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22 Mohammed und Holocaust

 I.

 

Ob die Erste Welt im sogenannten Karikaturenstreit zu viele oder zu wenige Zugeständnisse an die Zweite (islamische) Welt mache, wird (vor allem) in der Ersten Welt kontrovers diskutiert. Für westliche Multikulturalisten sind Karikaturen, die den Propheten Mohammed als Mentor islamistischer Terrorakte zeigen, ein Affront gegen die Autonomie einer anderen und fremden Kultur und Religion, deren Status sakrosankt gestellt wird; für die Verfechter des in Europa mühsam errungenen Rechtes auf Meinungsfreiheit hingegen wird eben dieses Recht dem Recht auf Religionsausübung gleich und daher ebenso sakrosankt gestellt.

Diese Kollision von demokratischer Meinungsfreiheit, die als universales Recht behauptet wird, und islamischer Religionsautonomie, die als ebensolches Recht behauptet wird, wurde von den islamistischen Strömungen in der islamischen Welt prompt auf einen ultimativen Punkt gebracht: Um die Universalität der „westlichen“ Meinungsfreiheit in Frage zu stellen, wurde deren totale Universalisierung eingefordert.

Und mit der Unmöglichkeit, diese Forderung zu erfüllen, sei bewiesen, daß der Westen doch nur ein westliches Konstrukt von Meinungsfreiheit, keineswegs ein universales und schlechthin allgemeingültiges in Anspruch nehme. Denn wer sich aus Gründen befreiter Meinungsfreiheit erlaube, Mohammed als Anreger des Jihad zu karikieren, der muß auch erlauben, daß der Holocaust karikiert und in der Zweiten Welt ein Wettbewerb über Auschwitz-Karikaturen ausgelobt wird.

Mit dieser Verschärfung der Streitfrage dürfte auch den gutgläubigsten Multikulturalisten der westlichen Welt klar geworden sein, daß der Streit zwischen Meinungs- und Religionsfreiheit anders verläuft, wenn er nicht mehr innerhalb der westlichen Kultur, sondern zwischen westlicher und islamischer Kultur stattfindet.

 Aber just dieses „Innerhalb“ ist problematisch und mehr und mehr inexistent geworden, seitdem die Erste und Zweite Welt nicht mehr als getrennte Welten („Orient und Okzident“) nebeneinander, sondern in der Ersten Welt selbst mit- und ineinander leben. Nun findet die Verschärfung der Kollision von Meinungs- und Religionsfreiheit mitten in der Ersten Welt statt: islamkritische Künstler werden von den Zeloten des Jihad ermordet, der „Mohammed-Karikaturist“ wird von den Rettern der Ehre Mohammeds mit Ermordung bedroht und tätlich angegriffen, er muß unter lebenslänglichen Polizeischutz gestellt werden.

 Karikiert und kritisiert ein westlicher Künstler die christliche oder eine andere Religion, wird dies entweder ignoriert oder durch kluge Rechtssprechung zu einem Ausgleich geführt. Ignoriert, weil man weiß, daß besagter „kritischer Künstler“ auch dann bei seiner Meinung bliebe, wenn er wegen „Beleidigung der religiösen Gefühle anderer“ verurteilt wurde; ausgeglichen, weil alle Beteiligten wissen, daß die westliche Demokratie durch keinen noch so scharf geführten Zwist zwischen Kunst und Religion gefährdet ist.

Der Zusammenhalt der westlichen Gesellschaft wird durch plurale Kultur- und Lebenswelten, die das demokratische Freiheitsprinzip achten und realisieren, nicht gefährdet. Auch eine hyperpluralistisch ausdifferenzierte Kultur kann diese Freiheit nicht bedrohen, im Gegenteil: gelebte Vielfalt ist der Beweis einer gelebten Toleranz, die nicht auf Willkür und Gutdünken (von Fürsten und Scheichs, Päpsten und Imamen, Königen und Diktatoren) sondern auf Recht und Gesetz beruht.

Folglich können unübersehbar viele „Kultur-Stämme“ in der westlichen Welt friedlich nebeneinander leben, wofür sie von jenen in der Zweiten Welt beneidet werden, die hieran ein Ideal erblicken, das sie auch in der islamischen Welt verwirklichen möchten; von jenen aber verachtet werden, die der westlichen Freiheitswelt den Totenschein ausstellen, weil sie gottlos und daher des Teufels sei.

Daß dieses „Modell“ von Freiheit und Toleranz, von säkularem Recht und säkularer Lebenspraxis unlebbar wird, wenn ihr Kernstück „Meinungsfreiheit“ auf eine Kultur und Religion trifft, die ein anderes Verständnis von Freiheit und Toleranz verinnerlicht hat, sollte evident sein. Vom heutigen Islam zu fordern, er möge beispielsweise die Religionsfreiheit (positive und negative) in den Rang eines Verfassungsgesetzes nicht nur erheben, sondern auch rechtstaatlich verwalten, ist nicht weniger unmöglich als die Forderung einzulösen, der Nil solle landeinwärts fließen.

 

II.

