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39 Nochmals Baudelaire und die Seinen

I. Digitale Revolution

Auf die entmoralisierende Entwicklung in moderner Kunst und Kultur, die Essay
38 registrierte, reagiert die Gesellschaft der westlichen Demokratie mit
gelassener Gleichgültigkeit, weil sie offensichtlich meint, nichts, aber auch gar
nichts, was an der Front der befreiten Künste geschieht, könne die Grundlagen
der demokratischen Freiheit unterminieren. Was könnte freier und befreiender
sein, als das entfesselte Wirken vielfältiger Künste?

Dieses Dogma der Freiheit der kulturellen Moderne entstammt allerdings der
vordigitalen Epoche ihrer Entwicklung. Eine zeitlose „ästhetische Avantgarde“
sollte alle Dimensionen der modernen Gesellschaft durchdringen und eine
endgültig befreite Kultur herbeiführen. Der „Kreative“ und „Entgrenzer“ aller
Künste und sonstigen kulturellen „Kulturtechniken“ rückte in den Rang eines
Leittieres der Gesamtherde auf: „Jeder Mensch ist ein Künstler“, – die
Offenbarung einer neuen Kunstreligion war erschienen, fehlte nur noch die
Missionierung der Menschheit. Und noch heute zählt die Stimme des Künstlers,
genügend Promiglanz vorausgesetzt, sogar als (reserve)politische Autorität in
vielen Fragen von Gesellschaft und Kultur.

Mit Beginn der digitalen Epoche – spätestens seit den 90-er Jahren des 20.
Jahrhunderts – blicken wir nun auf die verschwindende vordigitale Epoche
zurück und staunen über den Furor und die Naivität der altgewordenen
Avantgarden. Denn die digitale Revolution hat keine bloß „ästhetische
Revolution“ im Sinn, sie durchwirkt tatsächlich alle Kultur- und Lebensbereiche
aller Menschen, auch von solchen, die mit Kunst und Künsten wenig am Hut
haben. Eine Epochenwende und Kulturrevolution, die primär und ursächlich der
technologischen Moderne angehört, wobei deren neuartige – digitale –
Kreativitäten auch auf die vordigitalen und sogar vormodernen Künste und
Kulturtechniken zurückwirken.

Daß ein anderer Äon angebrochen ist, wird auch daran ersichtlich, daß die
moderne Demokratie, bis in die globalen Ebenen internationaler Politik hinauf,
die Genese eines digitalen Kosmos nicht mehr mit „gelassener Gleichgültigkeit“
hinnehmen kann, – als handle es sich lediglich um eine weitere Facette der
„ästhetischen Moderne“ und ihrer Märkte. Weiters daran, daß alle postmodern-
modernen Diskurse um schöne oder nicht-mehr-schöne, um böse oder nicht-
mehr-böse Künste, ja sogar die Frage nach einer Befreiung von Gesellschaft und
Kultur durch Kunst und Künste etwas Vorgestriges und Atavistisches
angenommen haben.

Offensichtlich sind mit den neuen Freiheiten im digitalen Kosmos auch neue
und tiefgreifende Gefährdungen im neuen „Land der unbegrenzten
Möglichkeiten“ aufgebrochen, die ein gesamtgesellschaftliches, also politisches
Handeln erfordern. Schon demnächst werden alle Gesellschaftsteilnehmer, von
den Parteien oben bis zum kleinen Bürger unten, Künstler und Nichtkünstler
einbegriffen, unaufschiebbar wissen, daß der Fortschritt, den die digitalen
Medien bringen, die Fortschritte der „ästhetischen Moderne“ ins zweite und
dritte Glied zurückschieben wird. Die veloziferische Kommunikation der neuen
digitalen Medien greift direkt und umwälzend in das Leben der Gemeinschaften
und jedes Einzelnen ein.

Waren und sind die vormodernen und modernen Künste noch spezifiziert an
bestimmte Medien gebunden, wurde man entweder Musiker oder Komponist,
Maler oder Architekt, Schauspieler oder Literat, oder auch Fotograf und
Filmemacher, wird man nun ein medialer Alleskönner und Alleswissender. Wie
hoch der Preis für diese neue Freiheit ist, diese drängende Frage führt zur
Stunde in hoch erregte und tief spaltende Diskussionen. Und zwar in allen drei
Welten, nicht nur in der führenden Ersten Welt, weshalb diese ihr Patent auf den
digitalen Fortschritt der Welt beizeiten verlieren könnte. Obwohl vorerst die
Zweite und Dritte Welt (noch) keine Alternativen entwickeln und sogar Europa
hinter den USA und deren digitaler Führungsmacht erbarmungswürdig
hinterher hinkt.

Die große Überraschung, daß am Ziel und Ende der ästhetischen Moderne und
ihrer Kultur der völlig befreiten Künste nicht eine Generation Picasso, nicht eine
Generation Schönberg oder Corbusier, auch nicht eine Generation Kafka oder
Joyce, sondern die Generation Youtube stehen würde, dieses epochale Ereignis
ist bisher weder begriffen noch in ein neues Kulturverständnis integriert
worden. Wir schreiten erst noch über die Epochenschwelle.

Treffen sich alle Künste, moderne wie vormoderne, auf dem digitalen
Marktplatz, werden deren Karten neu gemischt. Die Anarchie der Ratlosigkeit
dürfte noch lange regieren, die Vielfalt der Optionen ist unübersehbar, die
Konsequenzen für Recht und Freiheit der Demokratie und ihrer künftigen
Kulturentwicklung sind unvorhersehbar. Es fehlt an allen Ecken und Enden, was
für eine organisierte und auch politisch geführte Neu-Kultur unumgänglich
wäre: neue Gesetze und Rechte, neue Sitten und neue Verantwortlichkeiten.

Und nicht zuletzt: zentrale Eliten, die nicht nur spezielle der speziellen Künste
und Technologien, sondern zugleich politische und gesellschaftliche sein
müßten, um den Begriff Elite (der gesamten Gesellschaft) gerecht werden zu
können. Sollte dieser Elitebegriff jedoch das Zeitliche endgültig gesegnet haben,
weil er Unmögliches zu vereinen fordert, wäre der nicht mehr überwindbare
désordre der kulturellen Entwicklung für immer an die Ordnungen und Kämpfe
der Märkte und ihrer technologischen, nunmehr digitalen Eliten gefesselt.

Die jeweiligen Sonderentwicklungen der Künste, vormoderner und moderner
Art und Genese, wären nicht mehr einer verbindlichen Gesamtentwicklung der
Kultur und Gesellschaft verpflichtet. Dieser Zustand ist mit einem Staat
vergleichbar, dessen Provinzen bzw. föderative Länder gleichfalls selbständige
Staaten sind. Ein Viele-Staaten-Staat, der keiner Zentralregierung bedarf, weil
nur Teil-Eliten und Teilzentren nötig sind, um die Bindung an die
Binnenordnungen und Binnenkämpfe der Märkte zu garantieren. Ob diese mit
Gemälden oder Fußballern, Schauspielern oder Aktien, Pop-Alben oder Festivals,
Stararchitektur oder den Events von wechselnden „Kulturhauptstädten“ Erfolg
und Umsatz machen, ist gleichen Wertes, gleicher Anerkennung, gleicher
Prominenz.

Die Heroen der ersten Kunstrevolution, der „ästhetischen“ des 19. Jahrhunderts,
konnten nicht ahnen, wohin die Entwicklung der Fotografie und des Films
führen würde, die Avantgarden des 20. Jahrhunderts, die mit ihrer neuen Kunst
nochmals die Utopie eines neuen Menschen, sei es à la Nietzsche, sei es à la
Marx gewinnen wollten, konnten nicht ahnen, wohin die Entwicklung medialer
Technologien führen würde. Diese begann erst seit 1980 die Bühnen der Kultur
und die Nichtbühnen des Lebens aller Menschen zu erobern.

