71 Die Fortschritts-Spirale der modernen Wissenschaft
Hegels Mystifikation der Bewegung
Die Physik muß den Begriff der Bewegung physikalisch definieren. In ihrer Perspektive: ohne philosophische Erblasten und Vorurteile, mit einem Wort: metaphilosophisch. Die Behauptung Hegels, die Bewegung jedes bewegten Körpers beweise, daß sich dieser an zwei Orten zugleich befinde, muß in der Perspektive des Physikers den Verdacht erregen, ein altgebackener Philosoph möchte den Verstand der neuzeitlichen Naturwissenschaft einer vorwissenschaftlichen Mystifikation opfern. (Hegel wollte mit seiner kategorischen These „nur“ demonstrieren, daß jeder Begriff von Bewegung, der die permanente Wechselwirkung von Kontinuum und Diskretum nicht in sich integriert und nicht begriffen hat, vor- und untervernünftig bleibt)
Doch beschäftigt sich die physikalische Bewegungslehre vor allem mit Gegenständen, die sich als schwere Massen zueinander verhalten, und wenn sie die Gesetze untersucht, unter denen sich Massen mechanisch zu einander verhalten, scheint sie von allen philosophischen Anfechtungen befreit zu sein. Wenigsten in der Mechanik soll die Philosophie keine ihrer oft und gern gerügten Fehltritte tun dürfen.
Newtons Gesetze des Bewegens
Das Newtonsche Grundgesetz K=MB konstatiert eine Verbindung zwischen einer Kraft K und der durch diese bewirkten Beschleunigung B einer Masse M. Je stärker die anstoßende Kraft, umso rascher bzw. höher die Geschwindigkeit der beschleunigten Masse. Dieses Grundgesetz der Natur verkündet eine universale These über alle Systeme, in denen sich mechanische Verhältnisse zutragen. Wo sich Massen mechanisch zu einander verhalten, regiert ein Feld beteiligter Massen und deren Kräfte. Kräftigere beschleunigen weniger kräftige.
Wird nun das Zueinanderverhalten der beteiligten Massen als Wechselwirkung von Stoß und Gegenstoß definiert, ergeben sich weitere Gesetze der Mechanik, die gleichfalls ihren meta-physikalischen Grund verbergen und sich auch gegen die qualitativen Unterschiede der Objekte dieser Welt gleichgültig verhalten.
Zugleich bekennen die mechanischen Gesetze unwillkürlich, „ob sie wollen oder nicht“, daß sie über alle anderen Gesetze und deren spezifische Naturen keine Macht haben. Chemische, anorganische und organische Naturgesetze samt ihren Realitäten, kontingenten und gesetzesgehorsamen, sind nicht auf die Gesetze und Inhalte der Mechanik rückführbar. Die biologische Zellteilung folgt ihrer eigenen (organischen) „Mechanik“, ebenso das Verschwinden ganzer Gebirge durch Sedimentierung, oder die Entstehung neuer Gebirge durch Vulkanaktivität. Und die Hoffnung der modernen Teilchenphysik, alle bisherigen Naturgesetze könnten durch die rasch wechselnden Naturgesetze der Quantenmechanik auf dem Müllhaufen der Naturwissenschaft landen, erfüllen sich bislang nur an Schrödingers Katzen.
Wenn die Gesetze der Mechanik für die Begegnungen und Kollisionen aller real bewegten Massen gelten sollen – gleichgültig ob Sonnen oder Planeten, ob Billardkugeln oder Autodrom-Autos – haben sie die Objekte dieser Welt immer schon auf Masse reduziert und „wissenschaftlich gefügig“ gemacht.
Sie ignorieren, daß die Objekte dieser Welt noch andere Eigenschaften enthalten und deren Verhaltensweisen unterliegen, die daher auch anderen Gesetzen oder auch Gesetzlosigkeiten gehorchen und folgen.