 

Es ist nicht Haß oder Propaganda, welche die islamische Welt dazu verführt, sich angegriffen zu erfahren, wenn die westliche Meinungsfreiheit in der islamischen Kultur und Gesellschaft an Einfluß gewinnt. Jene Moslems, die das Wachsen dieses Einflusses begrüßen und fördern, sind (noch) in der Minderheit. Die Mehrheit sucht nach einem anderen Ausweg; entweder auf den globalen Pfaden des – alle drei Welten – terrorisierenden Jihad oder nach einem ebenfalls fundamentalistischen, wenn auch friedlichem Weg, der versucht, Meinungsfreiheit samt Menschenrechten und Demokratie aus den Quellen des Islams abzuleiten und zu rechtfertigen. Ähnlich wie die christlichen Konfessionen von heute in den Quelltexten der christlichen Religion eine Vorwegnahme der durch Vernunft begründeten Menschenrechte zu erblicken glauben.

 Der genannte listige Versuch, die Legitimität der Meinungsfreiheit dadurch in Frage zu stellen, daß deren Verabsolutierung gefordert wird, ist nur einer unter vielen Versuchen, dem Angriff der „Ungläubigen, Zionisten und Kreuzritter“ standzuhalten. Aber zweifellos ein gravierender, weil er mit dem Tabuthema Holocaust die ideologischen Geister der modernen Verfehlung von Freiheit und Demokratie aus den Gräbern ruft.

Andere Versuche nehmen sich der nicht zu leugnenden Nachteile der modernen Freiheitswelt an, ihrer offenkundigen Mängel und Probleme, auf die zu verweisen, die islamische Kultur seit ihrer postosmanischen Kolonisierung durch europäische Mächte virtuos verinnerlicht hat, um von ihren eigenen Problemen und Mängeln abzulenken. Diese sind nicht weniger gravierend als westliche Scheidungsraten oder die Rauschgift- und Vergnügungssucht des modernen Menschen sowie dessen Religions- und Gottlosigkeit. Aber wessen Imame fähig sind, die Erde als Scheibe zu definieren und die Genitalverstümmelung von Frauen als religiöse Pflicht zu lehren, sollten nicht mit dem Finger auf die Kuriositäten der freien Meinungsmeiner und – macher der Ersten Welt zeigen.

 Dennoch argumentieren die religiösen Führer der Zweiten Welt, die in ihrer Kultur mehr als nur religiöse Führer sind, stimmig und kohärent, den Denkwindungen ihres Denk- und Glaubensgebäudes gehorchend, denn andernfalls wäre es nicht zur aktuellen Pattsituation im Konflikt zweier Kulturen gekommen, dessen Asymmetrie mittlerweile die ganze Menschheit bedroht.

 Eine weltgeschichtliche Pattsituation: weil weder die westliche Demokratien-Welt ihre Prinzipien, noch die islamische Welt die ihrigen aufgeben kann, ohne sich in ihr Gegenteil zu verwandeln. Und die Meinung, weltgeschichtliche Pattsituationen könnten nicht ewig bestehen, weil sie sonst nicht weltgeschichtliche wären, tröstet mit einem Trost, der nicht hilft und nicht tröstet.

Daß es sich nicht um eine statische Pattsituation handelt, ist am fortwährenden Umbau der kalifatlos gewordenen islamischen Welt ersichtlich. In ihrer postosmanischen Geschichte wurde und wird beinahe jedes westliche Diktatur- und Monarchiemodell, jede Art von Nationalismus oder Panarabismus mit jeweils begrenzter Verfalls- und Umsturzdauer erprobt –  sogar Militärdiktaturen lassen sich bis heute den vormodernen Stammesgesellschaften der islamischen Welt überstülpen. Diese und andere politische Kuriositäten, Eruptionen und Aufstände, Revolten und „Domino-Prozesse“ sind mehr als ein Indiz dafür, daß sich das Patt bewegt, um die anstehende (asymmetrische) Hängepartie zwischen Erster und Zweiter Welt zu Ende zu bringen.

 Der aktuelle Streit um die Freiheit oder Unmöglichkeit von Meinungsfreiheit ist also eingebettet in ein globales weltgeschichtliches Konfliktfeld, das durchaus als ein „Kampf der Kulturen“ aufgefaßt werden muß, weil in der Tat die Errungenschaften der modernen Freiheitswelt auf dem Spiel stehen. Es handelt sich nicht um einen Streit am Rande oder in einer nur losen Verbindung mit diesem Kampf zweier Kulturen, er kommt aus dem Zentrum des Konflikts.

 Um diesen Kampf zu vermeiden, werden von westlichen Intellektuellen mit eher pazifistischem Background, von islamischen mit eher fundamentalistischer Denkweise, zahlreiche Strategien vorgeschlagen. Ein islamisches Konstrukt wurde bereits erwähnt: da der Islam ohnehin als Erfinder und Garant der Menschenrechte anzusehen sei, müsse die Zweite Welt von der Ersten diesbezüglich weder belehrt noch missioniert werden.

 Das westliche Konstrukt lautet „Anerkennung des Anderen und Fremden“, welches Zauberwort, von Multikulturalisten und Konsensdenkern weltweit ausgeboten, einen dritten Weg in scheinbar auswegloser Sackgassenlage herbeizuzaubern verspricht. Warum beides in der Kernzone des Konflikts widersinnig ist und zu widersinnigen Handlungen führt, davon ist auch die genannte Forderung im aktuellen Karikaturenstreit ein dramatisches Beispiel: die Universalität der Meinungsfreiheit soll als westliche Ideologie desavouiert werden.

