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23 Zur arabischen Revolution

I.
Ob die sogenannten „arabischen Revolutionen“ des Jahres 2011 für die
islamische Welt im Nahen und Weiteren Osten, von Marokko bis Teheran, mehr
sein werden als ein europäisches 1848, vermag heute niemand zu prophezeien.
Daß ein Mehr von Europa und der Ersten Welt dringlich erhofft wird, steht außer
Zweifel; zugleich aber auch die beschränkte Macht der Ersten Welt, die Zweite
Welt auf den Weg von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten begleiten
oder gar führen zu können.

Ebenso die Unsicherheit oder vielmehr Gewißheit, daß der „Weg“ allein nicht
genügt, weil dieser stets von Rückschritt und Rückfall, von ideologischen –
antidemokratischen – Abstürzen bedroht bleibt, wie die tragische Geschichte
Europas im 20. Jahrhundert gelehrt hat. Einzig dies scheint prophezeihbar: die
islamischen Länder werden erst dann wirkliche Demokratien sein, wenn sie
fähig geworden sein werden, mit der Demokratie Israel in Frieden und
Partnerschaft zusammenzuleben.

Doch von diesem Ziel scheint sich die „arabische Revolution“ von 2011 eher zu
entfernen. Verständlich daher die ambivalente Einstellung nicht nur Israels,
sondern auch des Westens (und sogar Russlands und Chinas) zur aktuellen
Revolution: So sehr eine Beseitigung der islamischen Ganz- oder Halb-
Diktaturen bzw. Scheindemokratien in der gesamten Region zu begrüßen ist, so
wahrscheinlich, aber nicht gewiß, daß arabische oder „islamische Demokratien“,
sofern sie realisiert werden, die neue Freiheit in den Dienst eines Krieges gegen
ihren „Todfeind“ Israel stellen werden. Abermals würde die Ideologie des
Ewigen Krieges gegen Israel die Keime der islamischen Demokratiebewegungen
vernichten.

Dieser Ambivalenz des Westens und Israels entspricht eine Ambivalenz in der
islamischen Welt selbst: vor Ausbruch der Revolten von 2011 galt einzig der
Palästinakonflikt als „politisch korrektes“ Kern- und Hauptproblem der
gesamten Region. Wäre nur dieses gelöst, etwa durch Vernichtung Israels oder
durch einen „Frieden“ zwischen Palästinensern und Israel, würden sich alle
anderen Probleme der islamischen Staaten und Gesellschaften „von selbst“
lösen lassen.

Davon war jedoch bei Ausbruch der Revolten kaum die Rede, ihr Anlaß war nicht
der Palästinakonflikt, sondern die horrenden Probleme der islamischen Staaten
selbst. Monarchien und Militärdiktaturen im Gewand von Nationalstaaten, am
Ende der europäischen Kolonisierung der gesamten Region über vormoderne
islamische Stammesgesellschaften gestülpt, haben sich als unfähig erwiesen,
die Herausforderungen von Moderne und Globalisierung zu bewältigen.
Unfreiheit und Verarmung, gegängelte Öffentlichkeiten und Militarisierung
auch der Ökonomie, Arbeitslosigkeit und demographisches Überwachstum
haben die islamischen Gesellschaften an den Rand des Zusammenbruchs
geführt.

Darauf reagierte vor allem eine „neue arabische Jugend“, modern gerüstet mit
neuen medialen Kommunikationsmitteln, die im Zug der Globalisierung aus
dem Westen importiert worden waren. Moderne Mittel und
Kommunikationstechniken, welche die Sicherheitsdienste und Zensurbehörden
der herrschenden Regime vor unlösbare Probleme stellten. Nach kaum zwei
Jahrzehnten Importzeit hat der neueste Modernitätsvirus die islamischen
Gesellschaften befallen.

II.
Angesichts der wankenden Regime in und drohender Immigrantenströme aus
der islamischen Welt, werden besonders in Europa dramatische Rufe nach
einem „Marshall-Plan“ für die gesamte Region laut. Doch zugleich oder noch
zuvor müßten jene „säkularen Kräfte“ in den islamischen Ländern massiv
unterstützt werden, die ihre Gesellschaften in freiheitliche Demokratien
verwandeln sollen.

