproduktion ausmachen, die verbleibenden zwanzig Prozent umschreiben
das nicht weniger inflationär gewordene Schreiben von Berufs wegen, vom
Journalisten bis zum Professor, der für seinesgleichen fortwährend neue Bücher
schreiben muß, um seine Reputation als Forscher und Lehrer nicht zu verlieren. Aber
klagen nicht auch schon die Kollegen des hybrid spezialisierten Fächerkanons
darüber, daß es unmöglich geworden ist, die
„Literatur“ auch nur ihres Faches zu „bewältigen“?

Aber auch im Reich der Wissenschaften und ihrer bücher-geschäftlichen
Popularisierung verdankt sich die Explosion der Produktion nicht allein der
unaufhörlich gesteigerten Spezialisierung des Wissens und Fächerkanons. Sie
verdankt sich zugleich einer Explosion des demokratischen Bürgers als moderne
Massengröße: unvergleichlich mehr Menschen als in den vormodernen Epochen
beschäftigen sich als produzierende und konsumierende Kulturmenschen, und nicht
nur als bücherproduzierende.

Denkt man diese Entwicklung zu Ende, müßten sich in ferner oder naher Zukunft –
nach einem möglichen Umschlag der heutigen Kultur in ihr künftiges
Gegenteil – geradezu alle Menschen kulturproduzierend beschäftigen, um ein
Angebot an Kulturgütern hervorzubringen, das schlußendlich wirklich für alle etwas
bietet. Genauer: für jeden ein bestimmtes Etwas, für jeden Konsumenten sein „ganz
persönliche Produkt“. Mit der radikalen Konsequenz im Reich der Bücherwelten: jeder
schreibe für sich als Leser, denn für ihn als Leser könnte es in einer radikal
veränderten Kultur keinen interessanteren Autor, für ihn als Autor keinen
interessanteren und wichtigeren Leser geben als ganz allein ihn selbst.

Stand am Anfang aller Kultureliten der auserwählte Schamane, stünde am Ende der
autistische Kulturschaffende als sein eigener und einziger Produzent und Konsument.
Sind dann alle „Elite“, oder ist keine mehr? Schaffen und konsumieren alle in totaler
Diaspora, dann ist diese die neue Heimat aller geworden, und indem überall und
jederzeit Diaspora ist, ist weder Diaspora noch deren Gegenteil, – es wäre eine andere
Welt geworden, die wir heute nur erst vorahnen können. – Wieviel mußten die
jagenden Stämme der Steinzeit voneinander wissen und zu gefürchteter
Anerkennung bringen, um ebenso fern wie nah voneinander überleben zu können?

B.
Eine lohnende Aufgabe für ein neues Fach (und eine neue Produktion von Schriften)
wäre die Spezialisierung der Kulturgeschichte auf „Kulturstatistik“: in welchen
Steigerungsmaßen expandierte die Population der Kulturschaffenden und
Kulturkonsumenten in Europa und überall auf unserem Globus etwa seit Beginn der
Neuzeit? In den Künsten, in den Wissenschaften, in der Philosophie, in der Religion, in
den Schulen, in der Belletristik und Journalistik? Welche ansteigenden Kurven vom 16.
über das 17., vom 18. über das 19., vom 20. in das 21. Jahrhundert würden wir
staunend erblicken?

Steigerungskurven sowohl des Personals wie der Institutionen, der Fächer und
Methoden, der Produkte und ihrer Verzehrung, der Märkte und Szenen, der musealen
Bewahrungen und Erforschungen. Oder ist dies ein allzu naives Modell, eine naive
Erwartung und Bewertung, die unterstellt, daß stets zu dem Alten das Neue
hinzugekommen wäre, – keine Art der Produktion versiegte, keine der Konsumtion
wäre obsolet geworden?

Mag ein Vielfaches aller Konzertbesucher des 19. Jahrhunderts immer noch die
Konzertsäle und Opernhäuser von heute besuchen: Woher die ständigen und nicht
unberechtigten Klagen über den Schwund und ein mögliches Aussterben dieser
bürgerlichen Spezies von Kulturmensch? Will dieser nicht mehr genießender
Genußspecht eines explodierenden Angebots werden, in dessen unübersehbarer
Fülle ihn nur noch selbsternannte Experten des Kulturbetriebs leiten und retten?