 Während das Konzept einer Anerkennung des Anderen und Fremden um jeden Preis offensichtlich bereit ist, die Prinzipien der westlichen Demokratie zu verraten, ist der Versuch, Menschenrechte und demokratische Gewaltenteilung aus den Quellen des Islams abzuleiten, so widersinnig wie der Versuch, das Alte und Neue Testament dafür in den Status von Quelle, Grund und Ursache zu erheben. Wären die Menschenrechte zuerst in der islamischen Welt geboren worden, wäre die Sklaverei zuerst in dieser, nicht in der westlichen Welt bekämpft und besiegt worden. Und wären sie in der vormodernen christlichen Welt geboren worden, wäre die Sklaverei nicht erst im 19. Jahrhundert ins Visier der Menschheit geraten.

 Gerade weil auf der prinzipiellen Ebene des Kulturen-Konflikts keine Synthese, kein Drittes zwischen den konfrontierten Kulturen, kein „Dialog“ als Vermittler und Integrationsinstanz möglich ist, wird der Streit um Weite oder Enge der Meinungsfreiheit auch mit vehementer Heftigkeit und Entschiedenheit geführt oder – von seinen Gegnern und Leugnern – mit Angst und Furcht gescheut, als Produkt einer den Antisemitismus angeblich ablösenden „Islamophobie“ denunziert.

 

III.

 

Der Streit um die Meinungsfreiheit, um deren Universalität oder Relativität, ist somit eingebettet in eine lange Reihe aktueller Streitfragen um die grundlegenden Prinzipien der einander konfrontierten Kulturen. Streitfragen, die nicht ignoriert und auch nicht – etwa „dialogisch“ – ausgeglichen werden können. Ist daher auf dieser grundlegenden Ebene keine Synthese der konfrontierten Kulturen möglich, kann nur die Überwindung der einen durch die andere möglich sein.

Im anzunehmenden Fall, daß die Prinzipien der Ersten Welt sich auch in der Zweiten durchsetzen werden, bedeutet dies natürlich keineswegs das künftige Verschwinden aller kulturellen Eigenheiten der islamischen Welt.

Die Einführung der Demokratie hat weder die italienische oder die schwedische, weder die spanische oder japanische, weder die brasilianische oder griechische Kultur beseitigt. Und sogar die deutsche Kultur war fähig, freilich erst nach einer durch sie verursachten Menschheits-Katastrophe, Geist und Gesetz der Demokratie zu verstehen und anzunehmen.

Man lasse sich also nicht täuschen: was untrennbar zusammengehört, das ist dennoch radikal unterschieden: hier das Reich der grundlegenden Prinzipien, dort das Reich der alltäglich gelebten Kultur-Traditionen differenter Gesellschaften. Und man lasse sich auch realpolitisch nicht täuschen durch die immer wieder unterstellte Möglichkeit eines dritten Prinzips, etwa einer die beiden Kulturen als gleichberechtigte Prinzipien-Mächte integrierenden Dialog-Macht, womöglich unter der Regie von Vatikan oder Mekka.

Auch die im heutigen Europa (noch) real existierenden neun Monarchien sind nicht das, wonach jene fahnden, die das Modell des dritten Weges verfolgen. Denn es sind „Monarchien“, repräsentierende Anführungszeichen-Monarchien –  ein historisches Luxuskleid der europäischen Geschichte, in dessen feierlicher vormoderner Tracht sich zu zeigen und anzuschauen als volkskulturelle Eigenheit, als souverän gelebte Meinungsfreiheit vom Geist der modernen Demokratie geachtet wird.

 Noch ein aktuelles Beispiel zur Problematik eines dritten Weges: In den USA erfahren sich immigrierte Moslems schon nach wenigen Jahren sowohl als Amerikaner wie als eingewanderte Iraner, Türken, Palästinenser usf., wie auch weiterhin als Araber und Iraner, Inder, Iren, Juden usf. Sie erfahren sich und leben praktisch und weithin ohne kulturelle Schizophrenie als Bürger zweier kultureller Identitäten, nachdem ihre Integration in Geist und Gesetz der amerikanischen Demokratie vollzogen wurde.

Dies kann wohl nicht an der Größe des Landes liegen, wie in Deutschland gern unterstellt wird, vermutlich weil hierzulande von moslemischen Immigranten ständig beklagt wird, daß sie es wegen einer angeblichen „Arroganz der Deutschen“ nicht schafften, in Deutschland mit doppelter Identität zu leben. An der Größe des Landes kann es nicht liegen, wie Rußland beweist, das beinahe doppelt so groß wie die USA geraten ist,  aber mit einer katastrophal verlaufenden Geschichte im aktuellen Gepäck und mit einem noch weiten und gefährdeten Weg zur Demokratie vor sich.

 

IV.