Unschwer ist diesen rhetorischen Appellen der Wunsch Europas entnehmbar,
von den USA die seit fast einem Jahrhundert beklagte und beneidete
hegemoniale Einfluß-Stafette zu übernehmen, um sie nun als „multipolare“,
womöglich unter der „Schirmherrschaft“ der EU weiterzuführen. Denn schon
weil sie Nachbarn sind, wüßten die Europäer besser über Sitten und Unsitten
der Krisenregion Bescheid als der große Bruder, der doch immer nur „seine
Interessen“ in jeder Weltregion durchzusetzen trachtete.

Mit anderen Worten: die neue Situation in der islamischen Welt wird den
Ländern und Institutionen Europas eine völlig neue Lektion erteilen, und deren

erste Stunde hat bereits begonnen. Wie üblich mit großer Uneinigkeit unter den
europäischen Trabanten der Zentrale EU. Diese Uneinigkeit wird sich steigern,
wenn man nach dem Verpuffen naiver Appelle bemerken wird, daß auch in den
säkular gesonnenen Strömungen der islamischen Länder radikale antiwestliche
Positionen eingewurzelt sind.

Und dies aus bekanntem Grund: schon fordern auch „säkulare“ ägyptische
Präsidentschaftskandidaten die Auflösung des Friedensvertrages mit Israel. Und
daß Israel, und nicht etwa der Iran, die „größte Bedrohung im Nahen Osten“ sei,
gilt unter den Meinungsmachern der arabischen Straße für ausgemachte
Wahrheit.

Wenn Europäer den antiwestlichen Reflex in den islamischen Ländern auf das
bisherige „imperialistische“ Verhalten der USA in der Region zurückführen
sollten, altlinker und zugleich islamistischer Denkweise folgend, werden sie bald
bemerken, daß sie sich entweder für oder gegen den Erhalt des Staates Israel
entscheiden müssen. Ein dramatischer Höhepunkt in der neuen Lehrstunde, der
Europas traditionelle (antisemitische und antiamerikanische) Übel
wiederbeleben wird.

Sollte nun in Folge der arabischen Revolutionen eine ganze Reihe von Regimen
stürzen, die bisher mit dem Westen kooperierten, wäre der Einfluß des Westens,
gleichgültig unter welcher Führung, mehr als bedroht. Offensichtlich kann unter
„Einfluß“ eine widersprüchliche Agenda verstanden werden: einmal der
realpolitische, – mit militärischer und ökonomischer Kooperation als Endzweck;
zum anderen der idealpolitische, – mit dem „Export“ von Demokratie als
Endzweck.

Beides so verbinden zu wollen, daß Demokratie zuerst, das Militärische und
Ökonomische danach komme, zeugt von großer Naivität in einer Region, die
von einem Krieg um Sein oder Nichtsein Israels mehr als nur bedroht wird. Aber
nichtsdestotrotz wäre es ebenso naiv zu glauben, die islamischen Länder
könnten in der Epoche der sich globalisierenden Demokratie für immer und
ewig in ihren teils vormodernen (stammesgeschichtlichen) teils ideologisch
modernen (autoritären) Systemen weiterleben.

III.
Die Schwächung des westlichen Einflusses ist zugleich einigen katastrophalen
Fehlentscheidungen der Obama-Administration (Missmanagement der
Verhandlungen zwischen Israel und Palästina, verfrühter Abzug aus dem Irak,
unnötige Zugeständnisse an Syrien, Ankündigung eines Abzugs aus Afghanistan
usf.) geschuldet. Sollten diese durch eine neue Administration nicht mehr zu
korrigieren sein, entstünde ein Vakuum in der Zweiten Welt, das durch ein
militärisch schwaches Europa nicht zu füllen wäre.

Der Iran, schon jetzt durch amerikanisches Appeasement gestärkt, würde zum
regionalen Hegemon aufsteigen und sich berechtigt wähnen, den religiös
herbeigesehnten Armageddon an Israel zu vollziehen. So viel zur Fähigkeit einer
„islamischen Republik“ alias „Demokratie“, mit der Demokratie Israel in Frieden
und Austausch zusammenzuarbeiten. Am Ende des 21. Jahrhunderts wird man
mit Schaudern auf dieses Fehlverhalten, auf diese Fehlentwicklungen und
Fehlentscheidungen zurückblicken. Ähnlich wie Europa am Ende des 20.
Jahrhunderts auf die seinigen mit Schaudern und Entsetzen zurückblickt.

