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52 Freiheit und ihre Gründe und Abgründe

I. Freiheit als „weiteste“ Fähigkeit

Ist Freiheit eine Fähigkeit, ein Können oder wenigstens eine Eigenschaft des Menschen? Dem Anschein nach ja; denn wer nicht Klavierspielen kann, ist nicht so frei, dieses Können auszuüben. Und wer taubstumm geboren wird, besitzt in aller Regel die Fähigkeiten des Hörens und Sprechens sein Leben lang nicht. Also ist Freiheit eine Eigenschaft, ein Können, eine Fähigkeit.

Wer den simplen Trick dieses sophistischen Arguments vorführt, vollzieht einen „dunklen“ Schluß von vorhandenen Fähigkeiten auf eine dunkle, auf die der Freiheit. Und da die dunkle Fähigkeit „Freiheit“ nach Belieben definierbar zu sein scheint, kann das Spiel der Bauernfängerei nicht mißlingen. Haben Philosophen den Begriff „Freiheit“ erfunden, um ihre Fähigkeit zum Denken in Begriffen mit der Fähigkeit zur Freiheit zu verwechseln?

Mit einem Wort: Freiheit als eine Fähigkeit unter unzähligen anderen zu definieren, ist kein guter, ist kein sinnvoller Gedanke. Freiheit wäre immer nur eine erweiterte oder vielleicht auch die „weiteste Fähigkeit“ unter allen, aber doch nur eine Fähigkeit und insofern ein Können, die allgemeine Eigenschaft eines allgemeinen Könnens.

Nun ist aber schon das Wort „Fähigkeit“ im deutschen Sprachgebrauch nichts weniger als eindeutig. Es bezeichnet einmal das wirkliche Können: Ich bin fähig, das Können des Klavierspielens realiter auszuführen. Zum anderen aber zugleich nur die Möglichkeit dieser Fähigkeit. Erst wenn ich wirklich ein Klavier bespiele, für mich und daher vor mir oder auch für andere und daher vor diesen als Zeugen, besteht an meiner Fähigkeit zum wirklichen Klavierspiel kein Zweifel mehr.

Man sieht, daß diese Interpretation von „Fähigkeit“ und „Können“ menschenfreundlich tolerant ist: Ob ich gut oder schlecht, dilettantisch oder meisterhaft spiele, steht nicht zur Debatte. Es wird nicht erörtert, denn es geht nur um die „Fähigkeit überhaupt“. Nur um deren behauptete Möglichkeit, die im Moment ihrer Verwirklichung ihre (primitive, einfache, nicht weiter nach Qualitätskriterien befragte) Realisierung erfährt und beweist, ist es hier zu tun.

Kurz: „Fähigkeit“ existiert im Status von Möglichkeit und von Wirklichkeit. Wobei dieser Status jenen umgreift: wer wirklich spielt, hat damit auch die Möglichkeit bewiesen, spielen zu können. Nicht umgekehrt: denn wer behauptet, spielen zu können, könnte dies auch nur behaupten, zu welchen zwielichtigen oder gutgemeinten Zwecken auch immer.

Ist aber Freiheit (des Menschen) keine willkürliche Annahme, keine Illusion und auch keine Erfindung denkfreudiger Philosophen, sondern untrennbar mit dem Status von Mensch gegeben, kann sie nicht im Wechselstatus von Möglichkeit und Wirklichkeit existieren. Kein Mensch kann seine gegebene und insofern vorausgesetzte Freiheit durch sein Tun erschaffen, erarbeiten, aus selbsttätiger Kraft ermöglichen und ursprünglich hervorbringen. Voraussetzung und Setzen der Freiheit konstituieren ein qualitativ anderes Verhältnis als das modale Verhältnis zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit. (Irgendeine Verwirklichung von Freiheit existiert daher für Menschen immer schon, wie jeder Yogi beweist, der seine Freiheit dazu benutzt, seine Nasenspitze stundenlang zu begutachten, um sich in eine höhere Art von Spiritualität zu erheben.)

Und dennoch ist es zugleich richtig und wahr, daß wir uns erst durch Handeln und Taten im Element der Freiheit angekommen erfahren und empfinden. Ohne Tun und Handeln, oder gar ohne Wollen und Beabsichtigen von Zwecken scheinen wir nur wie (unnötige) Parasiten an der Freiheit zu existieren. Diese bliebe wohl Grundlage, die jedoch nur dazu diene, unserer Faulheit oder unserem Bedürfnis nach Erholung eine unverzichtbare Hängematte zu gewähren.