 

Die Proteste der islamischen Kultur gegen die Mohammed-Karikaturen eines dänischen Künstlers richteten sich zuerst gegen die Zeitung, die sie veröffentlichte, dann gegen die politische Führung und Nation Dänemarks, dann gegen ganz Europa und schlußendlich gegen den „Westen“ insgesamt als Hort der Ungläubigen und säkular gewordenen Kreuzritter, die der islamischen Welt eine weitere Beleidigung und Demütigung aufgebürdet hätten.

Schon an dieser Verlaufskurve der Anklage wurde die asymmetrische Differenz zwischen Erster und Zweiter Welt greifbar: Was für den Westen ein individuelles Recht ist, ein Recht individueller Freiheit, kann in den Augen der islamischen Kultur nur im Auftrag kollektiver Mächte, größerer oder kleinerer oder deren gemeinsamer Verschwörung, geschehen sein.

Als die kollektive Anklage nicht fruchtete, weil die Repräsentanten der allgemeinen Mächte (von der UNO bis zur Zeitungsredaktion), die einer abscheulichen Religionsbeleidigung angeklagt wurden, sich nicht für schuldig befinden konnten, jener (Künstler) aber, der „schuldig“ war, noch nicht als Ausgeburt des Teufels und ermordungswürdiges Opfer des Jihad erkannt war, versuchte man das Prinzip der westlichen Lehre und Praxis von individueller Meinungsfreiheit auf deren eigenstem Gebiet, dem der Gründe und Argumente anzugreifen.

Aber bevor dies geschah, waren nicht weniger aufschlußreiche Reaktionen des Westens auf die aggressiven Reaktionen des „Ostens“ zu beobachten. Westliche Journalisten, sonst bereit, bei jedem Künstlerquark das unersetzlich Subversive und unüberbietbar „Aufklärerische“ kritischer Kunst zu preisen, waren diesmal der Ansicht, daß die unangenehme Sache (einer provokativen Karikaturperformance) ruhig und ohne Skandal und Erregung öffentlichen Aufsehens vorbeigegangen wäre (im Klartext: vorbeigehen hätte sollen), wenn sie nicht künstlich von der Gegenseite „aufgeschaukelt“ worden wäre.

Ob sich unter diesen ruhestiftenden Biedermänner der Ersten Welt auch einige befanden, die vehement protestiert hatten, als einem Biennale-Künstler verweigert wurde, eine Nachbildung der Kaaba auf dem Markus-Platz zu Venedig aufzustellen, wurde nicht berichtet. Dabei wurde die Kunst-Kaaba vermutlich mit bestem, mit allergutestem Willen des gutmeinenden Künstlers konzipiert, als globaler Beitrag kritischer Kunst zum interkulturellen Weltfrieden.

Nach (freier, aber falscher) Meinung der appeasenden Journaille wäre nach Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen der Kelch einer islamischen Empörung an der Welt des Westens vorbeigegangen, wenn nicht rückwärtsgewandte islamische Geistliche ein künstliches Haßklima inszeniert hätten. Ist doch nur Kunst, vielleicht sogar nur schlechte, schienen die Journalisten den erregten Moslems zurufen zu wollen, warum nehmt ihr so ernst, was auch wir nur mehr auf den Seiten unserer Feuilletons ernst nehmen?

 

V.

 

Doch die Protestierenden in der islamischen Welt interessierte nicht irgendein obskurer Unterschied von guter und schlechter Kunst. Was sie einzig und allein interessierte, war die Frage, warum und wie der Westen mit der universalen Meßlatte Meinungsfreiheit nicht einhellig, sondern doppelbödig: mit ungleichem Maß messen könne. Warum im Namen der Meinungsfreiheit einerseits „alles“ (etwa Mohammed-Karikaturen) erlaubt, andererseits doch nicht „alles“ (etwa die Leugnung des Holocaust) erlaubt sei.

Warum man mit Mohammed Spott und Spaß treiben dürfe, nicht aber mit dem Genozid an den Juden? Wenn schon Meinungsfreiheit als universales Prinzip, dann gelte ein radikales Entweder-Oder: Entweder ist in ihrem Namen alles erlaubt, jede noch so krumme Meinung und verstörende Beleidigung; oder ihr wahrer Name lautet doch Zensur, weil ein vernünftiger Begriff von Meinungsfreiheit alles verbiete, was Menschen, die in einer Kultur und Gesellschaft zusammenleben, beleidigen könnte.

Diese Alternative enthält einen Freiheitsbegriff, der von islamischer Seite als vernünftiger geglaubt und vorgebracht wird, ohne es wirklich zu sein. Für die westliche Seite erhebt sich daher die Frage, unter welchen argumentativen Bedingungen eine rationale Widerlegung des islamischen Ansinnens bewerkstelligt werden kann, die nicht nur den Vernunftbegriffen von Freiheit und Recht genügt, sondern zugleich auch die islamische Seite überzeugen kann, von der behauptet wird, daß sie besagte Vernunftbegriffe (noch) nicht als solche einsehen könne oder wolle. Und noch weniger die historische Dialektik der geschichtlichen Bedingungen, unter denen sich in Europa (und der Ersten Welt) die Vernunftbegriffe von Freiheit und Recht als politisch-demokratische durchzusetzen hatten, weshalb Ideologien, die dies zeitweilig verhindern konnten, der vermeintlich grenzenlosen Meinungsfreiheit eine zugleich historische Grenze setzen.

