51 Auf der Suche nach der neuen Weltrevolution
Der Pluralismus der westlichen Demokratien ist eigentlich schon, was die aktuelle Ideologie der vollständigen Diversität fordert und wünscht. Und dennoch erfolgt seit einigen Jahren ein revolutionärer Umschlag. Welcher Umschlag? Ein Umschlag, der eine neue „Leitkultur“ sucht, und mit dieser eine neue Kultur, die den westlichen Pluralismus und Individualismus bisheriger Prägung hinter sich lassen soll. Dazu bedarf die neue Revolution eines neuen Ideals. Dieses lautet: wenig überraschend: wirkliche vollständige Gleichheit aller Ungleichen.
Eben dieses Ziel hätte der bisherige Pluralismus und Individualismus der westlichen Demokratien verfehlt. Klar ersichtlich am Phänomen des allgegenwärtigen Rassismus. Diesem wird nun der Kampf angesagt, ein Kampf, der nicht falsch sein kann, weil er die Zukunft auf seiner Seite hat. Die Grundsätze des bisherigen Pluralismus und Individualismus gingen auf Eliten zurück, die in die Jahre gekommen sind.
Der Stern der europäischen Aufklärung leuchtet nur noch fahl und schwach. Den neuen Eliten gehört die Gunst der weltgeschichtlichen Stunde. Sie sind die große Liebe der neuen Generation, und gegen diese hat noch niemals ein rationales Argument geholfen.
Schon bei der alltagssprachlichen Durchsetzung des Kampfbegriffs „Rassismus“ war eine unerschütterliche Glaubensgewissheit der neuen Eliten zu beobachten.
Diese Gewissheit war und ist so fest wie Beton, sie wird von einer Mehrheit des öffentlichen Meinens geteilt. Diese Mehrheit ist keine in den Bevölkerungen Europas, wohl aber der medialen Meinungsbeschaffer: Immer noch: TV, dann verstärkt digitale Medien, zuletzt: Zeitungen, – nicht zu vergessen: zustimmende und machthabende Politiker.
Und auf diesen Zug springt die liebende Jugend, die das Sirenengeheul des aktuell Neuen gierig einsaugt, bereitwilligst auf. Ein Bobo liest seine Medien radikal anders als ein Nicht-Bobo. Und in einer Zeit des Kampfes zu leben, „etwas zu verändern“, am korrupten Status quo der Alten nicht mehr festzuhalten, ihren „Kolonialismus“ zu verabschieden, ihre alten Grenzen einzureißen usf., ist alleweil spannender und „wichtiger“ als am Bisherigen festzukleben.
Die Lust, mit der eine junge Grüne einen Baukran vorm Parlament erklettert, vermag sich kein Oldie vorzustellen, ihm fehlt die notwendige Empathie. Er hält das Ganze für eine Luxus-Revolution verwöhnter Erste-Welt-Jünglinge. Und schon dass er nicht „JünglingIn“ schreibt, macht ihn als Yesterdayling erkennbar.
Nun stößt aber die vermeintlich neue Zentralnorm (Antirassismus jetzt) in der modernen Demokratie auf deren normatives Recht, das bekanntlich schon bisher alle Hühneraugen zudrückt(e), wenn es um Gleichheit, Gleichstellung, „Gerechtigkeitslücken“ usf. ging und geht.
Was tun? Diese bisher anerkannte Tatsache nach Möglichkeit verneinen, verschleiern, wegreden und vor allem – im Kampf um die Dominanz des öffentlichen Meinens – durch Gegen-„Narrative“ und deren „Tatsachen“ ersetzen.
Die zwielichtige Dialektik jedes Nominalismus (Occam war nicht zufällig ein glaubensfester Theologe) steuert auch den neuen Antidogmatismus: keine Ideale, außer den unsrigen, die noch frisch und jung sind. Keine Stereotype, außer den unsrigen, die noch frisch und jung sind. Keine Normen mehr, außer den unsrigen, die noch frisch und jung sind usf.
Und schon droht auch den Märchen der Gebrüder Grimm große Gefahr. Der Pluralismus von gestern ist passé, eine schönere neue Welt wird morgen sein. Aber zugleich greift der Islam in Europa um sich: doch keine neue schönere Welt? (Die Normen der islamischen Kultur stammen, europäisch gesprochen, aus der Zeit von vor 1789 und 1776.)
Gegen das neue Narrativ, das sich als Normativ festsetzen möchte, scheint der westlichen Demokratie nur der „Rechtsweg“ noch offenzustehen. Wenn aber das Recht selbst zukunftsgläubig und utopieliebend wird, was dann? Ein neues 1917 oder 1933 für das neue Europa, für die neue Erste Welt?
War das Zeitalter der Menschenrechte, Prunkstück der europäischen Aufklärung, ein „Kurzes Zeitalter“?
Leo Dorner, Februar 2021