Es ist merkwürdig: einerseits mag der Mensch tun, was er will und beabsichtigt, oder auch nichts tun, weil er ein Nichtstun zuzeiten absichtlich bezweckt: sein vorausgesetztes Frei-Sein wird dadurch nicht berührt, nicht verändert, nicht vernichtet. Doch andererseits erfährt er sich erst durch die Betätigung seiner vorausgesetzten Freiheit als wirklich freier Mensch. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären und lösen?

Nach dem ersten Satz des Widerspruchs ist die Freiheit immer schon da und bedarf keiner weiteren Akte und Betätigungen, um freie Menschen zu realisieren. Nach dem zweiten Satz ist das genaue Gegenteil gültig: nur die betätigte Freiheit übersetzt die vorausgesetzte aus ihrer unbeteiligten und gleichsam toten Ruhe in reale und lebendige Freiheit.

Existiert sie demnach doch im Modus von Möglichkeit und Wirklichkeit? Falls ja, dann offenbar nicht in derselben Art und Weise, die den erörterten Begriffen von Fähigkeit und Können, von möglichem und wirklichem Können zukommt.

Denn die „Fähigkeit“ und auch das „Können“ sind in unseren Lebenszusammenhängen eine jeweils bestimmte Möglichkeit zu einer bestimmten wirklichen Tätigkeit. Und diese beiden Modi müssen daher permanent (regelmäßig oder unregelmäßig) wechseln können: Unsere Fähigkeit, Klavier zu spielen, darf beizeiten ruhen und in den Zustand schlafender Möglichkeit zurücksinken. Unser freies Changieren zwischen Tun und Chillen ist mit dem Modus Willkürfreiheit offenbar eng verwandt.

Dagegen ist die Freiheit des Klavierspielen-Könnens an ihre immanenten strengen Notwendigkeiten gebunden. Es sei denn, wir erlauben uns die (Willkür)Freiheit, das sogenannte aleatorische Klavierspiel als wirkliches Klavierspiel anzuerkennen. Willkürfreiheit läßt sich demnach als entgrenzte Notwendigkeitsfreiheit definieren. Ein Umschlag von Notwendigkeit in („totale“) Freiheit, dessen „Konstrukt“ lediglich durch theoretische Begriffe erfunden und behauptet zu sein scheint. Und doch wurde das scheinbare Konstrukt auch Realität, in der Geschichte der „Neuen Musik“ etwa, als die Notwendigkeits-Grenzen bisheriger Musik-Freiheit problematisch wurden: In den Neuen Künsten sei selbstverständlich geworden, daß nichts mehr selbstverständlich ist: Adorno.

Aber die vorausgesetzte Freiheit, die wir als bleibende Wirklichkeit des Menschen annehmen müssen, ist sozusagen mehr als selbstverständlich, sie ist von einer Selbstverständlichkeit, die nicht von den Veränderungen der Kulturgeschichte der Menschheit abhängt. (Wie es sich damit am Anfang der Menschheitsgeschichte verhalten haben mag, als durch sogenannte Hominisation von Primaten erstmals freie Menschen „von den Bäumen stiegen“ oder – nach religiöser Ansicht – in Paradiesgärten durch göttlichen Anruf zum Menschsein befreit wurden – ist eine Frage, die einem philosophischen Denkverbot – durch Religionen oder (wissenschaftlich erzeugte) Ideologien – nicht mehr unterliegt.)  

Die vorausgesetzte und grundlegende Freiheit ist von der jederzeit durch Menschen anzuwendenden Freiheit nicht nur graduell unterschieden. Die angewandte ist für unübersehbar viele Freiheiten qua Fähigkeiten offen und diesen – vor allem – verpflichtet. Die vorausgesetzte hingegen wird durch keine spezielle Fähigkeit ermöglicht, auch nicht durch die berüchtigte Selbsterschaffungsfreiheit existentialistischer Philosophen (Sartre), die sich einen Spaß daraus machten, Nietzsches Übermenschen-Phantasien nochmals zu überbieten zu wollen.

Während daher im Feld der bestimmten Fähigkeiten deren Möglichkeit in eine bestimmte adäquate Wirklichkeit übergeht, verharrt die vorausgesetzte (Mehr-als-)Fähigkeit der grundlegenden Freiheit bewegungslos in sich – entweder wirklich ruhend oder in einer eigentümlichen Art von Bewegung bewegt. Es ist schwierig, für dieses Verhältnis „zweier“ Freiheiten anschauliche Beispiele in der Welt der sinnlichen Erfahrungen zu finden.