Es müßte klargemacht werden können, weshalb die Extreme des angeführten Entweder-Oder für moderne Demokratien unannehmbar sein müssen. Das erste führt in rechtlose Toleranz-Anarchie: in das Beleidigen aller durch alle mit nachfolgendem Krieg aller gegen alle; das zweite führt in die Diktatur und deren Zensur. Dort darf alles Schockierende schockieren, hier darf schockieren, was die Diktatur befiehlt, die zugleich befiehlt, das Schockierende als Berufung und Weisheit zu verstehen –  wie die Geschichte Deutschlands, aber auch Rußlands in mehr als „schockierender“ Weise demonstriert haben.

Daher ist der Verdacht begründet, die islamische Seite wünscht, wenn sie das genannte Entweder-Oder als letzte Alternative erwägt, letztlich Diktatur, erreicht auf dem Weg von Anarchie. Allein ein starker Mann und dessen Elite, gesalbt mit der Macht des Gottesstaates auf Erden, wissen, was rechtens und wahr ist, ihnen ist der Schatz der wahren und darum erlaubten Meinungen anvertraut. Eine Denkweise, die nicht zufällig der institutionalisierten Praxis der fatwa zugrundeliegt.

Die westliche Seite hat es folglich mit einer vormodernen Rechtsauffassung von Freiheit und Freiheitsrechten zu tun. Vormodern sowohl im Sinn vernünftiger Rechtsbegründung wie auch im Sinn weltgeschichtlicher Entwicklung: denn die Verbrechen von Hitler-Deutschland und kommunistischer Sowjetunion sind eine historische conditio sine qua non der Menschenrechte und ihrer globalen Durchsetzung. Wären beide Massenmord-Ideologien nicht über Europa und die Welt gekommen, wären die Revolutionen in den USA und Frankreich und davor schon in England als einzige historische Bedingungen der Genesis von Demokratie anzuerkennen. Die Unbedingtheiten der Geschichte konvergieren mit denen der Vernunft, ohne identisch zu sein.

Die Freiheitsrechte der säkularen Demokratie sind daher modern gebaut: durch ihre Anwendung darf eine andere Freiheit derselben Gesellschaft nicht verletzt werden. Und lediglich formale allgemeine Gesetze verpflichten, das Gesetz, daß verschiedene Freiheiten einander nicht verletzen dürfen, unbedingt einzuhalten. So zu denken, eine solche Welt und Gesellschaft für möglich zu halten, muß für ein vormodernes Denken eine unerhörte Kühnheit sein. Freiheit wird als ihr eigenes Recht und dessen Anwendung behauptet, als Form vielfältigster Praxis, die letztlich sogar individuell terminiert: das freie Individuum als Träger von Freiheit und Vernunft auf den „Thron“ erhebt.

Aber ebensowenig kann das vormoderne Denken der islamischen Seite verstehen, weshalb Europa an der Holocaust-Frage einen Stein vor sich her wälzt, der einer beliebig entgrenzbaren politischen Meinungsfreiheit einen Riegel vorschieben soll. Denn dies ist ohne Zweifel ein inhaltlich-materialer, kein formaler Riegel, und genau genommen betrifft er die Prinzipien und den Geist der beiden antidemokratischen Ideologien Alt-Europas insgesamt. Diese – Nationalsozialismus und Kommunismus – existieren zwar auch heute noch in der westlichen Welt als Meinungen sogenannter „Ewiggestriger“, die sich gleichfalls als „andere“ Meinungen einklagen, die als freie zu tolerieren wären, und insofern liegen sie mit den antidemokratischen Meinungen des islamistischen Islams auf einer Linie.

 

VI.

 

Dennoch erlaubt sich die westliche Welt auch in diesem Punkt den Luxus großer Liberalität, etwa sehr unterschiedlicher Gesetze gegen eine „Wiederbetätigung“ der Ewiggestrigen, und dies vor allem in Deutschland selbst, weil man hier offensichtlich die Lektion der (eigenen) Geschichte in Sachen Meinungsfreiheit, auch was linkes und rechtes Extrem-Meinen betrifft, gelernt hat.

Die Betätigung von Meinungsfreiheit soll nur im äußersten Notfall durch materiale Vorschriften bevormundet werden. Und selbstverständlich steht sie auch nicht zur Disposition demokratischer Wahlen, weil dies der Selbstabschaffung von Demokratie gleichkäme. Und auch durch andere Freiheiten, etwa durch positive Religionsfreiheit, kann Meinungsfreiheit, weil Grundlage jeder gelebten Demokratie, nicht mehr aufgehoben werden.

Formale Grenzen, in Gesetze gefaßt, stehen wie Wächter vor dem Palast der Demokratie, formale Freiheitsriegel, mit allerdings materialen Konsequenzen, die aber nicht auf der Ebene der Grundgesetze an Inhalten festzuschreiben sind. (Eine unabdingbare Bedingung für den Streit freier Meinungen im Dienst sozialer, politischer und anderer Wahrheitssuche. Demokratie und Widerstreit konvergieren.)