Dies ist der Punkt, an dem die neue Lehrstunde der Weltgeschichte den
europäischen Lehrlingen schon heute die entscheidende Frage vorsetzt: Nach
allem was wir über kommunistische Volksdemokratien schon gelernt haben,
können wir glauben – denken wäre besser – , daß „islamische Demokratien“ der
Aporie entgehen können, Wasser und Feuer vermischen zu wollen?

Neuerdings versucht sich die Türkei als Topmodell eines „demokratischen
Islam“ zu profilieren. Sie nützt das entstehende Vakuum und scheut nicht davor
zurück, sich mit dem Iran, einer „Republik“ schauerlichen Gedenkens, zu einer
extrem israelfeindlichen Politik zu arrangieren. Ein Fehdehandschuh an die
israelfreundliche Politik der USA und von Teilen Europas.

Das islamische Demokratieverständnis der aktuellen Türkei folgt dem alten
islamischen Denkmuster, wonach die islamische Demokratie durch nichts ärger
bedroht werde als durch die Demokratie Israel. Und daher müsse sich die
Türkei, neben oder bald auch gegen den Iran, als Schutzmacht der
entstehenden islamischen Demokratien positionieren. Um dies zu erreichen,
scheut die neue Türkei auch vor peinlich-entlarvenden Auftritten nicht zurück:
während die Mullahs Straßenproteste in Teheran blutig niederschlagen,
schüttelt der türkische Staatspräsident die Hände der neuen Freunde. Auch so
kann man sich von Europa verabschieden.

Ein Nato-Mitglied an der Seite des Mullah-Regimes, wenn es zum atomaren
Armageddon gegen Israel kommt: Dies würde die Türkei vermutlich für
Jahrzehnte als EU-untauglich stigmatisieren. Und überdies die NATO irreparabel
beschädigen, weil sein Sicherheitsbündnis an einer geopolitisch entscheidenden
Außengrenze versagt hätte. Wer schützt die soeben beginnende Errichtung des
gegen den Iran gerichteten Raketenschildes vor türkischer Spionage und
Sabotage?

IV.
Welche Verfassungen sollen die demokratiesuchenden islamischen
Bevölkerungen durch welche politischen und rechtlichen Institutionen
anstreben? Demokratische natürlich, würden Europäer naiv antworten, wohl
wissend, daß in den islamischen Ländern die Bildung solcher Institutionen seit
Jahrzehnten systematisch behindert und verhindert wurde und wird. Nur in
kümmerlichen Ansätzen sind folglich Gruppen und Parteien, Institutionen und
auch Personen zu erkennen, die demokratische Prozeduren wie Wahlen und
Parteigründungen, Regierungsbeteiligungen und Gesetzgebungen auf den Weg
bringen können.

In Ägypten hat der interimistisch regierende Oberste Militärrat einen
pensionierten Richter mit dem Vorsitz über einen achtköpfigen Rat zur
Ausarbeitung einer neuen Verfassung betraut. Dieser Richter wird – nach
ägyptischen Maßstäben – als „säkular“ bezeichnet, weil er Demokratie und Islam
für vereinbar halten und eine islamische Theokratie ablehnen soll. Aus welchen
Quellen wird sein Rat schöpfen, um eine neue Verfassung aus der Taufe zu
heben?

In der bisherigen Verfassung wurde noch 1980 die Scharia als Hauptquelle der
Rechtsprechung festgeschrieben. Und nach einer von der Tageszeitung Maariw
kürzlich vorgenommenen Befragung wollen über 60 Prozent der Ägypter daran
festhalten. Steht also zu vermuten und zu befürchten, daß der Hohe Rat primär
aus islamischen, nur sekundär aus den säkularen Quellen der politischen
Aufklärung der Ersten Welt schöpfen wird?

