6 Buridans neuer Esel. Freiheit und Quantenmechanik
A.
Die beliebte These, die Freiheit des Menschen verdanke sich der Unbestimmtheit
quantenmechanischer Felder und Prozesse, wird im Bewußtsein des modernen
Menschen durch die Gegenthese abgekühlt, Netze und Prozesse des Gehirns
determinierten samt und sonders unseren Willen und unser Denken und machten die
Annahme einer „Freiheit des Menschen“ zu einer unhaltbaren Hypothese.
Diese einander konterkarierenden Gestalten des wissenschaftlichen Aberglaubens
sind weniger witzig als die altbekannte pseudophilosophische Lehre, die seinerzeit
bewiesen zu haben glaubte, Buridans Eselmensch könne sich zwischen zwei absolut
gleichen Quanten von Heuhaufen absolut nicht zum Fressen entscheiden, weil sein
Verstand, zwischen zwei angeblich absolut gleiche Motive gestellt, ein Veto gegen
seinen Willen und dessen Leib einlege: verhungere!
Von wissenschaftlichem Aberglauben unbefangen, ist mühelos einsehbar, daß sowohl
dem Buridanschen Eselverhalten wie dem wissenschaftsgläubigen des Menschen von
heute, der die Freiheit des Menschen entweder durch quantenmechanische
Unbestimmtheit „erklärt“ oder durch restlose Gehirndeterminiertheit wegerklärt, das
experimentelle Konstruieren eines freien Denkens zugrundeliegt, das seine Freiheit
mit Hilfe wissenschaftlicher Spielwerkzeuge gleichsam überdreht hat. Solange und so
tief spielte unser Kind die Spiele seiner experimentellen Wissenschaftswelt, bis es die
Welt seiner Spiele mit der Welt seiner Wirklichkeit zu verwechseln begann.
Da wir nun weder Esel unseres Gehirns noch Nicht-Esel quantenmechanischer
Prozesse der Materie sind, ist auch das Konstrukt des Buridanschen Esels nur das,
was es war und ist: die Probe eines freien Gedankenexperiments, dessen Folter wir
entweder bestehen oder nicht, durchschauen oder nicht, „glauben“ oder nicht.
Daß der Naturalismus der modernen Wissenschaften zu zwei einander
widersprechenden Thesen über die Freiheit des Menschen führt, die zugleich als
illusorische durchschaubar sind, ist weniger witzig als das „philosophische“
Gedankenexperiment Buridans, weil die modernen Eseleien die Macht und Reichweite
eines populären Massenaberglaubens gewonnen haben.
Die naturalistischen Thesen sind illusorisch, weil sie einer Kategorien- und
Wirklichkeitsverwechslung geschuldet sind, die Geist immer schon auf Natur und
Form immer schon auf Materie qua formloses Chaos reduziert hat, ohne die Schuld
dieser Reduktion sich eingestehen zu können. Ein wirklich irrendes Bewußtsein ist
stets mit dem Grund seines Irrens identisch; es weiß nicht, daß es irrt; und dennoch irrt es: ein hartes Schicksal.
Daß wir frei wollen und handeln können, verdankt sich nicht der
quantenmechanischen Unbestimmtheit subatomarer Wirkungsfelder organischer und
anorganischer Materie, sondern jener notwendigen und geistimmanenten
Unbestimmtheit, ohne die ein freier Wille und Intellekt weder möglich noch wirklich
wäre. Ohne das Moment von Unbestimmtheit wäre das Gegenmoment von
Bestimmung und Selbstbestimmung unmöglich.
Daher ist auch die Vorstellungsmöglichkeit, zwei vermeintlich unentscheidbare
Wahlmöglichkeiten wirklich vorstellen zu können, eine Setzung unserer – kindhaften –
Schuldigkeit. Und das lächelnde Flair dieser mit sich spielenden Schuldigkeit
verschwindet sofort, wenn wir beispielsweise des Schicksals der Antigone eingedenk
werden oder mit ähnlichen Fällen einer wirklichen „Unentscheidbarkeit“ zu tun
bekommen.
Solange die wissenschaftlichen Welten und Spielgedanken daher nicht politisch
werden, darf in ihnen alles versucht, alles gedacht, alles geglaubt werden.
Überschreiten sie aber den Rubikon des Politischen, kehren sie heim in die
Wirklichkeit unseres Lebens und müssen sich den richtigen Kategorien am richtigen
Ort zu gewissenhaftem Verhör stellen.
Weil nur der wissenschaftliche Proband alternative Konstellationen denkt, die in der
wirklichen Welt gar nicht existieren – als wäre ihm der Auftrag erteilt, die
Phantasiearbeit der vormodernen Kunst fortzuführen – ist ihm unbewußt bewußt, daß
er alle Setzungen seines Vorstellens jederzeit abbrechen, jederzeit endlos erweitern,
jederzeit in ein Feld unbegrenzter Möglichkeiten überführen kann.