II. Rückblick
Im Rückblick von heute auf diese kurze Geschichte der kulturellen Moderne
versucht man oft eine „Frühmoderne“ zu konstruieren, die mit Kant und
Schelling und der Lyrik der Romantik eingesetzt hätte. Dies ist verdunkelnd und
nur teilweise legitim, weil zwar die Erschöpfung der Vormoderne im
Schwanengesang des 19. Jahrhunderts (Belle Époque) unvermeidlich war. Aber
der Versuch, einen Paradigmenwechsel der Kulturgeschichte an eine fixierbare
Epochenschwelle zu datieren, muß scheitern. Ein prinzipielles Novum in der
Geschichte der Kultur läßt sich niemals an einen Ort und Zeitpunkt, auch nicht
an einzelnen Namen und Werken, Philosophien und Theorien festsetzen.

Versuche dieser Art sind ohnmächtige, die im Strom der Geschichte,
bahnbrechende Inseln als führende Strombeweger orten möchten. Gerade weil
dies unmöglich ist, springen prominente Namen ein, die dann – gemäß
bewährtem Autoritätssystem „Mainstream“ – von einer Generation an die
nächste weitergereicht und weiter (ab)geschrieben werden. Erfolgreich wie im
Falle Baudelaire, nicht erfolgreich, oder nur unter deutschen Philosophen
erfolgreich, wie im Falle Hölderlin.

Eine Frühmoderne konstruieren, der Kant und Schelling philosophisch Pate
gestanden haben sollen, ist trotz Freigabe der Autonomie des ästhetischen
Geschmackes seit Kant, irreführend. Beide Philosophen sind an einer
normativen Ästhetik eines normativen Schönen und Erhabenen in Natur und
Kunst interessiert, noch nicht an der modernen Ironie des frühmodernen
Künstlers, die in Hegels Ästhetik und seiner Analyse und Kritik der ironischen
Subjektivität bei Fichte zu finden gewesen wäre.

Nicht Kant und Schelling, sondern Fichte und vor allem Hegels Ästhetik und die
seiner Nachfolger (Rosenkranz, Vischer) kommen in die erste Wahl. Die
heroische Revolution der „ästhetischen Moderne“ folgte Hegels tiefgründigen
Lehren vom „Ende der Kunst“, vom „Humanus“ und „Dramaturgen“, – diese
begreifen, warum und wie sich das moderne Novum aus der Abwicklung der
Vormoderne entwickeln mußte.

Mag auch in der Dichtkunst, Abteilung Lyrik, der moderne Reflex zuerst
aufgebrochen sein, so erklärt dieser nicht den Aufbruch des Modernen in den
anderen Künsten, ganz zu schweigen von Fotografie und Film. Daß aber
Baudelaire zum „Gründervater“ erhoben und als Gründer-Idol weitergereicht
wurde, muß gewissen Aussagen über das Moderne, die seinem Gedicht
entnommen wurden, zugeschrieben werden. Eine Entnahme, die
selbstverständlich nicht ohne Deutung möglich war und ist. Gedicht und
Deutung des Gedichtes entfachten einen „Mythos“ von Gründung, dessen
angebliche „Irrationalität“ zu entschlüsseln sei. Entscheidend daher die Frage:
wie begründete sich Baudelaires Definition, aus welchen Quellen wurde sie
gespeist, mit welchen Begriffen operiert? Ihre Prominenz kann nicht zufällig
sein, zwischen ihr und denen, die sie fest- und weitergeschrieben haben, muß
ein untergründig sympathetisches Band gewirkt haben und immer noch wirken.

Die Deuter Baudelaires pflegen bis heute zunächst an eine ebenso triviale wie
unhintergehbare Voraussetzung zu erinnern, die dem Prozeß des
Paradigmenwechsels zugrundelag: die Autonomie der Künste hatte eine neue
Qualität erreicht, die alle vormoderne Autonomie hinter sich ließ. Was
überschritten und entgrenzt wurde, dahin führte kein Weg mehr zurück. (Wie
die Restaurationsversuche des 19. Jahrhunderts, die den irreversiblen Prozeß
aufhalten wollten, bewiesen: beispielsweise Cäcilianismus in der katholischen
Kirchenmusik, Nazarenertum in der Malerei, empfindsame und virtuose
Salonmusik, rührselige Dichtung als Gartenlaube-Kitsch, um nur diese wenigen
Beispiele zu nennen. Die vermeintlich unvergänglichen Stile zeitloser Kunst und
Schönheit sollten bald das Zeitliche segnen.)

Aus der neuen Autonomie der Künste folgte unmittelbar, daß der Künstler nun
seine Inhalte und Darstellungsweisen frei wählen durfte und mußte – frei von
allen normierenden Vorgaben der vormodernen Instanzen und Ideale, die Hof
und Kirche, Stände und Zünfte kultiviert hatten. (Eine Freiheit und Autonomie,
die erst wieder in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts vorübergehend verloren
gehen sollte).

Allerdings ging diese Befreiung der Künste und Künstler mit einer anderen
einher, die nicht weniger gewichtig war, obwohl sie oft ignoriert wird, weil man
offensichtlich wähnte, Kunst und Künstler des neuen Paradigmas seien neue
verbindliche Instanzen, die durch neue Normen und Ideale das Reich der Künste
führen könnten. Diese andere Befreiung galt dem Publikum der Künste, dem
das freie Geschmacksurteil über alle Arten und Werke der Künste
(unterhaltende und nichtunterhaltende gleichberechtigt), nicht mehr
abgesprochen werden konnte.

Mehr noch: auch ob es gefalle oder nicht, schön sei oder nicht, ja sogar ob es
Kunst sei oder nicht, oder ob man teilnehmen wolle oder nicht, alle diese
Optionen mußten dem neuen König der demokratischen Kultur überantwortet
werden.

Auch diese Befreiung und Inthronisation verdankt sich letztlich dem
Paradigmenwechsel von normsetzender Vormoderne, die im Fortgang ihrer
Epochen mehrmals verbindliche Stile, Gattungen und Ideale begründen konnte,
hin zu einer Moderne, die alle Normen und Ideale nach und nach auflösen
mußte. Dieses Auflösen ist zwar auch eine Norm, jedoch eine negative, ohne
deren Realisierung weder der Pluralismus noch der Individualismus der
modernen Kultur und ihrer Künste möglich wären.

Eine negative Norm, die Baudelaires Gründungsmythos der „ästhetischen“
Moderne und ihrer neuen Künste zugrundeliegt. Und wie schon eingangs
erwähnt: Daß diese Negativität durch die digitale Negativität überbietbar ist,
konnte man erst später erahnen; nach 1980/90 wurde sie Realität.

III. „Krankheit des Jahrhunderts?“
Daß die Autonomie des Kunst-Konsumenten der Autonomie der Produzenten
nicht widerspricht, daß beide keinen kulturellen Bürgerkrieg eröffnet haben,
verdankt sich der Tatsache, daß es just dem Pluralismus und Individualismus
der Produktion zu verdanken ist, daß der Kunstliebhaber und Kunstkunde unter
unzähligen Arten und Richtungen wie auch Einzelwerken der Künste nach
Belieben auswählen und auch zwischen allen (unterhaltende und „kritische“
gleichermaßen) nach Geschmack und Gusto wechseln kann und muß.

Eine Anarchie, die zwar spezialisierte Experten des unübersehbaren Angebots
der Märkte zu lenken versuchen, durch Empfehlungen, Bewertungen,
„Rankings“ und dergleichen, doch ohne die Freiheit und Macht des neuen
Königs stürzen zu können oder zu wollen.

Die negative Norm der ästhetischen Moderne formulierte Baudelaires
Gründungsmythos im Auge seiner Deuter wie folgt: Nicht mehr sei es Aufgabe
der neuen Kunst, einem „Beau universel“ zu folgen, denn dieses sei
unwiederbringlich verloren, verwesend in den Akademien, Konservatorien und
Kitschfabriken der Verlage und Zeitungen. Stattdessen habe der moderne
Künstler dem Imperativ einer universalen nouveauté zu folgen. In einem Satz: Je
neuer das neueste Werk, umso geglückter: Die normfreie Norm der
ästhetischen Moderne lasse sich als unabschließbare Suchbewegung
beschreiben.