Wenn wir ihnen ein eigenes Argumentieren verleihen könnten, würden sie mit überzeugter Stimme verkünden: Masse und Kraft und deren mechanologische Verbindung ist ein zu grobes und abstraktes Gitterraster, um die ganze Realität unserer realen Bewegungen und deren vielfältige Bedingungen und Relationen einfangen zu können. Wir leugnen nicht, daß diese Reduktion zweckdienliche Dienste leistet für die praktischen Zwecke realer Naturbeherrschung, doch fragen wir, ob dieser Vorteil alle damit verbundenen Nachteile aufwiegt.
Reduktionen fordern ihren Preis
Eine ähnliche und nicht weniger verhängnisvolle Reduktion geschieht, wenn die „Qualia“ (die qualitativ unterschiedenen Eigenschaften der Dinge) auf deren Quanta (die quantitativen Unterschiede, die sich an jeder Qualität gleichfalls finden lassen) reduziert werden. Dem bekannten Prinzip der neuzeitlichen Wissenschaft gemäß: Messen, was messbar ist, und messbar machen, was noch nicht messbar ist. Mit dem kaum verhüllten Ziel: Die natürliche Erfahrung natürlicher Menschen in die wissenschaftliche Erfahrung übernatürlicher Menschen zu verwandeln. Oder unverschämt direkt ausgesprochen; in die Erfahrung von Menschen, die als „künstliche Intelligenz“ auf der Erde und unter neuen übernatürlichen Menschen wandeln sollen.
Wie viel weniger sehen schon unsere natürlichen Augen als alle Augen, die mit 3-D-Brillen aufgerüstet und neusehend wurden. Was hindert diese Neu-Augen-Apparate noch vor dem nächsten Schritt: den neuen Menschen zu befähigen, die Röte einer roten Rose errichen und den Duft derselben Rose erschauen oder erhören zu können?
Oder um nochmals auf den Kastanienbaum und seine verträumten Blätter zurückzukommen: Diese Gaukler ignorieren die weltweit anerkannten Fallgesetze der Wissenschaft, sie fallen wie traumhaft in sich selbst verloren Richtung Erdmittelpunkt. Sie taumeln zu Boden, ihrem Eigengewicht und dem momentan regierenden Luftwiderstand folgend. Als würden sie von etwas Süßem träumen: wie schön es war, in den guten Armen eines wirklichen Baumes zu leben?
Dagegen haben es die realen Kastanien der Natur eilig, der gesetzlichen Geschwindigkeit Galileis nahezukommen. Aber benötigen deshalb alle 99 Fallenden eines erwachsenen Kastanienbaums dieselbe Fall-Zeit, um den ungeliebten Erdboden zu erreichen? Wir sollten sie mit den besten Messdetektoren dieser Welt nochmals genau beobachten und bemessen, und wenn es einen ganzen langen Tag und eine lange Nacht kostet.
Widerständige Bewegung
Das unleugbare Faktum, daß im Universum alle materiellen Massen auch mechanisch interagieren, folglich keine mechanische Bewegung ohne Gegenbewegung geschieht, führt auf eine Formulierung des Newtonschen Gesetzes der naturwissenschaftlichen Mechanik, die tief in das reduktive Denken der modernen Physik und ihrer mathematisch gesäuberten Ansicht von Welt und Universum blicken läßt:
Die Formelformulierung lautet: K-MB=0.
Jede Kraft einer Masse, die eine andere Masse beschleunigt, wird durch die beschleunigte zugleich abgebremst. Und diese abbremsende Kraft (-MB) muß von gleich großer Kraft sein. Nichts anderes besagt das Trägheitsgesetz über den sogenannten Trägheitswiderstand T. – Die Einheitsformel des Gesetzes, das sich aus der Summe zweier Gesetze ergibt, lautet daher: K+T=0, weil T= -MB. Noch kürzer resümiert: +MB=-MB.
In einfache Worte und Sätze übersetzt: die Gegenkraft ist so groß wie die erste und scheinbar ursprüngliche Kraft, stoßende und rückstoßende Kraft ergeben in jedem konkreten einzelnen Fall die Summe Null. So spricht das Gesetz der Mechanik, dessen Stimme wirklich zu hören, unsere Wahrnehmung und Erfahrung offensichtlich unfähig sind. Denn schon die Rede und Vorstellung von einer ersten, ursprünglichen und einer später hinzukommenden Gegenkraft ist Täuschung und falscher Schein.
