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53 Theismus

1. Neuzeit

Das Wort „Theismus“ umschreibt ein neues Phänomen in der Geschichte der Religionen, das nicht zufällig am Beginn der Neuzeit und nicht zufällig innerhalb bzw. gegen das seit einem Anderthalb-Jahrtausend angestammte Christentum der Kirche(n) mitten in Europa erschien.

Lassen wir die Neuzeit um 1500 beginnen, und verbinden wir mit diesem Beginn sowohl die italienische Renaissance wie die lutherische Reformation, finden wir uns in der Inkubationsepoche eines Kirchen- und Glaubenskonfliktes, der seitdem von keinem größeren überboten wurde. Ein dreißigjähriger Religionskrieg der „Christenheit“ forderte das Opfer von Millionen Menschen, deren Existenz und Leben vernichtet wurde. Ein Religionskrieg, der als Gottesurteil erfahren und vollzogen wurde, und der dennoch zu einem klar erkennbaren Urteilsspruch nicht führen sollte. Oder doch?

War die Entstehung eines europäischen Theismus gleichsam ein Urteilsspruch zur Seite und unter vorgehaltener Hand, weil einer „von Angesicht zu Angesicht“ öffentlich nicht durchsetzbar gewesen wäre?

Die historische Binsenweisheit, daß eine „Neuzeit“ in die Welt kam, weil ein neuer Geist in die Menschheit eingetreten war, scheint das Kind einer einfältigen Weisheit zu sein. Aber dasselbe Kind weiß auch zu berichten, daß dieser neue Geist einen altgewordenen Geist verabschieden wollte und mußte. Dieser neue Geist hatte einen fundamentalen Verdacht auch und besonders über die angestammten Arten der Religion, in der Welt Europas besonders über die eigene Religion: über die Inhalte und Formen des tradierten Christentums geschöpft.

Auch das Judentum und sogar der Islam kannten oder kennen vergleichbare Neuerungs-Bewegungen, doch offensichtlich ohne jene umfassenden Nachwirkungen, die die Neuzeit auf ihrem europäischen Weg in die Moderne nach sich zog. Im geologischen Vergleich gesprochen: Statt eines oder einiger Nachbeben, haben wir es in der Geschichte der Ersten Welt seither mit einem Dauerbeben zu tun, unter dem Himmel und Erde nicht mehr nur sprichwörtlich einzustürzen drohen.

Die nächste historische Binsenweisheit, daß der europaweite Religionskrieg des 17. Jahrhunderts nicht das einzige Signum der großen Zeitenwende war, muß gleichfalls mit keinem Einspruch rechnen: Zu den religiösen Verwerfungen kamen unzählige weitere Faktoren und Zeichen sukzessive hinzu: neue politische Prinzipien und Organisationsformen, neue Entwicklungen der Künste und vor allem: neue Wissenschaften, die das bisherige Bild von Welt und Menschheit radikal umgestalteten.

Eine kaum überschaubare Summe an Veränderungen, denen die damaligen Richtungen des Christentums in aller Regel nicht mit adäquatem Verständnis, sondern mit dem beharrendem Verhalten einer unverrückbaren Identität begegneten. Mag sich die Welt (auf Teufel komm‘ raus) verändern, Kirche und Glauben sollten auf unveränderten Fundamenten unverändert bestehen bleiben. Die Anläufe des Fürsten dieser Welt würden die Ecclesia sancta aeterna niemals verschlingen.

II. Kirche(n) gegen Deismus und Theismus, Pantheismus und Atheismus.

Behaupteten allerdings mehrfach geteilte und tödlich verfeindete Kirchen aufgrund mehrfach geteilter Konfessionen des christlichen Glaubens, die sich über dessen wahren Vollzug unversöhnlich verfeindet hatten. An der neuzeitlichen Ratlosigkeit der Kirche(n) und ihrer Konfessionen bezüglich ihrer fundamentalen Streitfragen hat sich bis heute wenig bis nichts verändert. Weder das katholische Aggiornamento von 1956 noch das totale Appeasement der protestantischen Konfessionen an die Ideologien des jeweiligen Zeitgeistes haben geholfen. Alle Konfessionen des Christentums erscheinen heute wie aus der Zeit gefallene Burgruinen.

Was mag nun zur „Erfindung“ gleich mehrerer neuer Lehren über den „einen Gott“ geführt haben, obwohl doch Altes und Neues Testament (und ein halbes Jahrtausend später der Koran) die monotheistische Gotteslehre für ausdrücklich vollendet erklärt hatten? Drei Offenbarungen Gottes und ebenso viele monotheistische Religionen sollten doch genügen, um das Wesen Gottes unter den Menschen ein für allemal geklärt zu haben. Auf jeden Fall für deren Gläubige, auch wenn diese durch Konfessionskonflikte nicht immer einer Meinung über Wesen und Geschichte ihres Gottes unter Ihresgleichen waren und sind. Und zudem Milliarden Menschen in der asiatischen und übrigen außereuropäischen Welt wiederum eigenen Gottesvorstellungen anhingen und vor wie nach anhängen.