Baudelaire bemerkt zwar das Ungenügende des modernen Ideals: Nach etwas
suchen zu müssen, das sich per definitionem nicht finden lasse. Aber er schreibt
das Sisyphosartige dieses Unternehmens nicht der Kunst, ihrer historischen
Entwicklung und ihrem aktuell erreichten Zustand zu.

Er bezichtigt den Geist seiner Epoche insgesamt als Schuldigen und schreibt von
einer „Krankheit des Jahrhunderts“, für die noch kein Heilmittel gefunden
wurde. Eine epochale Melancholie zwinge den Künstler mit dieser und ihren
beiden (Gegenspieler)Arten von Spleen und Ennui zu kämpfen. Die „Krankheit
des Jahrhunderts“ sei somit Grund und Ursache eines quälenden Ideals, das
unwiderstehlich mit erreichbarer Nähe lockt, doch zugleich in unerreichbarer
Ferne verharrt.

Zugleich aber soll dieses unerreichbare Ideal imstande sein, abermals eine
Kunst zu generieren, deren Werke Spiegel nicht nur der Kunst und des
Kunstwillens von Künstlern sind. Baudelaire hält an dem aus der Vormoderne
überkommenen Geniekult fest: In seinen Werken spreche das moderne Genie
den Geist des Ganzen aus, die Totale der modernen Welt, mag diese auch aller
sonstigen Welt noch verborgen und verhüllt sein. Der Spiegel der Kunstwerke
sei das gesuchte Orakel.

Wäre diese Lehre im Namen des zeitgenössischen Romans von damals
verkündet worden, hätte man an die Werke Zolas denken müssen, – an „Rome“
oder an „Das Werk“ oder auch an „Geld“ in denen tatsächlich (in großartiger
Durchdringung) einige Teilwelten des Ganzen der entstehenden modernen Welt
und Kultur erfaßt werden. Nun soll aber die Lyrik des modernen Sisyphos und
seines uneinholbaren Ideals die ganze Arbeit leisten können.

Dies eröffnet den Verdacht, daß der Geniekult autistisch werden muß, wenn
eine unhaltbar gewordenen Position von Kunst und Genie den Zenit ihrer
möglichen Machtentfaltung überschritten hat. In ihrem letzten Machttaumel
wird der Geniekult blind für das, was die Welt der Kunst von der übrigen Welt
trennt. Baudelaire übersah, daß sich die „ästhetische Moderne“ und ihr
uneinholbares Ideal außerhalb der anderen Arten von Moderne positionierten.

Denn in der technischen, der wissenschaftlichen und auch der politisch-
moralischen Moderne galt und gilt noch bis heute, daß kein Vernünftiger etwas
sucht, das per definitionem nicht gefunden werden kann. Ein Kameraauge für
Fotografie und Film, das nicht hätte gefunden werden können, hätte niemandes
Interesse und Können erweckt.

Würde aber das vollendete Werk der „ästhetischen Moderne“ gefunden, wäre
das normfreie Gesetz der unabschließbaren Suchbewegung aufgehoben. Der
Widerspruch in Begriff und Realität eines normfreien Gesetzes wäre nicht mehr
als Grund und Quelle des Neuen anerkannt und befolgt. Doch diese
Vernichtung seines leitenden Widerspruchs kann der moderne Kreative nicht
zulassen, weil er sich dann entweder auf kunstexternem Gelände oder auf einer
Art Rückkehrpfad in die Vormoderne positioniert hätte.

Schlager und Popsongs, Unterhaltungsromane usf. sind nicht die Lösung des
Problems der erschöpften Vormoderne, sie sind deren vorerst unabschließbar
verlängerter Erschöpfungsteil. Die gesamte moderne Unterhaltungsindustrie
wäre ohne diese Verlängerung des vormodernen Spiels gar nicht möglich. Und
natürlich ist nicht zu leugnen, daß die fortschrittlichste technologische Kunst,
der tausendartige Film der modernen Welt, seine dominierende Virtuosität auch
darin beweist, über alle Formate von Kitsch und Unterhaltung mit
unüberbietbarer Souveränität und Reichweite zu gebieten. Der Zwilling des
Youtubers der Gegenwart ist er selbst als Netflixianer.

Der Film und dessen Industrie muß sich auch nicht das Grunddogma der
„ästhetische Moderne“ einreden, ein Neues suchen zu müssen oder zu sollen,
das nicht auffindbar, nicht realisierbar, im Moment der Findung zu zerstören
oder durch einen neuen anderen Film, der die alten hinfällig mache, zu
überbieten. Viele Filme der Filmgeschichte werden zu immer wieder gesehenen
„Legenden“, sei es ihrer „Serie“, sei es ihres „Mythos“, sei es ihrer Schauspieler,
sei es ihrer Dekaden, – als Spiegel vergangener Lebensgewohnheiten,
Lebensarten und Lebensunarten. Die Kundschaft des neuen
Milliardenpublikums zählt nach Kontinenten.

IV. Das Unbekannte
Baudelaires Gründungsgedicht der „ästhetischen Moderne“ gipfelt im
programmatischen Appell „Zum Grund des Unbekannten, wenn er uns nur Neues
schenkt!“

Welches Neue soll uns welcher Grund schenken, oder genauer: welcher Grund
welches Unbekannten wird angerufen? Diese Frage möchte trivialerweise eine
rationale Antwort erhalten über das Wesen eines Appells, der sich nichtrational
zu sein dünkt, weil seine Prämisse das Triviale alias Bekannte ausdrücklich
ausgeschlossen hat: Wäre der Grund des Unbekannten entdeckbar oder gar
schon entdeckt, wäre auch das Unbekannte ein doch Erkennbares und
Bekanntes.

Die selbsternannte Offenbarung dieser irrationalen (meta- oder subrationalen)
Position – sie liegt dem Selbstverständnis des Neuen der „ästhetischen
Moderne“ zugrunde -, hat ihr allezeit den Vorwurf der Selbstmystifizierung
eingebracht. Er begleitet alle ihre Bekenntnisse und Selbstdeutungen von
Picasso bis Christo, von Schönberg bis Boulez, von Loos bis Corbusier usf. Und
nicht nur bei Baudelaire erhebt sich der Verdacht, man suche nach einem deus
absconditus neuer Kunst, um dieser in den Rang einer neuen (retroantiken?)
Kunstreligion zu verhelfen.

Die rationale Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Unbekannten und
Neuen ist einfach, aber nicht trivial, es ist eine historiologische Antwort: Die
Logik der Geschichte der Kunst muß erkannt worden sein, um den rationalen
Grund des Neuen formulieren zu können. Sein Fazit lautet: ist die Phantasie und
das Schaffen der Künste aus den geschlossenen Systemen vormoderner Kunst
und Ästhetik herausgetreten, sind sie ihr eigener neuer Grund geworden.

Die neue, die moderne Phantasie der modernen Schöpferkraft darf, soll und
muß sich nun mit ihren eigenen nouveautés beschenken. (Was am
schlechtesten und unverkäuflichsten bekanntlich mit den Exaltationen und
Extravaganzen des experimentellen Romans gelingt, – „ab in die Nische“ lautet
die unerbittliche Lösung.)

Hingegen wäre eine neue Kunst als neue Religion für neue Menschen, die auf
Neues immerfort neugierig sind, nichts weiter als die Trivialität Mode, deren
Wechselbälge sich mit jedem Zeitgeist erneuern, und doch nur Mode, nichts als
Mode bleiben. (Auch den Neuigkeits-Topos der „ästhetischen Moderne“ hat die
digitale Kultur beerbt und als „ästhetisches“ Programm entsorgt. Im digitalen
Kosmos fallen News wie ständiger Regen auf den neugierigen Kunden
Menschheit. Unbekanntes wird jederzeit bekannt, das Bekannte meldet
jederzeit noch Unbekanntes.)

Daß das „Unbekannte“ der „ästhetischen Moderne“ eine Analogie zum
„Geheimnis“ der Theologie christlicher Religion hat, demonstrieren alte, sehr
alte Altäre in den heutigen Kirchen, vor denen oder auf und über denen
moderne Kunst feilgeboten wird. Die Rationalität der Kommentare zu diesen
„epochalen“ Kirchen-Ereignissen, hält sich innerhalb irrationaler Grenzen.
Weder der Religion noch der modernen Künste-Phantasie, nur dem Kuratoren-
Betrieb der modernen Kultur und unwissenden Kirchenoberen wird durch die
Beschaffung künstlicher Kunst-Orte gedient.