Der Hohe Ratsvorsitzende ist mittlerweile auch durch politische Stellungnahmen
hervorgetreten, die eine neue Bindung Ägyptens an die islamische Welt
befürworten. Sogar eine Führungsrolle Irans sei sinnvoll und
anerkennungswürdig, da sich das Regime in Teheran völlig zu Recht der
israelischen Aggression entgegenstelle und diesem Ziel alle nationalen Ziele
unterordne. Dies war wohl mehr als ein Signal an den Westen, sich schon in
naher Zukunft mit völlig neuen Bündnissen und Szenarien im Nahen Osten
vertraut zu machen.

Und kaum war Mubarak zurückgetreten, waren auch die unter ihm verbotenen
Hassprediger wieder nach Ägypten zurückgekehrt. Ihr prominentester, Yusuf al-
Qaradawi, möchte die ägyptische Blockade des von der islamistischen Hamas
regierten Gaza-Streifens so rasch wie möglich beenden und noch zu seinen
Lebzeiten das Glück genießen, in einem befreiten Jerusalem predigen zu dürfen.
Daß sich gegen die kriegslüsternen Stimmen dieser fundamentalistischen
Strömungen kaum Gegenstimmen finden, keine, die ein nennenswertes
öffentliches Gewicht erlangen, läßt befürchten, daß die demokratischen
Keimlinge im Ägypten von heute schon morgen in der Hitze islamistischer
Hasspropaganda und Kriegsverhetzung verdampfen könnten.

Gewinnen aber Hamas und Hisbollah zu ihrem bisherigen Mentor einen zweiten
(oder mehrere) hinzu, könnten sie mit Iran und Ägypten im Rücken ihre nur
widerwillig zurückgestellten Vorwärtspläne (gegen die „zionistische Entität“)
endlich ausführen. Und Ägypten hätte plötzlich ganz andere Sorgen, als im
eigenen Haus demokratische Verhältnisse und Strukturen aufzubauen, und der
Westen ebenfalls, da er sich wieder nur um „Frieden“, nicht um wirkliche
Veränderung in der islamischen Welt bemühen könnte.

V.
Es sind also wesentlich zwei Kräfte oder Tendenzen, die den
Demokratiebewegungen in der islamischen Welt das keimende Licht ausblasen
könnten. Zum einen auf legislativer Ebene ein lediglich islamischer
Begründungsversuch von Demokratie; zum anderen auf geopolitischer Ebene
eine kollektive Vergatterung der arabischen Massen im erneuerten Kampf
gegen Israel. Womöglich sogar unterm Dirigat des schiitischen Iran, weil dieser
sich mit einer neuen Waffe versehen könnte, die der islamischen Welt den
erhofften Endsieg über den „zionistischen Todfeind“ versprechen würde.

Über die Dilemmata, die angesichts solcher Szenarien über den Westen
hereinbrechen würden, möchte man am liebsten gar nicht reflektieren. Obamas
Entschuldigungsrede in Kairo würde als Beginn des Endes einer Ära verdammt
werden, denn nur mehr durch äußerste Mittel könnte dem neuen Hegemon
Iran in der Region Einhalt geboten werden. Es wäre versäumt worden, was nicht
hätte versäumt werden dürfen.

Man könnte einwenden, noch sei es nicht zu spät. In der Tat melden sich
Stimmen in den USA, die darauf drängen, die Teilnahme der Muslimbrüder-
Partei bei den ägyptischen Wahlen unter Kontrolle und strikt demokratische –
nichtislamische – Auflagen zu stellen. Auch mehren sich Stimmen, die
Opposition im Iran (und den revoltierenden arabischen Staaten) mit mehr als
nur Lippenbekenntnissen zu unterstützen und ebenso das Sanktionsregime
gegen das Mullah-Regime glaubwürdig und realitätsfest zu machen.

Die USA ahnen, welches Dilemma dem Westen droht, wenn diese und ähnliche
Schritte unterlassen werden. Geriete Israel in existentielle Bedrängnis, müßte
die Erste Welt die einzige funktionierende Demokratie im Nahen Osten, noch
dazu eine Gründung der UNO, die mit deren eigener Gründung existentiell
verbunden ist, retten. Aber dieser Erfolg würde den Westen endgültig als
Todfeind der islamischen Welt verdammen, ganz wie es die Muslimbrüder und
deren Ableger, darunter auch Al-Kaida, seit Jahr und Tag predigen.