Offensichtlich war der Neue Geist der Neuen Zeit, den Europa ausbrütete, mit den bisherigen Vorstellungen des einen Gottes unzufrieden. Deismus und Theismus, Pantheismus und Atheismus, diese vier, denen sich zahlreiche Vermischungen und eklektische Synthesen anfügen lassen, stehen für ein Panorama an Glaubenslehren und Theologien, das innerhalb der Religionsgeschichte der Menschheit seinesgleichen sucht. (Allenfalls in der synkretistischen Religionskultur der späten Antike lassen sich vergleichbare Entwicklungen beobachten.)

Da der Neue Geist völlig neue Fragen an die unübersteigbaren Letztinstanzen des Menschen stellte – an Gott, Welt und Mensch – mußten diese Fragen auch Antworten erhalten, die über das Pouvoir der bisherigen Religionen und Theologien hinausgingen. Mit der Forderung nach völlig neuen Antworten mußten die bisher allein dominierenden Fragen- und Antwortgeber jedoch ihre Überforderung entweder bekennen, oder sie mußten den Neuen Geist als gleichsam aus der Spur laufenden Geist göttlicher Vorsehung ablehnen und bekämpfen. Die zahllosen Foltermorde an Denkern und Wissenschaftlern, die sich beispielsweise dem neuen heliozentrischen Weltbild verschrieben hatten, gegen das die Kirchen ihr mächtiges (als göttlich geglaubtes) Veto eingelegt hatten, sind unvergeßbar in den Archiven Europas aufbewahrt.

Der neue Geist wollte sein neues Fragen über die zentrale Trias von Gott, Welt und Mensch nicht mehr innerhalb der Grenzen des tradierten Glaubens einschließen lassen. Teils waren diese Grenzen bereits durch die Meinungsverschiedenheiten und Kämpfe der verfeindeten christlichen Konfessionen brüchig geworden: kaum ein Glaubensdogma, zu dem man nicht wenigstens zwei verschiedene Deutungen und Meinungen vorfand. Teils wußte der neue Geist völlig neue Wege und Begriffe zu finden, um den unumkehrbaren Anstoß des „Neuen“ nicht mehr aus den Augen zu verlieren. Als wollte Europa zu einem neuen und völlig unbekannten Kontinent aufbrechen.

Kein (böses) Wunder daher, daß die Religionen, in Europa speziell die Kirchen der drei maßgebenden christlichen Konfessionen, nach und nach ihre durch Jahrhunderte angestammte Autorität in den Fragen über Gott, Mensch und Welt verloren. Noch weniger verwunderlich, daß die Frage nach der Möglichkeit oder Wirklichkeit eines persönlichen Gottes auf neuem Gelände, gleichsam zum ersten Mal gestellt wurde.

Diese Person und deren Existenz, in den monotheistischen Religionen mit prächtigen und zumeist superpotenten Attributen versehen, war entweder als solitär-einzigartige oder wie im Christentum als nicht weniger einzigartig trinitarische (dreieinige) Person beglaubigt, durch Heilige Schriften garantiert und für alle Gläubigen sakrosankt festgeschrieben.

III. Auf dem Weg zur neuen Religion „Evolution“.

Und da in keiner der monotheistischen Religionen eine neue religiöse Gottes-Offenbarung zu erwarten war (die Abgeschlossenheit der historischen Offenbarungen ist substantieller Teil ihrer Botschaft) konnten und mußten die neuen Fragen und Antworten „radikal“ ausfallen, neu und niegewesen, überraschend und kühn, mit einem Wort und positiv formuliert: „innovativ.“

Oder negativ formuliert: als sacrilegia antisacra, denn die entchristlichte Vernunft des Menschen habe eine tabula rasa für eine gänzlich neue Theologie und Religion geschaffen, die nicht die Anerkennung der traditionellen Theologien finden könne. Schlagend ersichtlich schon daran, daß die neue Theologie jederzeit in ihr radikales Gegenteil, in eine atheistische Anti-Theologie, umstürzen konnte. Wurden anfangs die Aussagen der Schriften nur bezüglich einer erkennbaren Personalität Gottes in Frage gestellt, wurde schon bald die Existenz Gottes überhaupt in radikalen Zweifel gezogen und verneint, – womit sich auch die Frage der Erkennbarkeit Gottes erübrigt hatte.