Eine neue Kunst als neue Religion für neue Menschen, (die auf Neues immerfort
neugierig sind), wäre nur möglich, wenn ihr Prinzip ein Ideal sein könnte. Aber
ein unerreichbares Ideal ist kein Ideal, sowenig das Geheimnis der Theologie(n)
ein Ideal sein kann. (Christus ist ein Ideal, weil sein Inhalt in einem Menschen
verwirklicht werden konnte; die geheimniserfüllten Deutungen der
theologischen Trinität und ihrer Kommunion sind keines, weil die
Realisierbarkeit nur als geglaubte vollzogen wird.)

Folglich ist das „Unbekannte“ und „Neue“ der ästhetischen Moderne lediglich
ein Idol, und zwar ein modernes Idol, das von den archaischen Idolen (Fetische,
Kultorte usf.) exakt unterschieden ist. Ein Idol der Freiheit von Phantasie und
Kunst kann und muß durch grenzenlose Reflexion auf sich und die Welt jeden
Inhalt zum Kunstinhalt erheben. In dieser „Idolwelt“ (Kunst ist Kunst, alles
andere ist alles andere) hat sich die „ästhetische Moderne“ als permanente
Innovation, als „ewige Renaissance“ ihrer selbst, mittlerweile gemütlich
eingerichtet hat.

Denn sie wird anerkannt und hofiert, auch politisch, wie das kulturpolitische
Argument beweist, wonach die moderne Demokratie ohne ihre freien Künste
nicht überleben könnte, schon weil man in ihr über alles lachen muß können,
wie die Heerscharen der modernen Kabarettisten täglich und auftragsgemäß
beweisen. Die Freiheit zum Totlachen wurde vielen modernen Menschen zur
zweiten Natur.

Daß sich Reste des vormodernen (archaischen) Idols in der modernen Welt
erhalten haben, beweist die gängige Rede von und der Glauben an magische
Orte, auch „Kraftorte“ genannt. Als wäre die christliche Entzauberung der Welt
nicht einmal in der Ersten Welt flächendeckend wirksam geworden. Sie zaubert
also doch noch, die gute alte, schöne und erhabene Natur. Man muß sich nur
überzeugen lassen, dann wirken auch noch die astrologischen Kräfte des
Kosmos wieder.

Offensichtlich sucht sich der moderne Mensch der westlich-säkularen Kultur, in
Kirche und Glauben heimatlos geworden, anderwärts Reservate, in denen das
Übersinnliche auf altbewährten Wegen wieder Eingang findet. Und esoterisch
gesonnene Künstler der „ästhetischen Moderne“ schaffen dann auch mühelos
den für moderne Menschen unausführbaren „Spagat“ zwischen archaischem
und modernem Wissen und Bewußtsein. Stockhausens Erleuchtungen, direkt
von Sirius empfangen, zählen zu den Legenden einer hoffnungserfüllten
Kunstepoche der „Zweiten Moderne“.

Hingegen scheinen die Werke der bildenden Künste, die als begehrte Tausch-
Waren auf global organisierten Kunstmärkten Höchstpreise erzielen, sogar
eines Ideals fähig zu sein: Ein Millionen-Picasso scheint die Realität von „Ideal“
bewiesen zu haben. Als ob Gott Mammon keiner Idole fähig wäre. Millionäre
nutzen das gemalte Geld, um als Milliardäre ins Grab zu sinken und ihren
Kindern und Erben ein reiches Andenken zu hinterlassen.

V. Ideal und „Ideal“

Ein durch Kunst real verwirklichbares Ideal ist kein Produkt freier Reflexion
durch freie Künstler. Es besteht nicht aus frei wählbaren Inhalten und Formen.
Es enthält zuerst und zuinnerst einen normativen Inhalt, in der Antike
beispielsweise Götter und deren Kulte. Dieser Inhalt und seine sinnlich
erscheinenden Darstellungen sind anfangs noch nicht von religionskritischer
Aufklärung und Philosophie angekränkelt, und auch die Geburt autonomer
Künste hält sich noch in engen Grenzen.

Nur ihrem Sinn – in zumindest dreifachem Sinn – folgend, wählen die in ihrer
Kultur und Tradition geborgenen Menschen und „Künstler“, die sich noch kaum
als Künstler bewußt sind, entsprechende Kunstformen und Kunstmaterialen zur
Gestaltung der Inhalte aus. (Phidias weiß, ohne darüber nachdenken zu
müssen, wer ihm beim Modellieren „seines“ Zeus in Olympia und „seiner“
Athene im Parthenon über die Schultern blickt. Und er weiß auch, was der
kollektive Blick fordert, denn der normative Inhalt hat seine normativen Formen
und Inhalte bereits realisiert und tradiert.)

Im Unterschied zum modernen „Ideal“, das als unerreichbares eine nur
flüchtige, im Erscheinen sogleich verschwindende Gestalt annimmt, hält sich ein
wirkliches Ideal nicht hinterm Berg unerkennbarerer Geheimnisse verborgen.
Seine Normen und Eigenschaften sind entdeckbar und entwickelbar. Dennoch
bedeutet die Untrennbarkeit von Inhalt und Form keinen Mechanismus, der die
Entwicklung steuerte. Im Gegenteil: der Ausdruck höchster Freiheit wird für
Jahrhunderte durch Jahrhunderte geführt und gesteigert. Die idealen Relationen
von Inhalt und Form sind jedoch keine „zeitlosen“, sie sind auch nicht über ihre
Kultur und Tradition hinaus wiederbelebbar. Nämlich nicht als neue Kultur und
neue Tradition, denn das Alte und Gewesene kann kein Neues und der
Gegenwart Entspringendes sein.

Das Wort „Renaissance“, im 19. Jahrhundert der französischen Sprache entlehnt,
um die Epoche an der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit vor allem in
Italien zu bezeichnen, legt eine „Wiedergeburt“ der antiken Kulturepoche nahe.
Eine sogenannte „Projektion“ in die Geschichte der Menschheit, von Künstlern
und Gelehrten in den (ober)italienischen Stadtstaaten unternommen, die nur
die Naivität eines Denkens beweist, das mit den Tücken und Fallstricken von
Historie und Historismus noch nicht vertraut war. Anders die Projektion des 19.
Jahrhunderts, – deren falsche Naivität ist nicht mehr entschuldbar. In der
Umgangssprache von heute beginnt das besser zutreffende Wort „Retro“ das
als unzutreffend durchschaute Wort „Renaissance“ zu ersetzen.

Wir hängen einer sich selbst widersprechenden Vorstellung an und denken
einen widersinnigen Begriff, einen gar nicht denkbaren Begriff, wenn wir
meinen (ohne es verbindlich sagen zu können), das Alte und Gewesene könne
als neues Leben einer neuen Kultur wiederbelebt werden. Das Gewesene könne
Realität und Entwicklung der Gegenwart ersetzen. Jede Gegenwart ist ihre
eigene Spontaneität, jede Kultur, wenn sie wirklich lebendig ist, strebt nach
Neuanfang.

Dennoch und gerade weil das Alte ein Gewesenes wurde, kann eine
„Geschichte“ gewordene Kultur sehr wohl und sogar eminent und extensiv, die
Mechanismen von Erhaltung (Denkmalschutz), Nachahmung und industrieller
wie individueller Reproduktion in Gang setzen, um den Monumenten ihrer
Freiheit den Status „unvergeßlich“ zu verleihen.

Sei es für Museen und angegliederte Wissenschaften oder für ungeheure
Massen von Touristen, die aus „magischen“ Gründen, am Ort des originalen
Geschehens die originalen oder nachgebauten Monumente (Tempel, Skulpturen
usf.) gesehen haben müssen. Mechanismen, die besonders für vergangene und
abgeschlossene Kulturen gelten, die die klassischen Früchte ihrer Entwicklung
(Kairos) hinterlassen haben.