Im vorliegenden Streit (Mohammed-Karikatur versus Holocaust-Frage) liegt nun ohne Zweifel ein materialer Konflikt vor, der dennoch nicht allein material entschieden werden kann und folglich der Ersten Welt auch nicht gestattet, einen Wettbewerb über Auschwitz-Karikaturen auch nur als Denk- oder Kunstmöglichkeit in Erwägung zu ziehen.

Denn die Erste Welt muß bereits das Ansinnen der islamischen Denkweise, Mohammed als Propheten und den Holocaust als geschichtliche Tatsache auf dieselbe materiale Ebene, als Tatsachen vergleichbarer Tatsächlichkeit stellen zu können, als unvernünftiges Argument zurückweisen.

In islamischer Perspektive gilt zunächst ausgemacht, daß der Prophet und sein Buch, also der Kern der islamischen Offenbarung als ebenso historisches Ereignis gehandelt wird wie Auschwitz und alle anderen Untaten der modernen Ideologien, wie alle Taten der Menschheitsgeschichte. Für den Westen gilt aber, und davon wird auch die christliche Religion nicht ausgenommen, daß ein Religionsereignis im Rang einer Offenbarung nicht mit dem Tatsachenrang eines historischen Ereignisses gleichzusetzen ist, auch dann nicht, wenn der Offenbarung ohne Zweifel historische Tatsachen beigefügt waren. Denn daß Offenbarungswahrheiten nicht auf historische Tatsachenwahrheiten zurückgeführt werden können, diese Meinung vertritt auch das religiöse Bewußtsein aller Offenbarungsreligionen.

Behauptet daher der Islam eine Gleich-Tatsächlichkeit von Geschichte und Religion, begibt er sich auf gefährliches Gelände. Auf eines, das er durch Vernunft noch nicht sondiert, noch nicht durch die Trennschärfe des modernen Tatsachenbegriffes erleuchtet hat. Für die Erste Welt ist der Holocaust ist ein historisches Ereignis im Rang eines Menschheitsverbrechens, das mithilft, die Menschenrechte sakrosankt zu stellen, obwohl sie dies nicht nötig haben. Für die Zweite Welt ist Mohammeds Offenbarung ein historisches Ereignis im Rang einer endgültigen Menschheitserlösung, das verpflichtet, alle Welt daran genesen zu lassen.

Daher hat die islamische Argumentation etwas von der Qualität eines Tauschhandels in einem arabischen Basar: Euch ist der Holocaust heilig, uns aber Mohammed nicht weniger, sondern viel mehr. Der Holocaust war ein Unglück der Geschichte, aber der Prophet war der Empfänger eines Gottesdiktats und somit das größte Glück der Geschichte. Und sofern sich die Juden in Mekka dereinst weigerten, Moslems zu werden, kann der Holocaust von islamischer Seite sogar  als gerechte Gottesstrafe und jede Spielart des Ewigen Antisemitismus als religiöse Pflicht behauptet werden.

Unvermeidbar, daß sich bei diesem Tauschhandel die religiöse Belehrung in eine intolerante Beleidigung verwandelt, die willens ist, in einen Kampfaufruf gegen Ungläubige, Juden und Kreuzritter weiterverwandelt zu werden. Wer unsere Religion nicht als historische Tatsache im Rang eines sakrosankten Heilsgutes achtet, dem gestatten auch wir nicht, historische Tatsachen im Rang von Menschheitsverbrechen als säkulare Heilsgüter zu handeln.

 

VII.

 

Dieser „Handel“ widerspricht dem säkularen Denken der Ersten Welt sowohl logisch wie material, sowohl in den Begriffen wie in deren Inhalten. Denn historische Wahrheiten der Weltgeschichte einerseits und Glaubenswahrheiten der Religionsgeschichte andererseits stehen für das westliche Denken nicht auf einer und derselben logischen Stufe. Der Empfang einer Offenbarung durch einen Religionsgründer und geschichtlich geschehene Völkermorde durch politische Ideologien werden unter zwei verschiedenen Kategorien gedacht. Der westlichen Trennung von Politik und Religion liegen tiefere Trennungen im Denken über Politik und Geschichte, Religion und Religionsgeschichte, Gott und Welt, Mensch und Menschheit zugrunde.

Diese werden aus der Tiefe des Geschichtsprozesses an die Oberfläche getrieben und memoriert, wenn vormoderne Denkweisen des Islams demonstrieren, daß es immer noch möglich ist, historische Tatsachen wie Glaubensüberzeugungen und diese wie jene zu verstehen. Dabei entsteht ein asymmetrisches Signalisieren: Dem Westen wird signalisiert, daß der Osten noch nicht in der Moderne angekommen ist; dem Osten wird signalisiert, daß der Westen den wahren Glauben an die absolute Wahrheit der endgültigen Offenbarungs-Religion verloren hat.

Wendet der Westen daher ein, daß der Osten seine Wahrheit nicht als historische und zugleich metahistorische Tatsache behaupten könne, kann der Osten gegeneinwenden, daß der Westen dasselbe von seiner Wahrheit behaupte. Denn die säkulare Vernunft der Ersten Welt hält Menschenrechte und Demokratieprinzipien durch metahistorische Vernunft einsehbar und begründbar und zugleich durch historischen Revolutionen ermöglicht.