Und sollte der Atheismus die Thesen und Hypothesen von Deismus, Theismus und Pantheismus erfolgreich widerlegt haben, lohnte es sich tatsächlich nicht (mehr), deren Vorschläge zur Personfrage Gottes neuerlich zu erörtern.

Doch weil die Annahme, der Atheismus habe gesiegt, in Europa und der Ersten Welt mit dem Siegeszug des globalen Kommunismus für Milliarden Menschen selbstverständlicher (Nicht)Glaube wurde, ist ein heutiges Verständnis der neuen Theologien der ersten Aufklärungsepoche schwierig geworden.

Obwohl der Kommunismus mittlerweile als ökonomische Idee nur noch in einigen Ländern als politisch-ökonomische Macht wirksam ist, blieb doch die Wäsche des Gehirns im „Denken“ nachhaltiger und unheilbarer haften als der Verlust der politischen Macht im „Sein“, das nach marxistischer Doktrin alles Denken der Menschheit bestimmt. (Obwohl die Ideologie des Marxismus verschwindet, wirkt das Ideologische seines Denkens noch nach. Auch im Denken der EU-Eliten, denen die religionslose Religion von Atheismus und Agnostik lieber ist, als eine Rückkehr in die traditionellen Konfessionen des Christentums. Eine weltgeschichtliche Pattsituation am Beginn des 21. Jahrhunderts, das seine dunklen Schatten vorauswirft.)

Während der Deismus der Aufklärung die Personfrage Gottes verabschiedete, denn nur ein Wesen überhaupt, allenfalls noch als „göttliches Wesen“ genannt, sollte über „allen Wassern“ dieser Welt und Menschheit „schweben“, versuchte der Theismus in mehrfacher Weise an den biblischen Gott von Kirche(n) und Theologien anzuknüpfen.

Indes der Pantheismus ein göttliches Wesen propagierte, das nicht mehr über allen Wassern“ und Welten teilnahmslos und dennoch irgendwie wirksam „schweben“ sollte, sondern – wie ein Chamäleon – mit den Veränderungen der natürlichen und kulturellen Welten der Menschheit mitwandern und sich mitverändern sollte. Und als Produkt des jeweiligen Weltzustandes mußte sich dieser Gott ab Mitte des 19. Jahrhunderts, als sich die Lehren Darwins durchzusetzen begannen, zwangsläufig als („ewiger“) Mitläufer der Evolution zu erkennen geben.

Damit erhielten Atheismus und Agnostizismus, die sich gleichfalls im 19. Jahrhundert durchzusetzen begannen, jenes caput mortuum eines gottlosen Schöpfergottes von Welt und Menschheit, auf das sie offensichtlich zusteuern mußten. „Die Evolution“, mittlerweile auch in allen nichtbiologischen Welten als fundamentales Weltproduktionsprinzip wissenschaftlich anerkannt, blieb als einzig noch anerkennungsfähige Synthese von Deismus und Pantheismus zurück: Sie ist nun unser aller Herrin und höchstes Gut.

Eine merkwürdige Synthese, keine, die sich nochmals um philosophische Begründung bemühen mußte und muß, – sie gilt jetzt als wissenschaftlich erwiesene „Tatsache“. Und die Abdankung von Deismus und Pantheismus in den Revieren der modernen Philosophie folgte wie das Amen im Gebet.

IV. Von Leibniz zu Lessing und Kant

Als der frühe Deismus noch ungestört lebte und wirkte, etwa bei Leibniz als Konsequenz einer Monadologie, die auch mit der christlichen Religion – wenigstens durch Analogien – verwandt war, mußte man sich um die Personalfrage Gottes noch keine Gedanken machen.

Als alles wissende und alles schaffende oberste Monade hatte Gott den Menschen als Persönlichkeit erschaffen. Als sein Ebenbild, – eine für bewiesen geltende Tatsache, weil der Mensch seinem Schöpfer zwar nicht an Wissen und Macht gleich, doch sehr wohl „gleicher“ war als alle Tiere und Pflanzen und sonstige Welten des Universums. Der Unterscheid von nur „vorstellenden“ (repräsentierenden) Monaden einerseits und bewußt erkennenden und handelnden Monaden andererseits galt als unhintergehbares Axiom einer Weltordnung, der als bester aller möglichen Welten eingeordnet zu sein, jeder Mensch wenigstens unbewußt bewußt sei.

Wessen Persönlichkeit Eigentum und Produkt eines unerschaffenen Gottes war, dessen Deismus war nur als persönlicher möglich. Er ließ sich, wie auch durch Leibniz‘ persönliches Leben belegt, geradezu nonchalant mit dem in Schwierigkeiten geratenen Personbegriff Gottes in den christlichen Konfessionen verbinden. (Die Großmütigkeit, mit der Leibniz‘ Deismus über die Katastrophe des christlichen Religionskrieges mitten in Europa hinwegging, erstaunt noch heute.)