Und da wir mittlerweile auf nicht wenige antike Kulturen im erweiterten
Mittelmeerraum zurückblicken und in diese „zurückkehren“ können, als lebten
sie heute noch, haben wir ein vergleichendes Luxusproblem, das uns in
Verlegenheit bringt. Denn unter den vielen „Klassiken“ der antiken Kulturen
(persisch, ägyptisch, griechisch, um nur drei von unzähligen zu nennen) haben
die entsprechenden Künste (Dichtung, Tempel, Skulptur, Malerei) je eigene
Ideale und idealische Entwicklungen hinterlassen. Doch bestand in Europa und
der Ersten Welt bis ins 19. Jahrhundert, als die letzte vormoderne Epoche ihr
Leben aushauchte, kein Zweifel daran, daß aus dem Vergleich der antiken
„Klassiken“ die griechische als Siegerin hervorgehe.

Auch diese Gewißheit wurde in der Kultur der Moderne ungewiß, weil das
Prinzip Freiheit, das dem modernen „Ideal“ zugrunde liegt, eine neue
Rückprojektion in die Geschichte geschichtsmächtig gemacht hat. Über deren
falsche Naivität werden sich künftige Kulturepochen mit spätem Erstaunen
verwundern.

Im neuen Projektionsparadigma ist nun ausgemacht, daß Freiheit, die von
Gleichheit untrennbar ist, allen Kulturen und deren „Klassiken“ gleichen Wert,
gleiche Würde und Schönheit zuschreibt. Wer unter den antiken Kulturen und
deren Klassiken der griechischen die Palme überreiche, der betreibe nur eine
Art Vorwegahme des mittlerweile völlig diskreditierten, um nicht zu sagen
diskriminierten Eurozentrismus.

Man dürfe, müsse und solle sogar vergleichen, aber unter dem Prinzip gleicher
Freiheit für alle; woraus die neue Rückprojektion mit moderner Totaltoleranz
folgert: Multikulturalismus war immer schon und ist schon deshalb ein
harmloses, ja triviales Ziel für das neue Europa der Zukunft.

Ist jede Klassik in ihrer Art und jede Kultur in ihrer Art so großartig wie jede
andere in ihrer Art, haben wir das unerreichbare Ideal der Moderne scheinbar
doch erreicht, nun aber in verwandelter (multikultureller) Gestalt. Daran mochte
der Mystizismus Baudelaires nicht gedacht haben, weil „Multikulturelles“ für ihn,
wenn überhaupt, nur als Mittel für die Experimentalzwecke seines modernen
„Ideals“ in Frage kam. (Chinoiserie, Japonismus, Orientialismus: Schon seit dem
18. Jahrhundert begannen europäische Künstler der Vormoderne und ohnehin
der späteren Moderne das „Fremde und Andere“ zu bewundern und zu
„integrieren“. Ein deutliches Zeichen der sich erschöpfenden Eigenquellen
europäischer Kunstentwicklung.)

Aber eine multikulturelle Norm ist weder eine neue und noch eine wirkliche
Norm, sie setzt nur die Tolerierbarkeit jeder Art von Freiheit als Pseudonorm
frei. Und der Unterschied zum säkularen modernen Ideal ist einzig dieser: es ist
vom Innovationszwang der ästhetischen Moderne befreit, das multikulturelle
Ideal wandert in fremden Gefilden auf Raub und Beute.

Wird ein heutiger „Weltmusiker“ nach den Normen seiner Musik befragt,
antwortet er mitleidig lächelnd: viele Normen, nein alle Normen sind seine
Normen. Seine Musik sei „offen“ für alle Normen, seine Kreativität sei nicht
(mehr) durch kulturelle Grenzen eingeschränkt. Er wandle und bediene sich bei
allen Stilen, er bereichere sich mit allen Inhalten und Formen. Daher auch der
illustre und nicht mehr überbietbare Musik-Name: „Weltmusik.“ Diese neue
Avantgarde der neuen Weltkultur hat musikalische Relikte und Fragmente der
ästhetischen Moderne nur noch als Randerscheinung im Gepäck.

Pointiert könnte man daher melden: Das moderne Ideal der „ästhetischen
Moderne“ soll und kann sich niemals verwirklichen, das Ideal der
multikulturellen Moderne hat sich immer schon verwirklicht.

Das moderne Ideal ist, wissenschaftlich gesprochen, eine Hypothese, deren
empirische Einlösung prinzipiell unmöglich ist: Es soll ein Ideal sein, das keines
sein soll. Eine „Norm“, die im 19. Jahrhundert noch nicht als Logik des
Dadaismus in die moderne Kultur der Vielfalt integriert war. Damals hielt man
erst noch in der Station „Revolution“ – die ohne Legenden von Gründervätern,
Gründermanifesten usf. nicht glaubhaft gewesen wäre. Der Grund der
Unmöglichkeit, das Ideal der ästhetischen Moderne als Ideal mit idealen
Entwicklungen (sie müßten über Jahrhunderte „nachhaltig“ sein) zu
verwirklichen, ist einfach: Dem Prinzip Freiheit läßt sich nur das Partnerprinzip
Gleichheit entnehmen, jedoch keine Subprinzipien für normative Relationen von
Form, Inhalt und Material.

Jeder moderne Künstler folgt daher, nach dem Ende der heroischen
Avantgarden der „ästhetischen Moderne“ im irreversiblen Feld der
postmodernen Moderne angekommen, dem neuen „Prinzip“ von
„Nachhaltigkeit“: Freiheit ohne Anfang und ohne Ende. Er schafft seine eigenen
Formen und Inhalte nach seinen Vorstellungen und Selbstaufträgen. Er
entwickelt sui generis „Personalstile“, die der Kulturjournalist und sein Vormund
Kurator mit gleicher „Nachhaltigkeit“ als „unvergleichlich“ beurteilen. Aber was
gäbe es im neuen Gefilde der freigesetzten Freiheiten noch zu vergleichen? Es
fehlen die simpelsten Maßstäbe, weil dazu Normen, verbindliche notabene,
vorausgesetzt wären. Auch das Wort „unvergleichlich“ hat die Seite gewechselt.

Und an den Rändern dieser „zeitlosen Moderne“ kann sich der zeitgemäße
Künstler sogar mit den Rändern der (vermeintlich) gehobenen oder
intellektuellen Unterhaltungsmoderne verbinden, wie die Mixturen mit Jazz,
Chanson, Show und ähnlichen beweisen. Die entsprechenden Mixturen in der
Bildenden Kunst sind leicht auffindbar, um von der Literatur zu schweigen, die
noch im 20. Jahrhundert zwischen Vormoderne und Moderne changierte. Hesse
als Wiedergänger Goethes in Konkurrenz mit Thomas Manns ironischer Lotte in
Weimar. Zwischen Belletristik und „höherer“ Literatur unterscheiden heute nur
noch die Puristen des inner circel im Literaturbetrieb. Völlig erübrigt haben sich
die vormodernen Unterschiede, Rangordnungen und „Seiten“ in den
technologischen Künsten Film und Fotografie.

Wird nun dieses „Ideal“ (der freigesetzten Freiheit) in die Geschichte
rückprojiziert, ernten wir mehr als eine „Renaissance“ der gesamten
Kulturgeschichte: Wir ernten den „Reichtum der Vielfalt“ aller Kulturen und dazu
den modernen Multikulturalismus als neue Ideologie, der uns nun Welt und
Geschichte erklärt.

Nun sind es aber nicht vordringlich Künstler und Politiker, die das unerreichbare
Ideal der ästhetischen Moderne aller vormodernen Kulturgeschichte
unterschieben. Es sind die modernen Kulturwissenschaften, moderne
Philosophien nicht ausgeschlossen, die dafür primär verantwortlich sind. Diese
lassen die Glocken der globalistischen Ideologie läuten, lautstark und die
Stimme der Vernunft überdröhnend und vernichtend. Die modernen
Kulturwissenschaften müssen schon deshalb am Strang der modernen
Ideologieglocke ziehen, weil sie ihren zahlreichen und sehr speziellen
Wissenschaften (Ägyptologie, Iranistik, Orientalistik usf.) nicht das Wasser (Geld)
abgraben dürfen. Rückwirkende Gleichberechtigung ist höhere Gerechtigkeit,
die Gleichberechtigung aller Kulturen und ihrer jeweiligen „Klassiken“ ist
allerhöchste Gerechtigkeit.