Ähnlich wie es unserer Erfahrung nicht gelingt, den Anschein einer Sonne, die sich von Tag zu Tag wieder um die Erde bewegt, zu überwinden. Jeden Tag steht sie im Osten auf, um im Westen den Schein einer Nachtruhe zu finden.
Und offensichtlich entsteht dieser Schein, weil unsere Wahrnehmung nicht das Ganze des Planetensystems, und schon gar nicht „von oben“ wahrnimmt, was aber nötig wäre, um mit „leibhaftigen Augen“ eine Erde zu erblicken, die ununterbrochen unsere Sonne umkreist. „Wahrnehmungstechnisch“ ist dieser Schein unhintergehbar, dennoch ist unsere Himmelswahrnehmung schon lange nicht mehr die der Pharaonen und ihres mythischen Weltbildes.
Der Stoß als sein Gegenstoß
Und im Fall der Kräfte von Stoß und Gegenstoß sehen wir wohl den Stoß, oder glauben ihn – getrennt vom Gegenstoß – sehen zu können, und dieser Schein genügt, um Gesetz und Wahrnehmung unversöhnbar zu trennen.
Wenn Hegel behauptet, die Kraft ist Kraft nur in ihrer Äußerung, mißtrauen wir auch diesem Satz, weil wir immer schon ein Inneres von Kraft hinzugedacht und vorausgesetzt haben, wenn wir uns eine Kraft vorstellen. Aber die noch ruhende Kraft, beispielsweise eine Kugel, von der noch keine Äußerung ausgegangen ist, ist nicht das Innere der Kraft, an dem unsere Vorstellung, die sich darin sehr verständig und klug vorkommt, labt und festhält.
Daß auch die Physik mitunter an dieser Vorstellung hängt, beweisen ihre Versuche, das Bewegungsverhalten der beteiligten Kräfte auf ein Gleichgewichtsproblem zurückzuführen. Im Widerspruch zu ihrem eigenen Gesetz, wonach entschieden gilt: das Gleichgewichtsproblem ist immer schon gelöst: stets und überall herrscht Gleichgewicht. Dagegen wendet unser beispielfreudiger Hausverstand ein: wenn eine Tausendkilo-Kugel eine Einkilo-Kugel anstößt, herrscht doch zwischen diesen Massen kein Gleichgewicht, man lege sie gefälligst auf eine Waage, um sich zu überzeugen. Womit aber nur bewiesen wird, wie klug sich unser Vorstellen vorkommt, wenn es Kraft auf Masse zurückführt. Für das Gesetz von beschleunigender (K) und träger (Widerstands-)Kraft ist es völlig gleichgültig, ob zwischen den Massen ein Tausend-Kilo- oder nur ein Zehn Deka-Unterschied besteht.
Man könnte in der Sache noch provokanter formulieren: die Kraft wird Kraft erst dadurch und erst dann (somit logisch und zeitlich), daß und wenn sie ihre Gegenkraft überwindet: Ist keine Gegenkraft vorhanden, ist keine Kraft vorhanden; die scheinbar als potentiell existierende Gegenkraft ist eine leere Potenz: eine leere Vorstellung, sie ist keine wirkliche Möglichkeit. Liegen zwei Billardkugeln auf zwei verschiedenen Billardtischen, tun sie einander „nichts zu Leide“.
Und mit Tun und Leiden (actio und reactio), womit die Naturphilosophie das Verhältnis wechselwirkender Substanzen durch ontologische Vernunftkategorien begreift und begründet, ist das physikalische Welt- und Kraftverständnis abermals transzendiert und dessen immer schon vorausgesetzter Grund erreicht. Er wird noch in der realen Negation von Tun und Leiden, die zwei Billardkugeln repräsentieren, die auf zwei verschiedenen Billardtischen Platz genommen haben, anschaubar und angeschaut.