Später freilich, nach der Kantischen Wende, fiel der Deismus à la Leibniz gleichsam in das Loch eines Vakuums, weil ihn kein monadologischer Boden mehr trug. Der Deismus wurde eine Domäne französischer und vor allem englischer Aufklärer, die immer schon mehr mit den neuen Wissenschaften als mit den altgewordenen philosophischen Begriffen von Gott, Welt und Mensch sympathisierten.

Leibniz‘ Deismus konnte noch Theismus genannt werden, nach Kant war diese Gleichsetzung unmöglich geworden. (Und daß das säkulare Ende des Dreißigjährigen Religionskrieges sein Scherflein zu dieser irreversiblen Scheidung beigetragen haben muß, darf als beweisunnötig unterstellt werden.)

Nach Leibniz, gegen Ende des 17. Jahrhunderts, wird den Deisten vorgeworfen, sie seien eigentlich Theisten, solche nämlich, die einen personalen Gott und dessen übernatürliches Wirken leugnen. Doch diesem terminologischen Verwechslungsspiel bereitete Kant ein historisch wirksames Ende. Sein später berühmtes Bonmot wagte zu verkünden: »Der Deist glaube einen Gott, der Theist aber einen lebendigen Gott«.

Die Deisten kennten lediglich ein Urwesen als oberste Ursache und setzten dieses mit dem wirklich wirkenden Gott gleich, ihnen fehle noch ein wirklich vernünftiger Begriff Gottes, aus dem ein vernünftiges Wirken Gottes in der Welt des (moralischen) Menschen hervorgehe.

Das verbindlich Gesetzliche an allen moralischen Gesetzen sei ohne moralischen Welturheber weder denkbar noch verwirklichbar. Man sollte meinen, der Dreieinige Gott des Christentums oder doch wenigstens einige Analogien mit diesem hätten die Kritik der (nach-leibnizischen) Theisten am Deismus angeregt. Aber das genaue Gegenteil war der Fall: in der kantischen Epoche wurde der neue Theismus vor allem in England durch den immer geschichtsmächtiger werdenden Atheismus angeregt. (Weshalb es auch schien, als wäre der neue Theismus so kulant oder schon so (vernunft-)mächtig, innerhalb seines personalen Gottes auch einen dreieinigen Gott zu genehmigen und für möglich zu halten. Der Theismus schien tauglich, eine zeitgemäße (rationale) Theologie des Dreieinigen Gottes geben zu können.

(Einzig Lessing folgte dieser Spur; in seinem aufklärerischen Denken erschien die Trinität Gottes als Vernunftbegriff Gottes. Dieser habe sich allerdings noch nicht durchgesetzt und werde sich auch durch künftige Bemühungen kommender Aufklärungs-Philosophien nicht durchsetzen.

Denn nur durch die ganze künftige Geschichte der Menschheit könne das Ziel einer auf Vernunftoffenbarung gründenden Menschheitsreligion erreicht werden. Daß auch diese Variante der Aufklärung (sowenig wie jene von Reimarus, Wolff und Kant) nicht das Wohlwollen der christlichen Kirchen, Konfessionen und Theologien finden konnte, davon legen die legendären „Anti-Goezes“ von Lessing und seiner Fraktion bis heute ein beredtes Zeugnis ab. Später folgte vor allem Hegel den Spuren Lessings, doch blieb auch seiner spekulativen Philosophie verwehrt, in den Rang einer neuen Theologie eines vernunftgeborenen Christentums aufzusteigen zu können.)

V. Theismus versus Atheismus

Obwohl der Theist als direkte Negation des Atheisten die theologische Bühne betrat, hing ihm seine Vorgeschichte als aufklärerischer Deist noch nach. Auch der Theismus konnte sich nicht als neue führende Leittheologie durchsetzen. (Heute ist es bereits unmöglich geworden, auch nur kümmerliche Restdiskussionen über Gott und Gottesbegriffe im Medium öffentlicher Publikationsorgane zu führen.)

Obwohl die Theisten eigentlich dem Gott der christlich-kirchlichen Theologen zu Hilfe eilen wollten, gewannen sie nicht die Gegenliebe der christlich-kirchlichen Theologen. Die Theisten blieben verdächtig, lediglich als verkappte Deisten zu argumentieren.

Gegen Hume argumentierte Shaftesbury, daß der Theismus die Grundlage aller Religionen gewesen sei, er habe sich mit dem Polytheismus gelegentlich abgewechselt, ohne deshalb immer „besser“ gewesen zu sein als dieser. Doch im Kampf gegen den aktuellen („wissenschaftlichen“) Atheismus, der den Zufall als Prinzip von Welt und Weltschöpfung behaupte, sei einzig der Theismus als rationaler Gegner berufen und befähigt, in den Ring zu steigen.