Im radikalen (grundlegenden) Unterschied dazu gilt für das noch nachhaltig
wirksame Ideal der Vormoderne, nochmals sei es gesagt, daß ein Inhalt
(Mythos, der noch wirklich einer war) normativ gebietet, bei der kultischen und
später dramatischen und künstlerischen Darstellung der großen Erzählungen
zwischen möglichen und unmöglichen Formen und Künsten konkret zu
unterscheiden. Eine Normativität, die durch ihre Selbstverständlichkeit alle
Teilnehmer (modern: Auftraggeber, Produzenten und Kunden) so bindet, wie
beispielsweise ein Dialekt einer nationalen Sprache alle seine Eingeborenen
bindet und vergemeinschaftet.

Der dritte untrennbare Faktor: das Material der Formen (kein objektivierbarer
Inhalt ohne Form, keine Form ohne Material,) muß „frei“ wechseln können, im
Rahmen der vormodern Freiheit und ihrer Entwicklungen: Die Tempel der
Götter Griechenlands begannen in Holz und vollendeten sich in Marmor.

Das Ideal entwickelt sich aus archaischen Anfängen und vollendet sich in
wirklich klassischen Gebilden. Eine Entwicklung, die aber keineswegs
harmonisch und friedlich verlief, sondern unter Kämpfen, Blut und Gewalt.
Grund dafür ist wiederum die Normativität des Ideals: diese schloß umkämpfte
Arten und Varianten keineswegs aus, und sie schloß vor allem das Religiöse und
Politische, sogar das Staatspolitische nicht aus, – wie nicht zuletzt die Anklagen
gegen Phidias/Perikles durch deren Feinde beweisen.

Anklagen und Prozesse, die Picassos „Guernica“ nicht mehr fürchten muß. Im
Gegenteil: Lob und Preis(e) eilen ihm voraus, die Anerkennung ist nun „global“
und alle Kulturen übergreifend. Wie es dazu kommen konnte, ist kein
Geheimnis, es bedarf nur der biographischen Spurensicherung von Werk und
Künstler, um die Bedingungen des unbedingten Erfolgs zu eruieren.

Der Grund dafür ist wieder einfach und irreversibel: Ist Freiheit der Künstler
zum („mythischen“) Inhalt der Kunst aufgestiegen, wie in der Moderne ohne
Ausnahme, gibt es keine idealischen Relationen mehr für Inhalt und Form, für
Form und Material, die von einer Mehrheit der Kultur(en) oder einer
(polyhistorisch gelehrten?) Elite anerkennbar wären. Die Erosion des Alten ist
vollständig, das Neue hat seinen Lauf begonnen.

Die nun gefundenen und dargestellten Relationen (zwischen den Grundfaktoren
der Künste) entstammen dem Machtbereich individueller Künstlerphantasien
und ihrer „Personalstile.“ Weil das erodierte Normative ins Privative abgesunken
ist, muß nun der Markt und dessen kontingentes Geschehen ein Machtwort
sprechen. Mag dieses auch gerecht oder ungerecht sein, ist es doch (modernes)
Schicksal: Einer „Elite“ von wenigen Promikünstlern steht eine Heerschar von
namenlosen Künstlern gegenüber, zwischen denen die diversen lokalen
Hierarchien von Provinzpromis und Provinzanonymi den Versuch einer
Vermittlung vorstellen. Das Versprechen nämlich, eines Tages in die Klasse der
Globalpromis aufzusteigen.

Diese Vermittlung und dieses Versprechen motiviert seit dem 20. Jahrhundert
die Sportler der modernen Sportarten, in ihrer Disziplin der globalen
Siegespalme und Prominenz nachzustreben. Eine Trennung von Sport und
Kunst, die den Olympiaden der griechischen Kultur noch ferne lag. Unsere
Olympiaden haben Kunst und Künstler in den Show-Teil der Eröffnungs- und
Abschlußfeier verbannt.

VI. Die „Fugitive“ des Flaneurs
Indem Baudelaire einer „Krankheit des Jahrhunderts“ zuschiebt, was allein
durch die Verwerfungen der Künste im 19. Jahrhundert verursacht wurde, hat er
sich erfolgreich der Arbeit entzogen, die historische und zugleich logische
Begründung des neuen Wesens neuer Kunst zu erkennen. Es war auch keine
Krankheit oder Gesundheit der Künste, die zur Freisetzung der „ästhetischen“
als moderner Kunstfreiheit führte. An der weiteren Geschichte der Künste im
20. Jahrhundert wäre Baudelaire ganz ohne Reflexion und Forschung die
Wahrheit über seine neue Kunst zuteil geworden.

Spätestens seit dem Manifest „L’Art brut préféré aux arts culturels“ von 1949, in
dem Jean Dubuffet Kinder, Naive und Geisteskranke zu gleichberechtigten
Künstlern erhob, ist der „Mythos“ vom auserwählten Geniekünstler als
berufenem Führer des Neuen brüchig geworden. Selbstverständlich können die
diversen Kunst-Märkte ihr modernes Marketing nicht ohne Markenbegriff
„Genie“ und dessen Pendants (Meister, Malerfürst, Starkomponist, Stararchitekt
usf.) betreiben. Aber die Künstler der „Art brut“, die Dubuffet entdeckte, folgen
nur vordergründig dem Entwurf einer „antiintellektuellen Kunst.“ (Dazu hätte
Dubuffet nur die Büchse der Pandora der Unterhaltungsfilme, Comics, Schlager
und Songs öffnen müssen, – heute zusätzlich den Kosmos der Computerspiele.)

Die Anerkennungsfähigkeit der Werke der Geisteskranken und Sonderlinge
beweist vielmehr, daß man die Büchse der Freiheit nicht ungestraft öffnet. Wer
heute ein Werk des Genies „Picasso“ mit einem Werk der „Künstler aus Gugging“
vergleicht, darf über seine Kunst, zwischen beiden Marken unterscheiden zu
können, nicht allzu genau befragt werden.

Hängen oder stehen doch die Werke der Meister aus Gugging und anderer
Heilanstalten gleichberechtigt neben den Werken der modernen „Malerfürsten“
in vielen Museen für moderne Kunst. Die Marke „weltbekannt“ wurde
erfolgreich erobert und besetzt. Und auch diese Erfolgsgeschichte ist eine kurze,
kürzer noch als die Geschichte der „Klassik der Moderne“ bzw. der „klassischen
Moderne.“ Denn zunächst (1960-Jahre)interessierten sich die behandelnden
Ärzte nur für den diagnostischen Wert der Zeichnungen, Bilder und Skulpturen.

Bald aber folgten Ausstellungen mit den neuen Werken der nun anerkannten
Künstler, die wiederum die Kunstwelt faszinierten und andere Künstler
(außerhalb der Anstalten) anregten. Dieser Erfolg war es wohl, der Dubuffet
bewog, Werke von Kindern und Volkskünstlern, die er zunächst in den
Begriffsraum der „Art Brut“ aufgenommen hatte, wieder auszuschließen. Und
den Ärzten müssen gewisse Ähnlichkeiten zwischen der Kunst der einen und der
Kunst der anderen aufgefallen sein. Das machte sie mutig, und siehe da, sie
hatten Erfolg. Ein neues Genie war geboren, – oder doch nur das alte
verschieden?

Der Aufruf Baudelaires (letztes Gedicht der „Fleurs du Mal“) war schon im Geiste
Nietzsches formuliert: „Zum Grund des Unbekannten, wenn er uns nur Neues
schenkt!“ Dieser Grund, sein Name lautet Freiheit, ist seitdem „angezapft“ und
erweist sich als Faß ohne Boden. Und daher scheint die Hegelsche Lehre von
einem „Ende der Kunst“ endgültig als sinnwidriges Produkt eines sinnlosen
Denkens entlarvt.