Denn der Vorwurf, der Westen hätte die islamischen Demokratiebewegungen
zugunsten des Erhalts von Israel vernichtet, würde zur Legion von Vorurteilen
und Verschwörungstheorien, die in der Zweiten Welt seit dem Ende des
osmanischen Imperiums unheilbar grassieren, einen weiteren und sozusagen
endgültigen Beitrag hinzufügen.

Fortan würde die islamische Welt um jeden Preis versuchen, die endgültige
Vertreibung des Westens zu vollstrecken, um dabei doch nur das heilige
Wunschziel aller Jihadisten aller islamischen Länder zu erfüllen, wenn auch
zunächst noch unter der Führung eines schiitischen Hegemons.

Die schismatische Spaltung der islamischen Welt erinnert an eine verflossene
des Kalten Krieges und läßt hoffen. Es muß nicht so kommen, wie soeben
dargestellt; auch im Kalten Krieg war der „Osten“ in zwei Mächte, China und
Rußland, gespalten, aber seine Implosion vollzog sich dennoch unaufhaltsam,
weil nicht reformierbar war, was nicht reformierbar sein sollte. Das Gegenteil
wäre im Fall des neuen „Ostens“ ein nur fragwürdiger Trost: Die islamische Welt
könnte in das Chaos eines totalen inneren Religionskrieges – womöglich nach
dem vormodernen „Modell“ des Dreißigjährigen – versinken, um ihre
schismatische Endabrechnung zu begleichen.

Die (Vor)Freude Europas darüber, daß der Stern des westlichen Hegemons falle,
daß folglich nicht mehr die „unilateralen USA“, sondern eine multipolare Welt
die Geschicke der künftigen Menschheit steuern wird, erhält vor allem in Europa
günstigen Meinungskredit durch den Aufstieg Chinas zur wirtschaftlichen und
militärischen Großmacht. Aber nicht einmal der Name des heutigen China als
Partner von Europa, um das Projekt der Globalisierung von Demokratie
voranzutreiben, wäre das Papier wert, auf dem die multipolaren Verträge
geschrieben würden.

VI.
Die Antinomien der islamischen Welt verknüpfen sich zu einem Gordischen
Knoten, den kein moderner Alexander lösen oder durchhauen kann. Der Erhalt
und Bestand der islamischen Welt ist ohne Israel unmöglich; und eine
Begründung von Demokratie aus islamischen Prinzipien ist gleichfalls
unmöglich. Jeweils das Gegenteil dieser beiden Grundsätze erscheint jedoch
den Eliten und Massen der islamischen Welt als mögliche Prämisse, als
vernünftiger Grundsatz, als erreichbares Ziel, als Grundlage einer neuen und
befreiten islamischen Welt. Solange Israel existiert, solange keine befreite
islamische Welt; solange keine islamische Demokratie gefunden, solange keine
Demokratie für die islamische Welt zu suchen.

Der Westen hat die Lektionen seiner Geschichte gelernt: Er weiß, daß es zu
demokratischen Parlamenten, Parteien, Wahlen, Gewaltentrennungen,
unabhängiger Justiz, Verfassungsgerichten sowie Meinungs- und
Religionsfreiheit keine Alternative gibt. Auch in Monarchien, kommunistischen
Diktaturen, islamischen Republiken und anderen autoritären Gesellschafts- und
Staatsystemen gab und gibt es Parlamente, Parteien, Wahlen und sogar
Verfassungsgerichte und noch manchen anderen Anschein von Demokratie und
Freiheit. Und dennoch haben sich alle diese Alternativen als Scheinalternativen
entpuppt und desavouiert.

Diese fundamentale Erfahrung und Lehre kann der Westen nicht ignorieren
oder gar für hinfällig erklären, wenn er mithelfen soll können, in der islamischen
Welt funktionierende Zivilgesellschaften und Demokratien zu errichten.

Gegen diese westliche Position ist der Einwand beliebt, es gäbe doch auch in
Europa und der gesamten Ersten Welt eine Vielfalt an Demokratien; folglich
könnte es auch in der islamischen Welt eine ähnliche Vielfalt geben, und welche,
das sei der Entwicklung in den einzelnen Ländern zu überlassen.