Doch als Shaftesbury mit Leibniz‘ weisem Schöpfer der besten aller Welten argumentierte, erhob Hume den Vorwurf einer illegitimen Vermenschlichung Gottes, womit die Personalfrage wieder ins Zentrum der theologischen Diskussion der Aufklärungsepoche rückte. Einen weisen Gott als Schöpfer und Bewahrer seiner Schöpfung anzunehmen, sei selbst weise und klug, führe aber die aufgeklärte theologische Vernunft in einen Zirkel: Sie setze als bewiesen voraus, was ihre These immer nur voraussetze: Einen „Creator and Monarch of the universe“, der den Zufall allenfalls als peripheres Begleitprinzip zulasse.

Aus heutiger Sicht hat sich ein Atheismus, der sich (mit oder ohne Darwin) für den „Zufall als Prinzip der Welt“ stark macht, über sich und die Grundlegung und Reichweite der Kategorie „Zufall“ noch nicht zureichend schlau gemacht. Er fällt schon dem ersten Versuch einer Selbstanwendung seines Prinzips auf seine eigene Position zum Opfer. Denn auch sein Weltglaube wäre nichts als zufällig und dadurch ein mehr als hinfälliger und nicht belangbarer Zufallsglaube. Ganz abgesehen davon, daß er sich über die moralischen Konsequenzen seines argumentlosen Arguments nicht schlau genug gemacht hat. „Schlau genug“ lediglich für die Verteidigung eines kollektiven Masochismus, dem die mögliche Selbstzerstörung der Menschheit, mit oder ohne Atombomben, nicht mehr als ein Achselzucken erweckt.

Obwohl Kant bekanntlich das Gebet als praktizierenden Aberglauben dequalifiziert, scheint doch sein „moralischer Welturheber“ einer eigenen Ichhaftigkeit nicht entbehren zu können. Widrigenfalls wäre Kants Vernunftglaube selbst nur eine andere Art von Aberglauben. Denn sein postuliertes Subjekt alias „Urheber“ von moralischen Gesetzen, die Kant gleichwie ein zweiter Moses zu empfangen scheint, setzt zwischen der Person der postulatgläubigen Kant und jenem „Urheber“ eine personale Relation, auch wenn sich diese nicht mehr als Ich-Du-Beziehung realisiert haben mag.

Nach den „offiziellen“ Äußerungen seiner Schriften beschränkt sich der personale Vollzug auf den der Gesetze und darüber hinaus in der Errichtung einer Ethik als gleichsam säkularem Altar, auf dem die Vollzugspflicht rational begründet wird. Wozu auch gehörte, daß Jesus nur als Objekt des Dreieinigen Gottes, als „Lehrer des Evangelii“, nicht als eigenes Subjekt desselben Urheber-Subjekts anerkannt wird. Kants Moralreligion öffnet immerhin eine Tür zwischen dem Theismus der Aufklärung und dem Trinitarismus des Kirchenglaubens.

Dessen trinitarischer Gott läßt jeden „wahren Monotheisten“ allerdings bis heute an eine polytheistisch verfaßte Gottheit denken – sei es im Islam, sei es im Judentum oder sei es auch in jedem modernen Theisten, der versucht, über den Schatten seines durch die säkulare Gesellschaft unterbewußt eingeübten Agnostizismus zu springen. (Der Einführung moralischer Gesetze könne keine Beratung differenter Gottessubjekte vorausgegangen sein.) Dennoch oder deshalb müssen sich alle trinitarischen Theisten als nahe oder entferntere Mitglieder des glaubenden Christentums bekennen, auch wenn sie inständig wünschen, darüber nicht mit bohrenden Genauigkeitsfragen belästigt zu werden.

Eine trinitarische Prozess-Identität Gottes zu denken und – gemäß Offenbarungsschriften – zu glauben, widerstrebt der Vernunft aller strikten monotheistischen Theisten. Sie verharren im Postulat einer monokausalen Ich-Identität Gottes, auch wenn sie sich selbst darüber nicht mit näheren Fragen belästigen möchten. (Der Identitätswechsel zwischen Deismus und Theismus erweist sich im Rückblick als nicht zufälliges theologisches Schwanken und Suchen.)

Kants aufgeklärtes Axiom, für vernünftige Menschen müsse ein vernünftiger Gott voraussetzbar sein, hätte Luther als eine Ausgeburt des Teufels erklärt. Dennoch sind Gottesbeweise für Kant bekanntlich kein Thema, keine vernünftige Annahme, und trotzdem wollte sein Theismus nicht als untervernünftig angesehen werden. Der Vernunft sei ein Glauben (Postulieren) zumutbar, wenn sich alle Vernunftgründe (und -beweise)für das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele als unhaltbar erweisen.

