76 Alte und neue Alma Mater
„Diskursethik“
Die Transformation der Philosophie, von deutschen Philosophen nach dem Zweiten Weltkrieg vorgenommen, ist mittlerweile in die Jahre gekommen. Sie wurde als transzendentalpragmatische oder als intersubjektivitätstheoretische und konsensuelle Transformation vorangetrieben, nachdem sich andere philosophische Neuansätze, etwa durch Wittgenstein, Heidegger und Sartre, als hinfällig erwiesen hatten.
Wenn es das Ziel dieser Transformation war, eine neue Philosophie zu gewinnen, die wiederum in der Mitte der Wissenschaften als deren Vernunftquelle gelten und wirken könnte, dann wurde dieses Ziel verfehlt, wie bereits die genannte Kette an kaum verständlichen Spezialnamen aus den vielfältigen Milieus des modernen Philosophierens beweist.
Da aber dieses Ziel keineswegs angestrebt wurde, weil die Gewinnung einer neuen Philosophie, die den Kosmos der modernen Wissenschaften abermals „dirigieren“ könnte, als unmögliches Ziel, als unmögliche Philosophie auch von den modernen Philosophien selbst verabschiedet wurde, mußte den philosophierenden Transformatoren der deutschen Philosophie ein anderes Ziel vorgeschwebt haben.
„Diskursethik“ lautete der vereinfachte und vielleicht popularisierungsfähige Name der neuen Philosophie. Und da diese nach einer „idealen Kommunikationsgemeinschaft“ suchte oder sogar vorgab, die „argumentativen“ Prinzipien einer idealen Diskurse-Gemeinschaft gefunden zu haben, schien das Angebot verlockend zu sein. Wenn schon keine Vernunftmitte in der Welt der Wissenschaften nochmals möglich, warum nicht wenigstens eine Moderatorenmitte mit Philosophen besetzen?
Eine Universität mit erstmals völlig autonomisierten Wissenschaften verlangte doch nach einem Gesprächszentrum aller ihrer Wissenschaften, teils für den Universitätsbetrieb selbst, teils für die ganze moderne Gesellschaft, in der kaum noch ein Bereich sich finden läßt, in dem nicht eine oder mehrere Wissenschaften an vorderster Front beteiligt sind.
Ein Diskursangebot wofür?
Anfangs blieb allerdings unklar, ob das Angebot der neuen deutschen Philosophie, die nicht verschmähte, kräftige Anleihen bei der sprachanalytischen Philosophie des angelsächsischen Raumes zu nehmen, in erster Linie an die Philosophen der (sehr)verschiedenen Philosophien oder zugleich schon oder erst später an alle Wissenschaften ergehen sollte: als Angebot eines „Round Table“ – Managers für alle universitären Wissenschaften.
Man darf nicht vergessen: Damals gab es noch keine Dauerkaskaden telegener Talk-Shows, in denen ein paar ausgewählte Promis verschiedenster Zweige der modernen Gesellschaft und Kultur einen leicht fasslichen Repräsentativ-Diskurs vorführen, – meist an der Hand einer professionellen TV-Tante, die über ein perfektes Repertoire an An- und Absagen verfügt. Und von einer vernetzten Computerkultur mit Smartphones und Internet war noch keine Spur am medialen Horizont zu erkennen.
Deutlich erkennbar war jedoch, daß die Trennung von Philosophie und Einzelwissenschaften „flächendeckend“ und irreversibel vollzogen war. Die „totale“ Spezialisierung der Wissenschaften benötigte keinen philosophischen Beistand mehr, und die Philosophen wurden als „Spezialisten für das Allgemeine“ ausgelagert.
Noch wurden sie nicht gemeinsam mit den Theologen von der Universität vertrieben, wie sie oft selbst mutmaßten oder sogar erhofften, – aber das Versandpaket lag bereit und wurde geschnürt.
Die Wissenschaften-Kinder der ehrwürdigen Alma Mater waren flügge und danach erwachsen geworden: Kaum ein Jahrhundert war verflossen, und heute könnte fast jede der unüberschaubar vielen Wissenschaften beantragen, selbst an einer eigenen Universität in der Mitte ihrer Spezial- und Hilfswissenschaften wirken zu dürfen. Ein Befund, der für alle Natur- und Geistes-bzw. Kulturwissenschaften zutrifft. Und auch die Philosophie hätte wohl kein Problem, eine eigene Alma Mater Philosophia auf die Beine zu stellen, – zwei externe Bedingungen vorausgesetzt: genügend Interesse und genügend Geld.