Dieser Einwand ist gefährlich und kaum zur Hälfte stringent und begründet. Er
täuscht sich und die Seinen, weil er über den fundamentalen Unterschied von
westlicher und islamischer Vielfalt hinwegsieht. Er gehört in den Irrgarten der
gleichfalls beliebten Argumentation, wonach es „den Islam“ gar nicht gäbe, weil
es nur eine Vielfalt von „Islamen“ gäbe.

Es ist wahr, daß die Erste Welt sehr unterschiedliche Arten von Demokratie
praktiziert, sogar konstitutionelle Monarchien finden sich darunter, weiters
Präsidialrepubliken wie in den USA und Frankreich oder eher parlamentarisch
gewichtete wie in Deutschland und noch andere länderspezifische Modelle von
Demokratie. Offensichtlich läßt ein weiter Gattungsbegriff von Demokratie, der
sich gleichwohl nicht ins Unbestimmte und Beliebige verliert, eine Vielzahl und
Vielfalt von Demokratie-Arten zu, ohne der Gattung zu widersprechen.

Und ohne Zweifel kann und soll diese Lehre der westlichen Geschichte hilfreich
sein, die Demokratiebewegungen in den islamischen Ländern zu stützen. Die
universale Gattungslogik von Demokratie muß und soll auf die Mentalitäten und
Traditionen der verschiedenen Länder empfindliche Rücksicht nehmen. Aber sie
muß und soll noch empfindlicher auf jeden Versuch reagieren, die säkularen
Prinzipien der demokratischen Universalität zu negieren oder zu unterminieren.

VII.
Dieser Gegensatz führt unvermeidlich auf eine zentrale Frage: Wo genau liegt
die Grenze zwischen einer anpassungsfähigen, liberal offenen Durchführung
der demokratischen Prinzipien unter je anderen lokalen und nationalen
Bedingungen einerseits, und illiberalen islamischen Rechts- und
Politikprinzipien andererseits, die mit der universalen Logik und der konkreten
geschichtlichen Durchsetzung wirklicher Demokratie unvereinbar sind?

Wer erkennt, wer definiert, wer legt fest und setzt durch, daß und welche der
vormodernen islamischen Gesetze und Gebote aus den Verfassungen der
anzustrebenden, somit wirklichen und nicht islamischen Demokratien zu
entfernen sind? Wie macht dies eigentlich Israel, das doch einen erheblichen
Anteil an vormodernen Mentalitäten und Parteien zu verkraften hat, ohne daß
seine Ultraorthodoxen, die dem Fundamentalismus der Islamisten kaum
nachstehen, die israelische Demokratie gefährden könnten?

Seit geraumer Zeit wird in der islamischen Welt der bekannte Versuch
unternommen, die Scharia, aber auch den Koran und die Sunna so umzudeuten,
daß sie mit den Demokratieprinzipien der modernen Welt kompatibel werden.
Eine „erweiterte Deutung“, unterm Druck der Ersten Welt und ihrer
Globalisierung unausweichlich geworden, soll das Kunststück zuwege bringen,
und sei es durch eine Überdrehung von Erweiterung und Umdeutung: Die
islamischen Quellen wären als wahre Quelle der Menschenrechte und ihrer
demokratischen Begründungspotentiale zu entdecken und universal
anzuerkennen. Einer der beiden gordischen Knoten wäre zerhauen: nichts wäre
leichter als die Findung einer originär islamischen Demokratie, die mit der
westlichen „auf Augenhöhe“ und geschwisterlich durch die künftige Geschichte
defilieren könnte.

In der Perspektive der Ersten Welt kann der Weg solcher Versuche nicht
empfohlen werden, er ist wenig erfolgversprechend. Oder ironisch formuliert:
Erweitere Umdeutungen dieser Art wären zielführend, wenn Geist und
Buchstabe von Koran, Scharia und Sunna in der islamischen Welt bereits so
ausgehöhlt wären, daß sie wehrlos und nach Belieben dem Geist und
Buchstaben demokratischer Gesetze könnten subsumiert und einverleibt
werden.