Ist demnach die westliche Grundüberzeugung auch nur ein Glaube, ein historischer Vernunftglaube, der – wie der Relativismus der westlichen Multikulturalisten bestätigt – sich auf seinen Kulturkreis beschränken und zurückziehen sollte? Wird der westliche Vernunftglaube nicht morgen vielleicht schon verschwunden und überwunden sein und nicht zufällig durch die Lehre und Praxis einer Religion, die sich als historischer Wahrheitsglaube der letzten Offenbarungswahrheit versteht?

Der Vorteil der Ersten Welt, zu wissen, wie die Vernunft mit der Befragung religiöser Wahrheiten verfährt und welche Resultate dabei zu gewärtigen sind, kann von der Zweiten Welt vorerst nur als Nachteil, als Verlust von Religion, Glauben und göttlicher Autorität wahrgenommen werden. Das Christentum mußte nach Einlaß der historischen Bibelkritik eine hermeneutische Befragung seiner für faktische Wahrheiten gehaltenen Glaubenswahrheiten zulassen.

Damit wurde zwischen heiliger Darstellungssprache und dargestellter heiliger Realität unterschieden, und was soeben noch wörtliches Wort Gottes war, das war danach nur mehr der Versuch, durch menschliche Worte einem göttlichen Heilsgeschehen einen ungefähren und approximativen und überdies geschichtlich beschränkten Ausdruck zu verleihen. Seitdem wird das Erscheinen des Erzengels Gabriel vor Maria oder am Grab Christi als ein Deutungsereignis des Glaubens, als eine Glaubenswahrheit und deren Freiheit gesehen und respektiert, nicht aber als historische Tatsache, die im Moment des behaupteten Geschehens hätte fotografiert oder gefilmt werden können, anerkannt.

Seitdem ist das moderne Christentum gegen Karikierungen oder Verunglimpfungen seiner Wahrheiten unsicher, oft sogar gleichgültig geworden. Was nur annähernd geglaubt, nur durch annähernden Glauben erfaßt werden kann, das kann keine Blasphemie mehr erreichen. Das Christentum hat gelernt, die historische Seite seiner Offenbarungswahrheiten zu vergleichgültigen, weil es durch historische Vernunft gelernt hat, zwischen differenten Tatsachen- und Wahrheitsbegriffen zu unterscheiden.

 

VIII.

 

Hier stellt sich die Frage, ob der Islam durch „Angriffe“ wie jene der Mohammed-Karikaturen dazu gebracht werden kann, den Geist historischer Vernunftkritik in sich einzulassen. Dies war ohne Zweifel nicht die Absicht des Karikaturisten, obwohl dieser nur auf dem Boden der säkularen westlichen Freiheit, die jene Trennung des Historischen und Religiösen vollzogen hat, seine „Angriffe“ tätigen konnte.

Daß der Koran Suren enthält, die zur Tötung Anders- und Nichtgläubiger aufrufen, stellt kein Vernünftiger in Zweifel. Ob sie so verstanden werden müssen, wie sie „da“ stehen, im Buch der Bücher aller Moslems, ist bereits eine Frage, die jene vernünftige Trennbarkeit des Historischen und Religiösen voraussetzt und unterstellt, die somit abermals einen „Angriff“ gegen den Islam in seiner vormodernen Version tätigt. Daß sie aber von den Kämpfern des globalen Jihad so verstanden werden, wie sie „da“ stehen, kann gleichfalls kein Vernünftiger in Zweifel ziehen, unabhängig davon, ob er sie als Krieger oder nur als Kriminelle einstuft.

Darauf wollte der Karikaturist offensichtlich verweisen, und die wütenden und Menschenleben fordernden Proteste in der islamischen Welt haben das Gelingen seiner Verweisung bewiesen.

Nun ist aber ein Karikaturist nach westlichen Begriffen ein Künstler, und ein Künstler nach westlichen Begriffen ein Heros der Meinungsfreiheit. Ein Denken, das der Islam nur als fremdes und anderes kennt und daher nicht kennt, weil er sich aus der Geschichte des christlichen Abendlandes relativ früh verabschiedet hat.

Diese führte seit der abendländischen Renaissance dazu, den Künstler geradezu als menschlichen Gegengott, als Freiheitsmenschen par excellence, als Gründer einer neuen Kunstreligion zu achten. Diese wurde zwar noch lange Zeit von Kirche, Theologie und christlichem Glauben in Dienst genommen, um erst in der Moderne diese und alle anderen Dienste an Nicht-Kunst-Autoritäten zu kündigen.

Und es dürfte wohl nicht zufällig sein, daß es die Kunst, nicht die Wissenschaft des oder über den Islam, nicht die Theologie (etwa eine islamische Korankritik) war, die soviel Staub aufwirbelte und dem Westen die Dringlichkeit eines neuen Freiheitskampfes, besonders im schlafenden Europa, zu Bewußtsein brachte.