Dieses Können auf ein Nichtkönnen durch Gehirndetermination zurückzuführen, ist
nichts als ein Vorstellungsabbruch, eine Phantasielähmung durch
Phantasieobsession, gegen die kein Kraut gewachsen ist, wenn sie zur Erkrankung
einer wissenschaftlichen Clique geführt hat. Man muß aus Freiheit daran glauben,
nicht frei wollen und nicht frei denken zu können.
An dieser Stelle bringt die Clique der Gehirnforscher bekanntlich die Artillerie der
Krankheiten in Stellung. In der Tat: noch während unser Proband seine
experimentellen Setzungen erprobt, kann es ihm geschehen, bemerken zu müssen,
daß sein Kopf im Rachen eines Krokodils steckt; daß das Haus seines Labors infolge
eines vernichtenden Erdbebens über ihm zusammenstürzt; daß sein Gehirntumor
unerträgliche Schmerzen verursacht.
Nicht nur die Natur kann unserer Freiheit widrig sein; auch in einem
Konzentrationslager und dessen Vernichtungsmaschinerie vergeht uns alle Lust und
jeder Wille aufs Erproben wissenschaftlicher Gedankenspiele. Eine Gedankenfreiheit,
die nur mit ihrer experimentellen Freiheit spielt, ist nur eine solche. Besser, wir sinnen
auf Ausbruch und Vernichtung der Vernichtenden.
Die natürliche Bedingtheit unserer unbedingten Freiheit, die äußere und innere
Begrenztheit ihrer unbegrenzten Möglichkeiten, wiederholt nur den Witz der Sache
Freiheit: sie ist inmitten einer Welt der determiniertesten Unfreiheit möglich und
ebendeshalb auch notwendig. Daß Unfreies ist, kann nur durch Freies erkannt
werden.
B.
Inmitten einer Welt in Unfreiheit – Zufälligkeit und Notwendigkeit von Natur und
Geschichte – ist eine Welt aus Freiheit nichtzufälligerweise notwendig und wirklich: nur
unter dieser scheinbar der Freiheit widersprechenden Bedingung macht Freiheit Sinn,
– einen, für den es zu leben und zu kämpfen lohnt. Und diese haben wir unserem
Willen und Leib längst inkarniert, wenn wir uns tagtäglich eines aufrechten Ganges
befleißigen.
Folglich verdanken wir der sogenannten Natur, sofern sie uns guten Sinnes gesonnen
ist, lediglich die ersten Bedingungen unseres Existierens, nicht das Herkommen
unserer Freiheit. In einem todkranken Körper, im Körper des Sterbenden, erlischt
nach und nach auch aller Wille, alle Freiheit, aller Geist. Dennoch ist die Freiheit nicht
das Epiphänomen eines gesunden Körpers. Diese ließe sich durch sportliche
Ertüchtigung antrainieren.
Und die quantenmechanische Unbestimmtheit, die irrtümlicherweise stets wieder als
Grund von Freiheit, als Ermöglichung von Bestimmung und Selbstbestimmung
unseres Willens angeführt wird, ist nicht die Unbestimmtheit, deren wir bedürfen und
über die wir verfügen, wenn wir uns als selbstbestimmende Wesen bewußt betätigen
und erfahren.
Die Verwechslung von natürlicher Zufälligkeit und mentalitätsgeborener Willkür, die
Reduktion dieser auf jene, verkennt, daß jede Materie in unaufhebbarer Kontingenz
existieren muß, obwohl die Formbestimmungen wirklicher Materie schlechthin
nichtkontingent existieren. Dies resultiert aus dem Begriff der Materie, der sich nur
realisieren kann, indem er in eine kontingente vor Ort und in der Zeit eingeht, sodaß
im atomaren und subatomaren Bereich jene Unbestimmbarkeit zu beobachten ist, die
durch kein bestimmtes, kein noch so genau messendes Beobachten
wegzubeobachten ist. Unser Beobachten wäre durchaus ins Unendliche zu
vergenauern, aber die Wirklichkeit der Materie legt keinen Wert darauf.
Ist Materie Bestimmbarkeit durch Form, muß noch in der „absolutesten“ Bestimmung:
– ein Krokodil ist kein Erdbeben, ein Haus ist keine Galaxie -, mehr als ein „Rest“ von
Nichtbestimmtheit zurückbleiben, weil widrigenfalls die Form einer ruhenden und zu
Ende bestimmten Materie einwohnen müßte. Die Materie wäre Attrappe der Form als Marionette.
Aus diesem Begriff folgt, daß keine zwei Atome, die je existiert haben und je existiert
haben werden, vollständig und „absolut“ identisch gewesen sein werden. Und dennoch werden alle Atome nichts als Atome gewesen sein. Die
Absolutheit der Form läßt sich die Kontingenz ihres unbestimmten Existierens wie
spielend gefallen.