Er konnte somit Humes Einwand zustimmen und dennoch dessen atheistische Folgerungen ablehnen: Wer seinen geglaubten Gott, den er von seiner Religion übernommen habe, mit einer passenden Personalität ausstatte, der müsse ihn nach dem Bilde des Menschen, nach dessen Personalität denken und definieren. Zugleich wissend, daß dieses Unterfangen unhaltbar ist.

Denn ein Gott, der Urheber und Erhalter des Ganzen aller Welt(en) und aller Menschen sei oder sein solle, dem könne ein ins Göttliche erweiterter menschlicher Geist niemals zureichen, da alles „Göttliche“ immer nur nach dem Maßen des Menschlichen vorgestellt und gedacht werden muß.

Mit (ernüchtertem) Verstand formuliert: Die Kausalität unserer (menschlichen) Freiheit ist allezeit endlich und separativ. Wenn dieselbe daher eine „ganz andere“ Kausalität Gottes annehme, dann immer nur hypothetisch, immer nur in der Parenthese der Möglichkeit einer möglichen Unmöglichkeit. (Die Axiome und Schlüsse der Leibniz’schen Philosophie über eine monadologisch erkennbare Kausalität Gottes waren bereits außer Kraft gesetzt. Lessings Vernunft mußte jene von Leibniz transzendieren.)

VI. Voltaire und die Religion(en) der Revolution

Für Voltaire war der Theismus eine „religion pure“, – eine Bindung an Gott (religio) ohne organisierte Kirche, ohne Kult, auch gänzlich ohne Dogmen und Hierarchien. Und diese Religion, der es „natürlich“ sei, sich gegen die bisherigen (Offenbarungs-) Religionen tolerant zu verhalten, habe dazu umsomehr Anlaß, als sie es gewesen sei, die immer schon in allen Religionen als deren eigentliche Grundreligion präsent war.

Aus dieser rückwärtsgewandten Überzeugung sprach somit zugleich die prophetische, daß die alten Religionen eines Tages das Zeitliche segnen würden: Die Religion der Vernunft wisse den einen und gerechten, den einzig verehrungswürdigen Gott hinter sich. Wie sollte dieser den neuen und doch alt-ewigen Augapfel seines eigenen Wesens vernachlässigen und nicht zur Weltherrschaft führen wollen?

Doch mit dieser Prophetie war sogleich die ungeklärte Frage verknüpft: welche Art von Weltherrschaft soll nun werden, wenn binnen Kurzem die Herrschaft der Kaiser und Könige, der Kirchen und ihrer Gläubigen und Schuldner Geschichte gewesen sein wird? Auf die politische Herrschaftsfrage wußten die bisherigen Konfessionen des Christentums, die allenfalls als vorvernünftige Religion in die Geschichte eingreifen konnten, stets nur wohlfeile und billige Antworten zu geben, – durch gehorsame Anpassung an die je und je herrschenden Arten des Politischen.

Verständlich: Über das Politische hatte das Christentum keine eigene Offenbarung empfangen, es war stets bereit, „dem Kaiser zu geben, was des Kaisers“, Gott aber (nur), was des Gottes sei. Ein Widerspruch, über den sich Generationen von dienstbeflissenen Theologen durch gewandteste Begriffsakrobatik hinweggeholfen hatten, bis eines Tages auch dieser heilige Krug an seinem Brunnen zerbrach. Allzu wohlfeil hatte man Grundsatz „Cuius regioeius religio“ seit 1555 in beiden Richtungen gedeutet, kurzsichtig übersehend, daß es nicht vernunfttauglich ist, den Begriff des Politischen durch entgegengesetzte Begriffe begründen zu wollen. Stets segnete das Religiöse das Politische ab und folgte ihm vertrauensvoll nach. Die jeweils aktuelle politische Obrigkeit genoß den Sanctus der Kirche(n).

Eben diesem Weg konnte Voltaires Vernunftreligion nicht mehr folgen, jetzt schien sie selbst und durch sich selbst bestimmen zu können und bestimmen zu müssen, in welche Richtung welcher Art des Politischen der neue (Vernunft)Same „ausschlagen“ solle. Der Same war gesät, und seine Pflanze mußt nur noch warten, um frei und ohne kirchliche Drangsalierungen zu blühendem neuen Leben aufzusprießen.

(Napoleons Rückkehr in eine Kirche, die seine Segnung zum neuen Kaiser zuließ, wurde dementsprechend ambivalent gedeutet: von den einen als Anpassung der (katholischen) Kirche an den neuen Herrscher der neuen Religion, von den anderen als feige Rückkehr unter die alte kirchliche Fron, die nun sogar noch auf französischem Boden versuche, eine neue Variante des „Heiligen Römischen deutscher Nation“ zu errichten.)