Dem (Kunst)Faß ohne Boden kann und muß jede nur mögliche Äußerung von
Freiheit als Kunst entnommen werden. Kein Inhalt, keine Form, kein Material
und keine Art und Weise diese zu verbinden, kann anderen Arten und Weisen
mehr Anerkennung zollen als sich selbst. Sind alle Genies, ist das neue Genie
geboren, – und das alte endgültig verstorben. Daß die Freiheit des Menschen
ein seltsames Ding ist, wissen nun auch Kunst und Künstler.

Freiheit wird bei Hans Kelsen, einem Rechtsgelehrten und –philosophen, der es
eigentlich wissen müßte, auf den Namen „Toleranz“ getauft, denn diese sei das
eigentliche Wesen der Freiheit. Daran ist jedoch nur richtig, daß Freiheit und
Gleichheit die unerschöpfliche Produktion der neuen Kunst begründen, die
folglich nicht ihr Ende, sondern ihren fruchtbaren Anfang erreicht hat.

Allerdings muß jedem Verständigen auffallen, daß Freiheit und Gleichheit keine
kunstimmanenten Prinzipien sein können, denn sie gelten für jedes Tun und
Nichttun, für jedes Schaffen und Nichtschaffen von Menschen, sofern diese in
Demokratien unter demokratischen Prinzipien leben und schaffen. Die
Prinzipien der freien Freiheit sind frei und weiter nichts. Sie genügen sich selbst
und stellen sogar den Namen „Prinzip“ in Frage; so frei ist ihre Freiheit.

Die neue Freiheit existiert, vorausgesetzt, es finden sich Menschen mit starkem
Willen und kräftigen Absichten. Sie müssen sich selbst erwählt und entschlossen
haben. Stirner und Nietzsche haben den neuen Charakter des neuen Menschen
der Zukunft beschrieben und gefordert. Nur ein wirklich neuer Mensch könne
die dringend gesuchte neue Kultur begründen. Und welcher schien berufener
als der neue Kunst schaffende Mensch?

Am Ende sollte er sogar einen wirklich neuen Menschen schaffen können.
Wohlgemerkt: durch Kunst und deren Mittel, nicht durch Wissenschaft und
Technik, nicht durch Roboter und „künstliche Intelligenzen.“ (Noch Adorno hing
dieser verträumten Lehre der „ästhetischen Moderne“ an.) – Aus einem
immanenten Prinzip hingegen lassen sich immanente Subprinzipien generieren:
die Freiheit jeder Kunst ist nach deren Inhalten und Grenzen bestimmt und
eingeschränkt. Offensichtlich: ein Faß mit Boden und ohne endlosen Zufluß.
Kurz: Das realisierbare Ideal unterscheidet sich vom modernen ums Ganze –
von Kunst und Kunstschönheit.)

Auch Walter Benjamin, eine Ikone der deutschen Kulturphilosophie im 20.
Jahrhundert, hat Baudelaires Gedicht eine Deutung gewidmet. Er erblickt ein
„modernes Großstadtgedicht“, in dem eine „aufscheinende Schönheit“
erscheint.1 Im Originaltext findet sich allerdings weder ein Aufscheinen noch ein
1 La rue assourdissante autour de moi hurlait,
Longue, mince, en grand deuil, douleur majestueuse,
Une femme passa, d’une main fastueuse
Soulevant, balançant le feston et l’ourlet ;
Agile et noble, avec sa jambe de statue.
Moi, je buvais, crispé comme un extravagant,
Dans son œil, ciel livide où germe l’ouragan,
La douceur qui fascine et le plaisir qui tue.
Un éclair… puis la nuit ! – Fugitive beauté
Dont le regard m’a fait soudainement renaître,
Ne te verrai-je plus que dans l’éternité ?
Ailleurs, bien loin d’ici ! trop tard! jamais peut-être !
Car j’ignore où tu fuis, tu ne sais où je vais,
Erscheinen, sondern eine „Fugitive beauté“, die man besser mit „flüchtiger
Schönheit“ übersetzt.

Es ging nämlich, allerdings in einer Großstadt namens Paris, eine fremde Frau
(die „Vorübergehende“) an dem flanierenden Dichter vorbei. Diese wurde vom
Dichter als „flüchtige Schöne“ ausgerufen, obwohl sie keineswegs, wie eine
beckmessernde Deuterin zunächst noch anzumerken wagt, „mit den klassischen
Attributen der Schönheit ausgestattet war.“ Diese offen bezeugten Attribute
beweisen, daß die Deuterin so etwas wie ein klassisches Ideal der
Frauenschönheit kennt und anerkennt. Insofern hält sie es – noch – mit Kant.

Die „Fugitive“ ist lang und dünn und alles andere als schön. Wer aber so
entschieden formuliert, unterscheidet offenbar zwischen schön und unschön; er
lebt noch in der Vorstellungswelt und in den Vorurteilen des vormodernen
Ideals von weiblicher Schönheit. Das neue, das postmodern-moderne Ideal der
„ästhetischen Moderne“ hat ihn noch nicht erreicht: Jede Frau ist in ihrer Art und
Weise so schön wie jede andere Frau in ihrer Art und Weise.2

Von Benjamin noch zum Großstadtdichter aufgerüstet, wird dieser nun zum
neuen Schönheitsdichter umgerüstet. Denn wer die Macht besitzt, eine
„flüchtige Schöne“ zur „flüchtigen Schönheit schlechthin auszurufen“, dem muß
man nur noch den alten Stolperstein überkommener Ideale aus dem Weg zu
räumen.

Doch peinlicherweise begleitet das alte und doch stets erneuerbare Ideal
weiblicher Schönheit die Menschheit bis zum heutigen Tag, – seinem
immanenten Prinzip lassen sich relativ strenge und vor allem verbindliche
Subprinzipien entnehmen und anwenden.

Zwar mögen die Ideale der Frauenschönheit in verschiedenen Kulturen und –
horribile dictu – Rassen stark voneinander abweichen, aber in jeder Kultur, wie
verschieden von anderen auch immer, gilt eine je eigene Hierarchie der
(weiblichen) Schönheitswerte generell und meistens auch unbarmherzig: aus-
und eingrenzend.

Ô toi que j’eusse aimée, ô toi qui le savais
2 (Juana Christina von Stein: Was hinter Baudelaires Ästhetik des Bösen steckt.)
https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article168206736/Was-hinter-Baudelaires-Aesthetik-des-Boesen-steckt.html.

War die Benjaminsche Zuschreibung (Großstadtdichter) noch eher lächerlich, ist
die Zuschreibung einer neuen Art von Schönheit, der nichtschönen Schönheit
nämlich, der Kern des neuen Pudels. Nicht nur das alte Genie wird auf dem Altar
der neuen Freiheit geopfert, auch die Schönheit, die bei natürlichen Lebewesen
unvermeidlich nach gewissen Normgrößen gebaut sein muß, wird nun
„erweitert.“ Sie wird dem freien Belieben des Betrachters, seiner Phantasie und
Zuschreibungsmacht ausgeliefert. Damit sanktionierte Baudelaire bereits die
„Frauenschönheit“ der späteren kubistischen Malerei als wirkliche Schönheit,
womit er als Prophet in eigener Sache und „Gründungsvater“ der neuen
Schönheit, der nicht-mehr-schönen Schönheit, anerkennungsfähig wurde.

Die Widersprüche dieses „Ideals“ sind Legion, sie wurden bereits erörtert. Daß
sie beim Thema weibliche Schönheit besonders grell bemerkbar werden, ist
erklärbar: Natur und Kultur vermischen sich untrennbar, wenn schöne
Menschen erscheinen und beurteilt werden.

Die Kuratoren und Juroren der nationalen, regionalen und internationalen
Frauen-Schönheitswettbewerbe würden die Unterstellung, schöne Frauen seien
nichts als Ansichtssache, entschieden zurückweisen. Das mittlerweile schon
postmoderne Paradigma der „ästhetischen Moderne“ hat die Herren der
Schöpfung offensichtlich noch nicht erreicht. Zwar ist die jährlich gewählte Miss
World nur eine schöne Frau unter vielen anderen Schönen, aber die Beurteiler
sind der wohlbegründeten Ansicht, es sei möglich, unter den Schönen die
Allerschönste herauszufinden.