Weil zwischen dem Nano-Ort jetzt und dem Nano-Ort dann, zwischen dem Nanojetzt
hier und dem Nanojetzt dort, eine sich fortwährend verändernde – entstehende und
verschwindende – Prozessualität des Bestimmtwerdens von Materie, die sich nicht der
Unbestimmtheit eines schwachen Beobachterauges verdankt, sondern an und für
sich im Begriff der sich real realisierenden Materie vorgesehen ist, bemerken wir
diese auch, wenn wir nur tief genug in das Beobachten der totalen Wirklichkeit
eingedrungen sind. Nichts Bestimmtes scheint festzustehen, aber innerhalb der
Wände dieses Scheins gefangen, haben wir die Übersicht über die Differenz von
Bestimmtheit und Unbestimmtheit verloren.
Das empirisch beobachtende Bewußtsein, durch neuzeitliche Wissenschaft gewohnt
und gedrungen, alles Beobachtbare unter Maße und Gesetze bringen zu können und
zu sollen, wird des tätigen Begriffes an der Materie selbst ansichtig, und darüber
erschrickt es entweder: alle Gesetze dieser Welt scheinen nichtig geworden und ins
Chaos zu verschwinden; oder es mystifiziert sein begriffloses Erschrecken über sein
haltlos gewordenes Messen und Beobachten: wir hätten dem Quellort der Freiheit ins
Angesicht geschaut.
Aber die Unmöglichkeit, das wirklich Kontingente nichtkontingent messen und
beobachten zu können, folgt weder aus einer Unvollkommenheit noch aus einer
freiheiterschaffenden Vollkommenheit des Theorieauges unserer modernen Physik.
Gegen das wirklich Kontingente ist noch die kaprizierteste Relativität ein vergebliches
Spielwerkzeug.
Der abstrakte Bildstatus von Realität, der aus der angeblichen Relativität und
Unbestimmtheit unseres Beobachtens für das Weltbewußtsein des modernen
Physikers folgt, hat mit der Frage nach der Herkunft und dem Wesen der
menschlichen Freiheit weniger als nichts zu tun. Daß wir Unbestimmbares nicht
bestimmt beobachten können, folgt aus der Negativität der Materie selbst; diese ist
zwar nicht ohne – göttliche – Freiheit in dieser Welt möglich, aber als bloß natürliche
Materialität ist sie der Quellort weder der göttlichen noch der menschlichen Freiheit.
‚Etwas ist unbestimmt’ kann bedeuten: es ist durch seinen Begriff zwar bestimmt,
aber in dieser Bestimmtheit kommen ihm, schon um die Bestimmbarkeit seiner
Bestimmtheiten zu ermöglichen, Unbestimmtheiten notwendigerweise zu –
permanent und allerorts. Die bestimmende Instanz, die Form eines Wesens, könnte
auf die zu bestimmende Materie desselben Wesens gar nicht bestimmend einwirken,
wäre die Materie an ihr selbst nicht als unbestimmtes und erst noch zu bestimmendes
Wesens gedacht.
Aber „gedacht“ bedeutet nun nicht: von uns gedacht, vom „Beobachter“ gedacht,
sondern an und für sich gedacht: vom absoluten Wesensbegriff der Materie selbst gedacht. Jedes empirisch-materielle Ding dieses Universums ist ein Beispiel für die absolute Verschlingung absoluter Kontingenz und Nichtkontingenz. Noch die Entwerdung aller Bestimmung, das Formloswerden aller empirisch erscheinenden Formen, wird vom absoluten Prozeß gesetzt: alle Dinge müssen
wieder in ihr Wesen verschwindend verschwinden.
Nehmen wir diesen Kreis auf unserem Blatt Papier, er existiert empirisch, einzeln,
beobachtbar, machbar; er ist durch und durch bestimmt; kein Yota fehlt ihm, keine
Unbestimmtheit macht ihm zu schaffen. Er ist weder Krokodil noch Gehirn, weder
Erdbeben noch Galaxie. Er ist Kreis und erscheint wie für eine Ewigkeit erschaffen.
Schon eine simple nanovirtuose Beobachtung könnte jedoch beobachten, daß er
permanent sowohl an seiner Selbsterhaltung wie an seinem papierenen
Verschwinden arbeitet. In seiner absoluten Identität ist er mit sich nichtidentisch,
denn die Materie, in die er sich schaffend verirrt hat, macht ihm zu schaffen.
Also wird er verschwinden und ist dies schon jetzt, sein verschwindendes Sein, dessen
absolutes durch uns im Nu erschaut worden ist. Dies wissen wir, nicht durch
Beobachtung, sondern allein durch den denkbaren Begriff der Materie; diesen
müssen wir daher beobachten, und keine Kontingenz und Unbestimmtheit wird unser
freies Denken nochmals ereilen.