Doch unter heutigen Umständen bliebe stets ungewiß und unentscheidbar, ob
ein von islamischen Rechtsgelehrten in die Verfassung einer islamischen
Demokratie aufgenommenes „demokratisches Prinzip“ wirklich und ernsthaft
oder nur seinem (Wort)Schein gemäß festgeschrieben und somit zugleich nicht
festgeschrieben wurde. Das in der islamischen Welt seit Ende des osmanischen
Imperiums praktizierte Vortäuschen von demokratischen Verhältnissen würde
auf verfeinerte Art und Weise fortgesetzt und ebenso ein durch
scheindemokratische Strukturen korrumpiertes politisches und soziales Leben.

VIII.
Religionsfreiheit beispielsweise kann mühelos aus dem Koran abgeleitet und in
die Verfassung islamischer Demokratien aufgenommen werden. Aber was wäre
damit gewonnen, wenn Politik und soziales Leben, Mentalität und alltäglich
gelebte Freiheit fehlten, das zu vollziehen, was nicht nur zwischen zwei
Buchdeckeln als Buchstabenfolge defilieren soll?

Wer aus dem Koran und der Scharia ein sogenanntes „Konzept der
Menschenrechte“ ableitet, tut dies mit modernen Kategorien, mit modernen
Deutungsweisen. Er bläst neuen Geist in alte Schläuche, weil er die neuen noch
nicht gefunden hat.

Mit modernen Augen kann aus jedem vormodernen Text und Kulturbestand
etwas Modernes, etwa aus der Bibel die Menschenrechte, aus der athenischen
Demokratie die moderne Demokratie „herausgelesen“, weil hineingelesen
werden. Die islamischen Rechtsgelehrten und geistlichen Autoritäten der
islamischen Gesellschaften wissen, warum sie sich dieses „Heraus- und
Hineinlesen“ moderner Ableitungen und Inhalte entschieden verbitten und
generell zu verbieten trachten.

Dies ist eben der tragische Knoten eines Konflikts zweier Kulturen, den kein
noch so gutwilliger Dialog, keine noch so rücksichtsvolle Diplomaten-Rede,
keine noch so pazifistisch gesonnene „allgemeine Menschlichkeit“, kein noch so
bemühter „kultureller Austausch“ und schon gar nicht ein „den Anderen und
Fremden“ in seiner Eigenheit tolerierendes Anerkennen und Bewundern lösen
oder gar durchschlagen kann.

Hassan al-Banna, der 1928 die Bewegung der Muslimbrüder in Ägypten
gründete und 1938 in einem ausführlichen Traktat den islamistischen
Märtyrertod zur Durchsetzung politischer Ziele rechtfertigte, formulierte den
Knoten klar und deutlich: „Es liegt in der Natur des Islams, zu herrschen und
nicht beherrscht zu werden, seine Gesetze allen Nationen aufzuzwingen und
seine Macht über den gesamten Planeten auszuweiten.“

Die westlichen Reaktionen auf Manifeste dieser Art sind ebenso gespalten wie
jene der islamischen Welt. Was für die Toleranzdenker als orientalische
Kuriosität oder religiöse Obsession eines ägyptischen Volksschullehrers
passiert, bis hin zu absurden und selbstmörderischen Folgen, ist für die
Gegenpartei das gefährlich Modellbeispiel eines Islams, der sich nach dem
Modell seiner heroisch-imperialen Epoche neu begründen möchte.

Dagegen hilft nach Aussagen westlicher Islamwissenschaftler, die sich in die
Glaubenswelt der islamischen Schriften eingelesen haben, nichts als eine immer
weiter „erweiterte“ Deutung von Koran und Scharia. Noch sei beispielsweise die
Scharia nicht so weit umgedeutet worden, um die Gleichberechtigung von Mann
und Frau islamisch zu begründen, aber steter hermeneutischer Tropfen werde
auch diesen archaischen Stein höhlen und zum Verschwinden bringen.

Hier der westliche Toleranz- und Konsensdenker, dem die Anerkennung und
Bewunderung, Tolerierung und Förderung des Anderen als Anderen, „des
Fremden als Fremden“ über alles geht; dort der westliche Islamologe, der die
fundamentalistischen Obsessionen durch hermeneutische Selbstauflösung der
islamischen Quellen zur Implosion bringen möchte.