Bei seinem Urteil über das Apolitische der bisherigen Religionen hatte Voltaire allerdings übersehen, daß auch Judentum und Islam in politischen Frage sehr anders „funktionieren“ als das anpassungsfähige Christentum, das stets bereits war, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers, Gott aber nur, was des Gottes sei. Dieser Arbeitsteilung widersprachen die beiden nichtchristlichen monotheistischen Religionen entschieden, im Fall des Judentums um den teuren Preis radikaler Unterdrückung und Verfolgung, im Fall des Islams um den ebenso teuren, aber erfolgreichen Preis einer Eroberung der halben oder doch des dritten Teils der ganzen Welt.

Bereits mitten in der Revolution von 1789 stellte sich allerdings heraus, daß die Revolutionäre in der Religionsfrage uneinig wurden: Der zu begründende neue Staat, die Republik aller befreiten Franzosen würde zerfallen, wenn er nicht (auch) auf die bisherige christliche Religion zurückgreifen könne. Zwar fand das vom Konvent angeordnete und vom schnöden Mitläufer Jacques-Louis Jacques-Louis David organisierte „Fest an das Höchste Wesen“ 1794 statt, aber zwischen Robespierre und Danton und anderen tobten heftige Diskussionen in der Religionsfrage. Besonders auf dem Land hatte die Schließung der Kirchen und das Einschmelzen der Kirchenglocken Widerstand erregt. Später wurden auch die Enteignungen kirchlichen Eigentums wieder zurückgenommen.

Der Optimismus derer, die mit dem strengen Laizismus einer Grande Nation die Avantgarde der Aufklärung übernehmen und in ganz Europas missionieren sollte, erhielt einen ersten Dämpfer. Zuletzt wurde die Religionsfreiheit als nicht nur negative (gegen das Christentum), sondern als zugleich positive (jedermann durfte seine Religion und seinen Glauben wählen und ausüben) durchgesetzt. Natürlich dachte in den Tagen der laizistischen Revolution kein Franzose an künftige Tage, in denen ein zugewanderter Islam diese Freiheit für seine Eroberungsziele ausnützen würde.

Voltaires gutgemeinte These, der Theismus der Aufklärungs-Vernunft wäre in allen Religionen die eigentlich gemeinte und daher ultimative (erste und letzte) Religion gewesen, konnte man später vielleicht noch mit Kant akkordieren, keineswegs jedoch mit Hegel, um von Schopenhauer, Nietzsche und Marx zu schweigen. Und da die Vorläufer des Marxismus bereits in der Pariser Julirevolution von 1830 den neuen kollektiven Ton auch in Frankreich anstimmten, hatte sich die Frage nach einer neuen (Vernunft)Religion für alle Franzosen auch für die laizistische Republik und Restmonarchie der Grande Nation erübrigt.

VII. Epilog und Gegenwart

Kaum noch nötig zu ergänzen, daß sich unter den modernen Philosophien seit Mitte des 19. Jahrhunderts keine mehr findet, die die Nachfolge der vernunftreligiösen Denker der über sich selbst aufgeklärten Aufklärung angetreten hätte. In den „Verfassungen“ der EU – es sind lediglich Verträge ohne Verfassungsrang – findet sich nicht einmal eine verbindliche Nennung des Namens „Gott.“ Aus den Präambeln der EU-Verträge wurde jeder Hinweis auf eine gemeinsame Religion oder einen möglicherweise anzunehmenden Gott gestrichen. Über Gott und Religion spricht man nicht mehr – es sei denn, Ewiggestrige und „Neuzugewanderte“ – wie Millionen Moslems – die auf ihrer angestammt vormodernen Religion beharren und erfahren, daß ihnen schon Voltaires Vernunftreligion unbeschränkte (?) Toleranz gewährt habe.

Die ersten Aufklärer der Vernunftreligion machten mit Christus kurzen Prozeß, aber anders als Pilatus und Juden: Erstens mit einem schon verstorbenen und zweitens mit einem um seine Auferstehung geprellten Christus. Dieser habe nur die Tugendlehre seines Evangeliums verkündet, eine universale Liebesreligion, die ganz ohne Tod und Auferstehung ihres Gründers hätte Weltreligion werden sollen. Aber die eigeninteressierten Nachfolger der jüdischen Priester, nun Priester einer entstehenden Kirche geworden, kamen dazwischen und konstruierten ihren eigenen Prozeß Jesu. In diesem rückte der Kreuzestod Christi in den Mittelpunkt, um alles, was daraus folgen sollte, angefangen mit einer Auferstehung als neuem Mittelpunkt eines neuen Gottesglaubens, den Testaments-Akten der christlichen Religionsgründung beizufügen.