Ontologische und wissenschaftliche Erstbewegung
Moderne Physik und Astrophysik müssen den vorausgesetzten logischen Weltgrund ignorieren, wollen sie ihren Status als „offene“ Forschung nicht verlieren. Dennoch ist die Frage, woher denn eine erste anstoßende Kraft in diese Welt gekommen sein könnte, um eine allerorten und zu allen Zeiten bewegte Welt anzufangen, keine unvernünftige oder auch nur vermeidbare Frage. Aber sie überschreitet und überfordert das Pouvoir der modernen Physik und Kosmologie, die gleichsam ein Stockwerk zu hoch beheimatet sind, um in die ersten Gründe und Anfänge hinunterlangen zu können.
Anders die Philosophie, in deren Ontologien ein erster Beweger spätestens seit Aristoteles unverzichtbar vorausgesetzt wird, um die Schöpfungstheologien der Religionen für diesmal auszuklammern. Und eine unverzichtbare Voraussetzung läßt sich nur als sich selbst voraussetzende Voraussetzung denken und anerkennen. Mit anderen Worten: als fundamentale ontologische Kausalität – ein philosophischer Name für Weltvernunft.
Und eine ontologische Kausalität, die ohne Tun und Leiden, ohne Aktivität und Passivität, actio und reactio oder mit Hegel: ohne Position und Negation auskommen könnte, wäre keine Kausalität, der eine wechselwirkende als höchste aller möglichen Kausalitäten entspringen könnte.
Weil eine bewegte Welt sein muß können, muß in ihrem ontologischen Grund diese Möglichkeit vorgedacht sein können. Ein Grund, der nicht den „forschenden“ Schwankungen und Wankungen unserer Hypothesen unterliegen kann. Verneint man diese Voraussetzung, könnte man noch zu Schopenhauers blindem Weltwillen oder zu einer anderen der vielen blinden Autoritäten des modernen Skeptizismus und seiner irrationalen Varianten Zuflucht nehmen. Womit man vom Regen aber nur in die Traufe gefallen wäre: von der vorletzten in die letzte aller Hypothesen.
Dagegen ist die These, daß Substanzen als real wechselwirkende unmöglich sind, wenn unter ihnen nicht ein erster Anstoß zu einer bewegten Welt angestoßen wurde, trocken und vernünftig. Womit ihnen allerdings ein ontologischer Imperativ unterstellt wird: liebe Substanzen, ihr müßt aktiv werden und bleiben, auf daß es euren Nachfahren wohl ergehe.
Ein Universum oder viele Universen?
Diese metaphorische Umschreibung der ontologischen Begründung dessen, was zu einer physischen Weltbegründung führt, lenkt von der entscheidenden Grundfrage ab: Denn scheinbar kann die Philosophie mit ihrer Begründung durch Vernunft und Begriff nicht die Frage beantworten, ob es ersten Anstoß nur einmal oder mehrmals gibt, gegeben hat oder geben wird. Ob nur ein Universum (dieses gegenwärtige) oder mehrere Universen notwendig möglich sind. Indem sie aber die Vorstellung, es könnte unendlich viele Universen seit einem Anfang geben (können), als nicht denkbaren Begriff erkennt, erkennt sie einen Begriff realisierter Unvernunft und muß erklären: Diese illusorische Vernunft (auch einiger aktueller Kosmologien) reitet lediglich auf dem Rücken des Pegasus einer unmöglichen Metaphysik durch die Köpfe pseudophilosophischer Geister.
Vernehmen Physiker diese Botschaft der Philosophie, müssen sie, wie von einem unerträglichen Hieb und Schmerz getroffen, aufheulen und Protest erheben: Das Denken des Menschen sollte „aus bloßen Begriffen“, ganz ohne Wissenshaft, ohne Erfahrung, ohne Forschung und Experiment berufen und befähigt sein, über den Anfang und Grund dieser Welt zu entscheiden? Die Vernunft eines unbekannten Erstbewegers sollte über die wissenschaftliche Arbeit unserer fleißigen Köpfe längst schon entschieden haben?