Mit diesem Endzustand von Kultur ist offensichtlich auch die Kategorie des
Banausen fraglich geworden, der einer vormaligen Kultur angehörte, in der man sich
noch nicht alles erlauben konnte. Die Hierarchie von Kennern und Laien hielt noch
stand. Dagegen fordert die Differenzierung und Hyperproduktion spezialisierter
Kulturen hochspezialisierte Experten als hochspezialisierte Konsumenten.

Der Banause von heute scheitert bereits an der Bedienungsanleitung seiner
Haushaltsgeräte und von einem Computer, mit dem er fahren könnte, wie mit seinem
Auto, durfte er noch vor Kurzem träumen, denn auch dieser Traum ist ausgeträumt.
Also nicht mehr schreiben? Nicht mehr unsere Mitsouveräne belästigen? Zufrieden
verharren vor den Film- und Hörapparaten, vor den Zerstreuung schaffenden Medien
nicht zufälligen Namens? Umsomehr, als mit dem Verschwinden einer
überschaubaren Produktion auch deren Eliten und ebenso die Verpflichtungen eines
anerkannten Bildungskanons verschwunden sind? Früher mußte man ein bestimmtes
Repertoire an Büchern, Sinfonien, Bildern, sogar Philosophien und Theologien
wenigstens kennen, und war es nur, um im Salon darüber parlieren zu können.

Simmels prophezeiter Triumph der objektiven über die subjektive Kultur ist
glänzender und somit verheerender eingetreten, – in Ausmaßen und Formen, von
denen der Philosoph (vor dem Ersten Weltkrieg) nicht einmal (schlecht) träumen
konnte. Auch ein Nobelpreisträger im eigenen Lande verführt und verpflichtet uns
heute nicht mehr, seine Bücher zu konsumieren. Denn wir lesen (wenn überhaupt
noch), was uns frommt oder wovon wir zu glauben wissen, dass es uns fromme.

Und daß uns Einäugige Bestsellerlisten vorführen, deren Skalen objektiven Kriterien
folgten, kann den Tiefäugigen selten überzeugen; zu oft erlebte er hinfälliges Lob
und Beurteilung, zu oft Enttäuschungen seiner Erwartungen und Wünsche, seiner
Ideale und Normen auf den Pfaden des journalistischen Vademecums durch die
Bücherwelten von heute. Schmerzlich mußten wir zur Kenntnis nehmen, daß auch in
den Komitees der Nobelpreise nur Menschen wie du und ich sitzen, und noch dazu
Leute von heute, deren aktuelle Geschmäcker und Vorurteile nur des Zeitgeistes
Kleider tragen, abhängig von öffentlichen Meinungen oder solchen, die zu solchen
gemacht werden sollen.

Nun scheint Abhilfe gekommen für unsere bücherbelästigte Fahrt zwischen Scylla und
Charybdis: das Internet ermöglicht uns als Produzenten und Konsumenten zugleich,
die neuen Menschen gleiten scheinbar ganz ohne Belästigung durch ihr Leben oder
sind eins geworden mit den Insekten, die sie ununterbrochen umschwirren und
verschlucken.

Neue Verkehrsformen für neue Kulturgüter für neue Konsumationsformen von neuen
Kulturmenschen: Riecht nach Kulturrevolution, obwohl uns die neuen Kriterien noch
fehlen, mit denen wir die sich überschlagenden Innovationen bändigen könnten.

Lichtenberg (vor 1799): „Was mich allein angeht, denke ich nur, was meine guten
Freunde angeht; sage ich ihnen, was nur ein kleines Publikum bekümmern kann;
schreibe ich, und was die Welt wissen soll, wird (es) gedruckt. Von einem Gedanken,
der mich angeht, brauche ich nur ein Exemplar, ebenso für den Freund und für das
kleine Publikum ebensoviel, jedes auf eine Art gedruckt, wie es sich für sie am besten
schickt und am bequemsten ist; die Welt muß mehrere Exemplare haben, so lassen
wir drucken. Wäre es möglich, auf irgendeine andere Art mit ihr zu sprechen, daß das
Zurücknehmen noch mehr stattfände, so wäre es gewiß dem Druck vorzuziehen.“