Wenn man den frühchristlichen Streit um die wahre Deutung der Auferstehung und um die wahre Natur des Auferstandenen kennt, (er führte zu jahrhundertelangen Konfessionskriegen ein Jahrtausend vor Inquisition, Luther und Dreißigjährigem Krieg), möchte man dem Prozess Jesu der aufklärerischen Vernunft beinahe zustimmen.

Wenn nur das Resultat dieser Zustimmung nicht zugleich den gewaltsamen Tod des Christentums in seiner bisherigen Gestalt befürworten würde. Außerdem würde diese „rückwirkende“ Zustimmung die Illusion nähren, ohne die Zerwürfnisse unter den ersten Priestern und Bischöfen der neuen Religion wäre die künftige Geschichte der Menschheit (seit dem 2. Jahrhundert nach Christus) von Konflikten, Kriegen und namenlosem Elend und Leid verschont geblieben. Wie dies Voltaires Doktrin offenbar verkündet: dem „Theismus sind Fanatismus und Glaubensstreitigkeiten fremd.“ Die natürliche Religion der Vernunft – sie wäre die vernünftige Religion der natürlichen Vernunft des Menschen gewesen – hätte der Menschheit ganz andere Wege in die Zukunft weisen können. Das Illusionäre dieser fiktiven Doktrin ist offensichtlich.

Vernünfte, die den Gang der realen Geschichte außer sich haben und diesen wie einen Fremdkörper in der Geschichte der Menschheit betrachten, verfügen noch nicht über jene Vernunft, die zu suchen der Menschheit zur Ehre gereicht. Ein Vorwurf, der weder Lessing noch Hegel trifft.

Wie könnte sich überdies Voltaires „einfacher Kult des Herzens“ äußern und gestalten? Er scheint mit größter Selbstverständlichkeit anzunehmen, daß der Vollzug jedem Einzelnen als Einzelnem zu überlassen sei, weil die allgemeine Identität der „Einzelnen“ ohnehin gewährleistet sei: Jeder geht wie jeder andere von einer „gemeinsamen natürlichen Erfahrung“ der natürlichen Vernunftreligion aus: Es ist ein Gott in Dir und über Dir, und dieser ist in allen derselbe und allgegenwärtig wirkend. Und daß es ein guter Gott ist, liegt schon in der Annahme, daß seine Einzelnen Geschöpfe einer guten Vernunft sein müssen, weil sie sonst ihren Gott weder erkennen noch anerkennen könnten.

Somit wäre der Kult der Vernunftreligiösen zugleich unendlich privat und universal. Er kann sich in die verschwiegenste Mystik „verkriechen“ oder in den alltäglichsten Erfahrungen eines divines Bittens und Dankens, Erstaunens und Denkens, Fragens und Antwortens bewegen.

Ein perennierend wiederkehrender Gottesdienst, von einem allgegenwärtigen Letzt-Erkennen begleitet, dem die Letztgegründetheit alles Daseins und alles Erfahrens in Gott kein Geheimnis wäre. Ein reflexiver Allzeitglauben, der mit tiefstem Denken immerfort wechselwirkt.

Nach Ansicht der Aufklärungsvernunft soll sich der theistische Glaube dennoch vor allem „in der Ethik“ erfüllen. Modern gesprochen: das Soziale soll sein Element sein, das tätige Verhältnis in Gemeinschaften sei fundamental. Ein Vernunftdogma, das sich prinzipiell bereits aus der Erkenntnis der Identität aller mit allen ergibt. Und sind alle als Gleiche anerkannt, die an demselben höchsten Gut heiligenden Anteil haben, müssen sie auch ein Interesse haben, jeden und alle vor allem Bösen und Schlechten zu bewahren. (Wofür Voltaires zumeist zynische Dichtungen kein gutes Zeugnis ablegen.)

Die Bürger der Aufklärung bleiben demnach Bürger zweier Welten, sie müssen ein gemeinsames (Welt)Gutes zu erbauen trachten, weshalb sie in die reale Welt des Handelns und Helfens, in eine Welt, „die immer im Argen liegt“, woran auch Kant festhielt, stets wieder zurückkehren. Und mit dieser Welt-Asymmetrie wird der humanitäre Humanismus anerkannt: die Gesunden und Reichen sollen sich der Kranken und Armen annehmen. Kurz: eine Gesamtgesellschaft wird errichtet und tätig, die der Stimme einer „theistischen“ Barmherzigkeit folgt, die von der Stimme der christlichen Barmherzigkeit nicht mehr zu unterscheiden ist.

Leo Dorner Mai 2021