IX.
Alle diese Fragen kreisen um eine und einzige: ist es möglich, eine islamische
Demokratie begründen? Wenn ja, wird sie auch zu realisieren sein; wenn nein,
wird sie immer nur als Scheindemokratie möglich sein. Diese Alternative sollte
jenen, die das Prinzip der „erweiterten Deutung“ praktizieren, als unerbittliche
Alternative klar sein. Auch hier kann der Westen auf eine lange
Erfahrungsgeschichte verweisen: wie zwischen Politik und Religion geschieden
werden mußte, um die moderne Demokratie und ihre Gründe zu finden und zu
verwirklichen.

Daher sollte man nicht hinter dem Berg (der Geschichte) halten: Gründe für
moderne Demokratieprinzipien in vormodernen religiösen Schriften suchen
wollen, gleicht dem Versuch, in Wasser nach Öl fündig werden zu wollen. Statt
Gründe wird man immer nur „Beziehungen“ finden, und von diesen umso mehr,
je mehr man finden möchte. Grund dieser Grundlosigkeit ist die notorische
Unzuverlässigkeit aller menschlichen Sprachen, in deren Räumen sich stets alles
mit allem „in Beziehung“ setzen läßt.

Wer die Sätze der Scharia oder des Koran über stammesgeschichtliche
Zusammenkünfte als „Hinweise“ auf moderne Parteien oder Parteigründungen
deutet, huldigt einer „sprachlichen Begründung“, die durch
Gedankenkorruption erkauft wird. Kein Element der modernen Demokratie
kann durch vormoderne Schriften, heilige oder nichtheilige, gefunden,
begründet und vereinnahmt werden. Wenn es dennoch geschieht, muß ein
hoher Preis – der von Selbst- und Fremdbetrug – dafür bezahlt werden.

Bekanntlich wünschen aber viele Moslems in allen islamischen Ländern,
vermutlich sogar mehrheitlich, ein irgendwie demokratisch funktionierendes
System mit Parteien, Gewaltentrennung, friedlichen Machtablösungen,
gesetzlich verbrieften Gleichheitsrechten und anderen Freiheiten mehr.

Grund dieser von den Fundamentalisten verteufelten Verwestlichung war und
ist die Einführung von Nationalstaaten in der Zweiten Welt. Seitdem dieses
Trojanische Pferd in der islamischen Kultur festgesetzt wurde, ist Feuer auf dem
Dach nicht nur, es brennt durch alle Etagen und Wohnungen der islamischen
Gesellschaft.

Wenn daher westliche Islamforscher den islamischen Modernisierern raten, die
Deutung von Koran, Scharia und Sunna immer weiter zu erweitern, bis auch die
Gleichberechtigung von Mann und Frau, und letztlich alle modernen
Freiheitsgrundrechte aus dem heiligen Codex abgelesen werden können,
agieren sie als Agenten des Trojanischen Pferdes und erregen zu Recht die
Aufmerksamkeit aller islamistischen Fundamentalisten und Jihadisten.

Dennoch gibt es aus dem erreichten Entwicklungsstand kein universales Zurück;
eine Regel, die durch Ausnahmen – die Talibanisierung Afghanistans – nur
bestätigt werden kann. Eine Einsicht, die selbstverständlich keinen Jihadisten
dazu bringen wird, von seinen fundamentalistischen Träumen und Programmen
zu lassen.

In der Sprache des Westens: überall in den islamischen Ländern sind seit etwa
einem Jahrhundert gravierende Säkularisierungsprozesse im Gange bei
gleichzeitigem Festhalten am islamischen „Bezugsrahmen“; und
selbstverständlich in jedem Land je nach Entwicklung mit anderer Intensität,
anderer Reichweite, anderen Gefahrenpotentialen. Und in den allerwenigsten
Fällen wird der vormoderne Geist seine Felle an den modernen Geist freiwillig
und friedlich herausgeben.

Zur Recht rechnen die meisten Islamforscher daher mit einer weiteren
„geraumen Zeit“, ehe sich wirkliche Demokratien in der Zweiten Welt einstellen
werden. Am Brennpunkt der künftigen Entwicklung, am Gordischen Knoten der
weltgeschichtlichen Zäsur, kommt niemand ungeschoren vorbei: ob und wie es
säkularen Gesetzen gelingen wird, den Einfluß religiöser und pseudosäkularer
Gesetze zurückzudrängen.

März 2011