Diese in der westlichen Welt heute noch als normal empfundene Einstellung
beruft sich demnach auf keine Ästhetik, die Schönheit zur Ansichtssache erklärt.
Sie folgt der vormodernen Ästhetik Kants und seiner Vorgänger bis zurück zu
Plato, sieht man chronologisch von Schopenhauer ab, dessen Ästhetik noch in
der Mitte des 19. Jahrhundert die platonische der Antike und die mathematische
Musikästhetik des Pythagoras restaurieren wollte.

Es gibt – beinahe ist es schon peinlich (in postmodern-modernen Zeiten), daran
zu erinnern – im Herrschaftsgebiet des Naturschönen, und ohne dieses gäbe es
keine schönen Frauen, ein Normideal für viele Arten und Gattungen. An dieses
reale Ideal halten sich auch unsere Blicke auf Frauen, was keineswegs nicht
ausschließt, daß der individuelle Blick männlicher (auch weiblicher) Menschen
Varianten und Favoriten unterscheidet, – das Ideal ist nicht knauserig.

Es ist auch keine Maschine, kein „Programm“ und keine „Simulation“, sondern
eine lebendige Quelle, die, wie schon erwähnt, ideale Relationen zwischen
Inhalt, Form und Material enthält. Und zwar „immerfort“ und auch noch in sehr
verschiedenen Kulturen und Epochen nach deren Subprinzipien spezifiziert und
individualisiert, wie nicht zuletzt die Epochen der vormodernen Kunstmalerei
beweisen. Picassos Bordellfrauen von Algier haben dazu einen nur
halbseidenen Beitrag geliefert. Seine vielköpfigen Frauen aber gar keinen, sie
wurden mit der falschen Brille moderner Kunstmalerei gesichtet.

Wäre es Baudelaire gelungen, einen klassischen Schönheitsblick zu
verinnerlichen, etwa als Flaneur im Louvre, hätte er über einen klaren und
wohlbegründeten Unterschied zwischen der erreichbaren klassischen und der
unerreichbaren modernen Schönheit der „ästhetischen Moderne“ verfügt.
Freilich hätte selbst der Louvre ihm dazu nicht verhelfen können, wenn er an
den „überzeitlichen“ Schönheiten der vormodernen Statuen und Frauenbilder
mit flüchtigem Flaneurblick vorbeigeilt wäre. Eile mit Weile, Flanieren ist zwar
modern, aber der Güter höchstes nicht.

VII. Revolte
Wenn die Suche nach dem Neuen durch neue Werke, Baudelaires Ideal gemäß,
„unabschließbar“ ist, weil stets noch ein anderes und weiteres Neues zu
entdecken ist, kann diese Suche auch nicht mehr durch einen bestimmten
Gegenstands- und Geschmacksbereich einschließbar sein. Nun kann und muß
Kunst in Gebieten, die in der Vormoderne ausgeschlossen waren, weil sie die
Normen der Ideale verletzten, auf Suche gehen, nach Baudelaire: im Hässlichen,
im Bösen, im Zerfallenen und im Banalen. Das „Prinzip“ Freiheit verlangt eine
Revolution: Übergang der ästhetischen Vormoderne in „ästhetische Moderne.“

Ein Übergang und ein Suchen, das den Schönheitsbegriff nicht aufhebe oder
vergleichgültige, sondern „erweitere“. Die „erweiterte Kunstschönheit“ ist
demnach Baudelaires Gründerintention, keineswegs die Austreibung des
Schönen aus der Kunst. Denn diese fand, schreibt die Interpretin Baudelaires,
„erst später statt, und auch nicht in der Literatur – man kann sich in jedem
Museum für moderne Kunst beim Betrachten von Urinalen, Fettecken oder
Tierkadavern davon überzeugen.“ 3

Daß Erweiterung ohne Austreibung möglich sein muß, liegt schon im
unbegrenzbaren Angebot, das der künstlerischen Suche nach dem Neuen
zugänglich wurde. Doch sucht kein Künstler ohne Absicht, und selbst wenn er
sich auf Zufälligkeitspiele (Cage) zurückzieht oder gar das normale Würfelspiel
als neues Kunstwerk entdeckt, wird ihm niemand mehr als geschmacklosen
Finder anklagen: Die grenzenlose Erweiterung der Inhalte und Formen setzt
eine gleichgeartete Erweiterung des Kunstgeschmacks voraus. Und beide
können einander nur durch Hypertoleranz tragen und ertragen.

Dennoch erhebt sich der Verdacht, zwischen Erweiterung und Austreibung
könnte ein nur schmaler, ein vielleicht unauffindbarer Grat liegen. Jede
Erweiterung suche letztlich doch die Austreibung, und jede Austreibung wird
durch eine Erweiterung vorbereitet. Und da dieser Übergang – nun schon
innerhalb der „ästhetischen Moderne“ – ohnehin nicht verbietbar oder auch nur
steuerbar wäre, weil die freigesetzte Freiheit der Kunst jeden Eingriff durch
kunstfremde Mächte ausschließt, wäre es auch völlig gleichgültig, wo die
Erweiterung aufhört und wo die Austreibung beginnt.

Der Verdacht liegt nahe, eine unwiderrufliche Vergleichgültigung des
Geschmackes nicht nur, sondern auch seiner gegenständlichen Inhalte und
Formen, könnte bereits im „Suchprinzip“ Baudelaires angelegt sein. Vormodern
galt noch die einst normative Selbstverständlichkeit, Kunst suche nicht im Bösen
nach dem Guten, im Häßlichen nicht nach dem Schönen, im Zerfallenen nicht
nach einem gefügten Gebilde und im Banalen nicht nach einem Höheren oder
Vollkommenen. (In der Dissonanz der Tonkunst nicht nach einer „Sonanz“, die
als neue Konsonanz anzuerkennen sei, weil der traditionell binäre Gegensatz
von Dissonanz und Konsonanz hinfällig geworden sei.)

Modern gilt das genaue Gegenteil, sofern das Wort „genau“ seinen genauen
Sinn nicht schon verloren hat. Das Suchen „im“ Gegenteil des gesetzten Teils,
eines Begriffes, der herkömmlicherweise seine Identität nur behält, wenn er mit
seinem Gegenbegriff nicht verschliffen und durch diese Verschleifung nicht
vernichtet und vergleichgültigt wird, ist vom Verschwinden in sein Gegenteil

3 (Juana Christina von Stein: Was hinter Baudelaires Ästhetik des Bösen steckt.)
https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article168206736/Was-hinter-Baudelaires-Aesthetik-des-Boesen-steckt.html.

kaum zu trennen. Schön ist häßlich und umgekehrt, Gut ist böse und
umgekehrt, Das Zerfallene ist das Geformte und umgekehrt, das Banale ist das
Vollkommene und umgekehrt. Erweiterung oder Austreibung? Eine belanglose,
eine sinnlose Frage.

Indem die neuen Imperative einer Suche im Gegenteil freigegeben und befolgt
werden, hat sich der moderne Künstler die Leiter, auf der der vormoderne
Künstler stand, unter seinen Füßen weggezogen. Dafür scheint er im Gelobten
Land Nietzsches, Jenseits von Gut und Böse, jenseits von Schön und Häßlich
angekommen. Allerdings um einen Preis, der schon den mythischen Sisyphos
nicht erfreute. Der moderne Sisyphos schleppt zwar einen stets neuen, nicht
mehr denselben einen Stein, aber neue Steine erschaffen stets nur neue Gipfel
jenseits aller wirklichen Gebirge

Und damit einen neuen Sisyphos, der Camus absurde Welt entweder bestätigt
oder ihr durch einen irrationalen Sprung zu entkommen versucht, indem er
Gegenwelten erschafft, die seine Sehnsucht nach sinnvollem Handeln, die ihm
die absurde Welt nicht erfüllt, doch noch erfüllt. Voraussetzung dieses
irrationalen Sprunges, so Camus, ist die Opferung des „klaren Verstandes“ –
dessen Absurditätsurteil über die Welt sei vernünftig und stehe unfehlbar fest.
Die Revolte lebt.
Leo Dorner, April 2018