Physik als neue Fundamental- und Naturphilosophie kann eine erste anstoßende Kraft, die zu einer Welt voller Bewegungen führen soll und führen kann, immer nur als physische („physikalische“) Kraft denken und behaupten. Anders ist ihr Modell von Welt und Welterschaffung nicht konstituierbar. Und an empirischen Beweisen für die stattgehabte Anstoßung herrscht bekanntlich kein Mangel. Womit freilich der Anspruch des empirischen Falsifizierens und Verifizierens inflationär werden mußte.
Setzt man beispielsweise einen „Urknall“ als ersten Beweger ein, der nun Alpha und Omega und „alles in allem sein soll“, von dem man aber zugleich nicht weiß, „von wannen“ er gekommen ist, sind wir in eine mißliche Lage geraten und in eine peinliche noch dazu, da wir doch die Grundsätze der modernen Physik nicht verraten wollen, die es nicht erlauben, grundlose Gründe und ursachenlose Ursachen zu akzeptieren.
Der Anfangsstoff der Urmaterie soll beispielsweise eine „unendlich komprimierte Materie“ sein, – ein unendlich kleines, aber mit unendlicher Energie geladenes Atomkernlein, und für diese Vorstellung werden mathematische Gleichungen – mit und ohne Einstein – aus dem Physiker-Ärmel geschüttelt, um dem „mathematisch Unendlichen“ ein realisierungsfähiges „physisch Unendliches“ zu entlocken.
Oder es soll sich zu einem ersten Uratom ein zweites erstes Anti-Uratom uranfänglich gesellen, ein Zwillings-Uratom, das gehorsam dem mathematischen Modell von Symmetrie versus Asymmetrie folgt. Doch klingt die Formel Materie versus Antimaterie um ein Vielfaches „wissenschaftlicher.“
Die Energie des Universums als Nullsummen-Spiel
Wenn für das Tandem der beiden Ur-Atome das Naturgesetz des Trägheitswiderstandes bereits wirksam gewesen sein sollte, wäre schon im ersten empirischen Weltanfang das Gleichgewicht von Ruhe und Bewegung als welterschaffendes Grundprinzip tätig gewesen: Die ontologische Kausalität hätte sich erfolgreich in eine empirische Kausalität transformiert. Oder mit Hegel: ein Gedanke, den Gott „gleichsam“ vor der Erschaffung der Welt dachte, hätte sich in die Wirklichkeit einer realen Anfangswelt umgesetzt.
Entsprechend verkündete der Physiker Arnold Sommerfeld am Beginn des 20. Jahrhunderts eine lückenlose Universalisierung des Trägheitswiderstandes zu einem konstanten Naturgesetz: „Der Trägheitswiderstand steht mit der äußeren [stoßenden] Kraft vektoriell im Gleichgewicht.“
Wovon sich die Welt der Natur bis heute nicht verabschiedet haben kann, und daß dieses „ewige Gleichgewicht“ empirisch nicht beobachtbar und nicht meßbar ist, schon weil sich vollkommene Ruhe physikalisch nicht oder nur scheinbar als träge Masse und träge Energie („Nullgeschwindigkeit“) feststellen läßt, könnte eher ein Beweis seiner Realität als seiner Irrealität sein.
Auch Dieter Wandschneider, Physiker und Philosoph (Naturphilosophie 2008, S.71) bemerkt, daß das „naturphilosophisch Bedeutsame“ der exakten Kompensation von actio und reactio nicht zuletzt deren Nicht-Beobachtbarkeit ist. Das Kompensationsgesetz und dessen verborgenes, weil nur unserer denkenden Erkenntnis zugängliche
Gleichgewichtsgeschehen sei dem Augenschein unserer Weltwahrnehmung vollkommen zuwiderlaufend.
Wieder eine Analogie zu unserem undurchdringlichen Augenschein der Sonnenbewegung: Unsere Sonne verbirgt uns ihr tatsächliches Verhalten in Relation zur Erdbewegung: sie verharrt (relativ) ruhig in deren Zentrum, indes sie sich in unserm Augenschein weiterhin fröhlich um die Erde bewegt: Sie „geht auf“ im sogenannten „Osten“, und sie „geht unter“ im sogenannten „Westen“ obwohl ihr dieses täuschende Verhalten durch streng beweisende Wissenschaft längst schon „untersagt“ wurde.