Denn für den modernen (dienstfrei gestellten) Künstler ist alles nur Meinung, Deutung, Wertung –  ihm muß daher eine Religion, die an einer durch Worte exakt festgeschriebenen höchste Wahrheit festhält, obskur und gefährlich, gewalttätig und in höchstem Maße unfrei erscheinen. Der moderne Künstler ist insofern das sich aufhebende Extrem eines Multikulturalisten, weil er jede Kultur nur als zu kritisierende Matrix und, Konvention, Konstruktion und Illusion usf. versteht, als Folie, Material und Vorwand, seine eigene, radikal individuelle Wahrheit, mag diese noch so partikular und individuell sein, zu vergegenständlichen und zu kommunizieren.

Folglich wird er als radikaler Anti-Jihadist von den Jihadisten und den vormodernen Versionen des Islams wahrgenommen und gefürchtet, verstanden und verfolgt und, wenn möglich, durch heilige faden zur Tötung freigegeben.

Nun lässt sich aber die moderne Gesellschaft dennoch ungern hinter den Karren moderner Kunst und Künstler, mögen diese noch so unterhaltsam und kritisch sein, spannen, weil Kunst und Künstler keineswegs die politische Freiheit der modernen Demokratie anführen, definieren und repräsentieren können. Kunst und Künstler sind nur ein Teil der Vielfalt an Freiheit(en), die die formale Vernunft-Freiheit der modernen Demokratie freigesetzt hat. Daher auch der Vorbehalt vieler Journalisten und Politiker des Westens, die dem Karikaturisten zwar zugestanden, seiner Freiheit rechtens gefrönt zu haben, doch dies angesichts einer möglichen Bedrohung durch „Fanatiker“ – um des lieben Friedens willen – besser unterlassen hätte.

Ein schwaches, ein sehr schwaches Argument, denn der Vorwurf, unnötig provoziert zu haben, konnte vom Künstler mit dem Gegenvorwurf entkräftet werden, angesichts allzu vieler Morde durch Jihadisten schon mehr als genug provoziert worden zu sein. Woran sich die westliche Welt, vor allem im friedensliebenden Europa, schon wie an eine hinzunehmende Naturkatastrophe gewöhnt zu haben schien, das wurde vom Künstler als Angriff eines autoritären Denkens, als Kriegserklärung einer neuen totalitären Ideologie entlarvt.

In der westlichen Welt waren es nicht zuletzt Künstler, die über die Verbrechen des Gulag und der nationalsozialistischen Vernichtungslager Werke und Berichte veröffentlichten, die zur Aufarbeitung der Verbrechen führten. Künstler jedoch, die in der islamischen Welt über deren Verbrechen und Unfreiheiten berichten, werden bis heute verfolgt und nicht selten getötet oder ins westliche Exil vertrieben.

Wer den Holocaust leugnet und für die Karikatur freigibt, der wird uns morgen Enthauptungsvideos der Jihadisten und Massenmorde durch Selbstmordattentäter als legitime islamische Kunstform nahelegen wollen.

Nicht daß der religiöse Frieden im modernen Europa durch moderne Kunst wäre errungen worden; deren Freiheit ist eine späte Frucht eines Religionsfriedens, der in Europa durch Vernunft und Blut mußte gefunden und durchgesetzt werden.

Auch in Europa lässt nun jeder Gläubige seiner Konfession jeden anderen Gläubigen einer anderen Konfession oder Religion leben; soviel Aufhebung der religiösen Autorität(en)war nötig, um einen „religiösen Frieden“ zu installieren, der nicht durch die Religion(en) installiert wurde. Positive und negative Religionsfreiheit sind nicht durch religiöse Toleranz, sondern durch politische Vernunft gefunden, kodifiziert und durchgesetzt worden.

Märtyrerselbstmordmorde, die intolerant gläubige Moslems höchsten, weil heiligen Respekt abnötigen, können von Nichtmoslems nur mit Abscheu bewertet und verurteilt werden. Abscheu, nicht „Provokation“ war der Anlaß der dänischen Karikaturen-Attacke: die Waffe der Ironie und des Witzes gegen einen Propheten zu wenden, dessen Worte zum Vorwand dienen, daß Menschen mit der entsetzlichsten aller menschlichen Waffen, dem sich mit mordenden Mörder, andere Menschen töten. Denn schwerlich kann geleugnet werden, mit welchem Buch in der Hand die Jihadisten ihre Untaten vollbringen, auf welches sie sich berufen und welchem sie folgen.

Wer behauptet, diese Karikaturen hätten das „religiöse Gefühl“ der Moslems verletzt, verletzt die Vernunft derselben und nicht zuletzt auch das Entstehen eines Islam, der sich von seiner vormodernen Geschichte und Ideologie verabschieden muss. Die Karikatur als Versuch der Abwehr eines unüberbietbaren Abscheugefühls westlicher säkularer Menschen gegen eine Religion, die solches (noch) nicht verhindert, kann nicht durch einen vorauseilenden „Religionsfrieden“, der sein Appeasement als „Dialogfrieden“ schon im Namen führt, unter Zensur gestellt werden.

Eine ähnliche Abscheu verspürte und drückten dereinst jene aus, die den Religionsfrieden in Europa (nach unselig langen und verheerenden Religionskriegen) schmiedeten, nachdem sie mit der Autorität der Kirche und ihrem vormodernen Menschen- und Gesellschaftsbild gebrochen hatten.

März 2011