Das einsame, das absolute, das intersubjektive Subjekt
In der Perspektive der neuen deutschen Philosophie war die alte Philosophie, die des 18. und 19, Jahrhunderts, entweder die Philosophie des „einsamen Subjekts“ (bei Kant) oder die eines „absoluten Subjekts“ (bei Hegel) gewesen, das sich angeblich mit Gott, dem Herrn aller Dinge, verwechselt hatte.
Nachdem die alte Philosophie die Führung und (vernunftgeleitete) Erziehung ihrer entlaufenen Küken suspendiert hatte, konnte vielleicht die neue Philosophie, gewisse Führungsaufgaben im selbstgenügsam vor sich werkelnden Betrieb der Alma Mater übernehmen.
In diesem glänzten die sich selbst überlassenen Wissenschaften in der Regel durch die „splendid isolation“ einer gegenseitigen Ignoranz, weil sie mit ihrem eigenen Forschungs- und Lehrbetrieb genug Arbeit auf dem Hals hatten.
Rafften sie sich manchmal zu interdisziplinären Annäherungsversuchen auf, um ihren ursprünglichen Auftrag, der Entwicklung der Gesellschaft zu dienen, nicht ganz zu vernachlässigen, konnten sie nach jeder notorisch erfolgreichen Tagung jene betriebsgehorsame Zufriedenheit heucheln, die jede Wissenschaft schmerzlich als höfliche Nötigung erkannte, aber keine auch nur anzusprechen wagte.
Vierteilung durch Diversität
Dieser (relativ sanfte) Konflikt zwischen einer „verstreuten“ Philosophie und einer Phalanx selbstbewusster Einzelwissenschaften trug sich lange vor den ideologischen Konflikten von heute zu, die seit der Jahrtausendwende von 2000 auch die Alma Mater radikal divers zu machen versuchen, um sie dadurch mehr als nur „vierzuteilen.“
Neue Sprachgebräuche und deren „geschlechtergerechte“ Verbote und Gebote, neue, frei wählbare Geschlechter des Menschen und unerschöpflich neue wissenschaftliche Minderheiten-Projekte, die den bunten Haufen neuer Mischfächer ohne Ende bereichern, haben zu einer „kreativen“ Ruine von Universität geführt, an der nochmals zu studieren und zu lehren, zu einer überaus „spannenden Herausforderung“ wurde – meinen die Zyniker unter den Beobachtern der unaufhaltsamen Entwicklung.
Diese wissen auch bereits, wer „den Rest besorgen“ wird: Ihre Majestät K.I. Denn eine kühn und unwidersprochen selbsternannte „Künstliche Intelligenz“ wird auch den bienenfleißig arbeitenden Ghostwritern (ein proletarisches Nebenprodukt der akademischen Selektionsprozesse in den Eingeweiden der alten Alma Mater), ein Ende bereiten: Kein Nachteil, wo nicht auch ein Vorteil auf seine Chance lauert. Denn was der (K.I.-gestützte) Ghostwriter kann, das sollte den Kandidaten und Autoren von Pro- und Seminararbeiten, von Dissertationen und Habilitationen verwehrt sein?
Dieser vorerst erreichte Entwicklungstand von „Universität“, die entweder ihre ultimative Selbstabwicklung begonnen oder ihre grenzenlose Erweiterung in Richtung einer neuen (babylonischen) Alma Mater eröffnet hat, läßt uns heute die Bemühungen der 1980er Jahre geradezu als Idylle erscheinen.
Damals sollten die zerstreuten Reste der ehrwürdigen Humboldt-Universität durch immer neue Umschachtelungen der Fakultäten und Fächer ein tragfähiges Weiterleben gewinnen. Ungefähr wie gewisse Ikonen des malenden Klassizismus im Kitschgewand des Wiener Jugendstils „revitalisiert“ wurden.
Die letzte aller Gründungswellen versenkt ihre 1000- jährige Insel
Heute jedoch geht es in der fast 1000-jährigen Geschichte der Universität (seit 1088) um Sein oder Nichts.
Für weitblickende Universitätshistoriker mußte sich schon in den 1980er Jahren die Frage gestellt haben, ob die Institution „Universität“ ihr „natürliches“ Ende nicht längst schon erreicht haben könnte.
Wie jede Institution wurde auch die einer „Universität“ gegründet, um neue Aufgaben und Dienste für eine neue Gesellschaft und soziale Organisation von Staat und Nation zu meistern. Wie die europäische Gründungswelle seit dem 13. Jahrhundert beweist: Bologna 1088, Oxford um 1096, Paris um 115o, Prag 1348, Krakau 1364, Wien 1365.
Diesen Gründungen gelang das epochale Meisterstück, das Wissensmonopol und vor allem auch das Lehrmonopol der Orden und Klöster der Kirche zu durchbrechen.