Auch für Stephen Hawking ist die Summe der Energie im Universum „exakt gleich Null“, weil der positiven Energie der Materie eine gleich große, „gleichsam“ negative Energie der Materie gegenüberstehe. (Hawking, Eine kurze Geschichte der Zeit. Die Suche nach der Urkraft des Universums 1989.) Sollten die naturphilosophischen Grundbegriffe doch mehr als nur Auswüchse oder Erfindungen einer vorwissenschaftlichen Metaphysik sein?
Die neue Welt der Quanten-Natur
Wie bereits erwähnt, regieren in der subatomaren Welt, die durch die Quantenphysik des 20. Jahrhunderts auch theoretisch zugänglich wurde, andere Gesetze und Kontingenzen und vor allem: andere wissenschaftliche Zugangsweisen.
Von experimentellen Messgrößen, die nun über die „Berufung“ zu neuen Naturgesetzen mitentscheiden, (ohne die letzte Entscheidung der globalen „Opinion Leaders“ des Faches restlos vorherbestimmen zu können), ahnten die „alten“ Naturwissenschaften (Galileis und Aristoteles) noch rein gar nichts.
Eine „neue Welt“ wurde entdeckt,- inmitten der „alten“ makroskopischen und mesokosmischen Welt. Diese neue (Wissenschafts-) Welt mußte auch den Sinn von Naturgesetz radikal verändern, – erweitern, sagen die einen – auf eine subkutane Welt einschränken, sagen die anderen.
Erstmals in der Geschichte der Naturwissenschaft ist seit dem 20. Jahrhundert der Konsens führender (am besten mit einem Nobelpreis gekürter) Physiker entscheidend dafür, ob eine neue Entdeckung als Naturgesetz zugelassen wird oder nicht. Prominente Konsens-Entscheidungen wurden unausweichlich, seitdem sich sowohl Entdecker wie auch deren experimentelle Methoden und Deutungen massenhaft vermehrt und meistens mit der Kollektivstimme von Teamworks zur Menschheit reden.
Unter unübersehbar vielen neuen Entdeckungen die wahrscheinlich richtige herauszufinden, hat nach-entdeckende Eliten mit (vorläufiger) letzter Entscheidungsbefugnis unersetzlich gemacht, die nun auch über richtig und unrichtig vorentscheiden müssen, was die Opinion Leader in den nicht ungefährlichen Status von Als-Ob-Philosophen erhebt.
Für die neue Welt einer anderen Natur scheint es nur mehr intersubjektiv erstellte Wahrheiten oder wenigstens Wahrscheinlichkeiten geben zu können.
Aber auch diese Entwicklung bestätigt nochmals das Wort F. v. Weizsäckers über das Verhältnis der Philosophie zur Naturwissenschaft: „Philosophie stellt diejenigen Fragen, die nicht gestellt zu haben, die Erfolgsbedingung des wissenschaftlichen Verfahrens ist.“ (Carl Friedrich von Weizsäcker, Deutlichkeit 1978.)
Und zugleich auch Kants Warnung: „Naturwissenschaft wird uns niemals das Innere der Dinge… entdecken; aber sie braucht dieses auch nicht zu ihren physikalischen Erklärungen“ (Prolegomena § 57,1783.)
Von dieser Entwicklung untrennbar ist die „naturwissenschaftlich-technologische Fortschrittsspirale“, der Herbert Pietschmann seine zahlreichen ebenso philosophischen wie naturwissenschaftlichen Untersuchungen gewidmet hat. (Phänomenologie der Naturwissenschaft 1995/2007 und Das Ende des naturwissenschaftlichen Zeitalters 1980/1995.)
Eine Spirale, deren Fortschritts-Geschwindigkeit sogar quantifizierbar sei, „wenn wir die Zeit vom ersten Auftritt einer theoretischen Idee und ihrer Verwirklichung in einem technischen Gerät messen.“ Etwa von Einsteins Formel E = mc2 im Jahr 1905 bis zum ersten Kernreaktor von 1944.
Leo Dorner, Juli 2023