Nicht vollständig, weil noch am Beginn der Neuzeit der Machteinfluss von Klerus und Orden in den führenden Zirkeln der Universitäten beträchtlich war. Aber eine Rückkehr zum Ideal des Thomas von Aquin, wonach die Wissenschaften als Mägde der Theologie (und diese der allwissenden Kirche) dienen sollten, diese Illusion wurde sukzessive als (theologisches) Phantasma der Geschichte verabschiedet.
Als sich ab 1810 das Humboldt’sche Universitäts-Modell einer „Einheit von Forschung und Lehre“ in allen Wissenschaften durchzusetzen begann, glaubte man, ein Rezept gefunden zu haben, das sowohl den „Forschern“ an den Universitäten beste Bedingungen wie auch den Studenten beste wissenschaftliche Qualifikationen ermöglichen werde.
Das Modell, vom Historiker Theodor Mommsen (1817-1903) bereits als „Ochsentour“ erkannt und durchlitten, scheint mittlerweile auf seine Sterbensurkunde zu warten. Der Spagat zwischen Lehre und Forschung führt an den modernen Massenuniversitäten zu den bekannten Burnouts in Betrieb und System, und nicht zuletzt in den „akademischen“ Menschen selbst, die in einer hoffnungslos überblähten Alma Mater arbeiten und fruchtbringend wirken sollen.
Gleichwohl streben heute alle Wissenschaften, die etwas auf sich halten, – beispielsweise auch Pädagogik-, Agrar- und Forstwissenschaften nicht ausgeschlossen- , nach einer Integration in den Status von Universität. Auch viele Ingenieurstudiengänge wurden mittlerweile in das Angebot der Universitäten aufgenommen.
Und seit dem „Bologna-Wandel“ der EU (1999) streben auch die Künste und deren Künstler danach, den Status von Universität und von universitären Magistern und Mastern zu erlangen.
Und dies umsomehr, als sie in den Rang von Wissenschaften und Wissenschaftlern erhoben wurden, die mittels einer „Künstlerischen Erschließung“ zur Erkenntnis der zu erforschenden Dinge ebenso beitragen sollen (können), wozu bisher nur die außerkünstlerischen Wissenschaften befugt und fähig waren.
Warum soll ein heute lebender Komponist durch eine neue Oper oder Sinfonie zur Erkenntnis von Klimawandel samt bewiesenem Weltuntergang nicht ebenso sachkompetente Beiträge liefern können, wie die Phalanx der UNO-zertifizierten Klimaforscher?
Offensichtlich sind die Gründungsväter der neuen EU-Universität des 21. Jahrhunderts der Ansicht, es sei möglich, im 21. Jahrhundert entweder nochmals in das Leben der „septem artes liberales“ des Mittelalters (Grammatik, Rhetorik, Dialektik, dazu Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie samt Astrologie) zurückzukehren. – Oder in ein neues universales Mittelalter vorauszueilen, in dem die modernen Künste und Künstler gleichberechtigt an der Seite der Wissenschaften „forschen“, vielleicht als neue „freie Philosophen“?
Die genannten „Sieben Künste“ sollten im Mittelalter das damalige Kulturpflichtziel erfüllen: ausreichend gute und viele Theologen, Juristen und Mediziner auszubilden, ohne deren Wirken die mittelalterliche Gesellschaft und Kultur nicht existenzfähig gewesen wäre.
Dagegen beherbergt das heutige Kulturziel der unübersehbar vielen neuen „artes liberales“ der übernational installierten EU-Universität unübersehbar viele und verschiedenartige Berufe oder auch nur Jobs (prekäre und nicht-prekäre).
Notgedrungen hat die neue „Bologna-Universität“ zu einer „Verschulung“ der alten Alma Mater geführt, die mit der sprichwörtlich gewesenen Freiheit des akademischen Lebens an den gewesenen Universitäten „ratzeputz“ gemacht. Die Freiheit freier Geister wurde erfolgreich neutralisiert, um die Sprache des Krieges zu wählen. Wünscht die EU (das Vereinigte Europa von morgen, wenn es eines Tages aus dem Kokon seiner Noch-Verpuppung schlüpfen sollte) vollkommen gleichgeschaltete „Ausgebildete“?
Weil ein Arbeitsmarkt von 500 Millionen und mehr Menschen nur mittels „ECT-zertifizierten“ Absolventen zu versorgen ist? Für die EU-globale Austauschbarkeit der Studenten und ihrer Universitäten und Studienangebote (zwischen Oslo und Madrid, zwischen Irland und Rumänien) wurde jedenfalls ein hoher Preis bezahlt. Ob ein zu hoher, ein unbezahlbar hoher, wird die Nemesis der Zukunft zeigen.
Leo Dorner, Februar 2024