Daher unser Problem, Sätze wie den folgenden auf Anhieb (prima vista) zu verstehen: Die grundlegende Freiheit wird, wenn eine bestimmte Freiheit qua Fähigkeit aus ihrer Möglichkeit in ihre Wirklichkeit übergeht, immer schon mit und daher immer schon „davor“ (logisch vorausgehend) realisiert. Wie sollen wir eine Realisierung ohne Bewegung oder eine Realisierung durch eine unbekannte Bewegung verstehen?

Unser Dasein als (meist kümmerliche) Rechenkünstler könnte uns helfen: Wenn wir im Schaltkreis des Kleinen Einmal-Eins rechnen, betätigen wir den Logos der einfachen Zahlen unwillkürlich, wir bestätigen diesen Logos-Grund durch eine pars-pro-toto-Wiederholung eines seiner unübersehbar vielen Realisate. (Und würden dies auch tun, wenn wir ein nicht-dezimales oder irgendein anderes Kleines-Einmaleins betätigen würden.) Auch unsere elektronischen Taschenrechner stehen diesbezüglich unter Wiederholungs- und Bestätigungszwang.

Allenfalls ein moderner (Wissenschafts-)Künstler könnte, mit oder ohne Kabarett-Schlagseite, ein Projekt realisieren, das Rechnungen auf der Grundlage von 2+2=5 vorführte, weil das Logos-Gesetz von 1+1=2 dank „innovativer Kreativität“ außer Kraft gesetzt wurde. Sein Versuch bliebe als antinormales Rechnen erkennbar, solange nur die übrige Welt fähig bleibt, ihr normales Rechnen nicht als unfreies oder sonstwie gestörtes („rassistisches“) Rechnen zu denunzieren.

Die erste Bedingung existierender Freiheit ist demnach einzig nur diese, als gesunder und geistig wie körperlich unbehinderter Menschen geboren worden zu sein. Und die zweite Bedingung folgt aus der ersten: Fähigkeiten zu vernünftigem Handeln erwerben und realisieren zu müssen und zu können.

Daß behinderten Menschen der Status von (grundlegender) Freiheit nicht abgesprochen werden darf, folgt aus dem menscheitsgeschichtlich erreichten Niveau moralischer Freiheit, die als politische realisiert wurde. Auch der Status eines angeborenen Sklaventums, wie in der Antike selbstverständlich, wurde obsolet, nachdem erkannt worden war, daß nur metareligiöse Grundsätze zu menschenrechtlichen Normen führen, die das Ende der Sklaverei vorbereiten und realisieren können.

Daß ein Verbrecher, der lebenslang eine Strafe für schwere Verbrechen büßt, seiner grundlegenden Freiheit nicht verlustig geht, auch wenn seine („Anwendungs“- oder „Fähigkeiten“-)Freiheit extrem eingeschränkt wird, sollte unter vernünftigen Rechtsgelehrten, keinem Zweifel unterliegen.

Daß eine an Demenz (oder ähnlichen Krankheiten) leidende Person auch ihrer grundlegenden Freiheit verlustig gehen kann, ist gleichfalls evident, auch wenn daraus noch kein Recht auf Vernichtung dieser Person folgt, weil sie ihre (Freiheits-)Identität nicht mehr festhalten kann. In diesem erbarmungswürdigen Fall des Menschen wird die Möglichkeit zum Menschsein für Wirklichkeit angerechnet, – das Gegenteil würde in unmenschliche Barbareien führen. Menschen würden befugt, zwischen lebenswertem und lebensunwertem menschlichen Leben zu unterscheiden.

Der doppelte Grund der conditio humana bleibt also bestehen: Freiheit wird einmal gegeben und geschenkt, dann aber wirkt sie als verpflichtender Antrieb, bestimmte Zwecke, meist solche, die in einer Welt unter Menschen vorgegeben sind, zu verwirklichen. Man nennt es „Selbstverwirklichung“, meint aber Freiheitsverwirklichung.

Auch in unseren vorphilosophischen Diskursen scheint die Gleichung Freiheit=Fähigkeit nicht ohne Rest aufzugehen: Diese Gleichung taugt nicht als Prämisse und nicht als Grund unseres Unterscheidens zwischen positiver und negativer Freiheit. Auch diese beiden realisieren sich als bestimmte Fähigkeiten, aber sie sind nicht Grund ihrer selbst als Fähigkeiten. Ihr Grund muß tiefer oder höher liegen. Unsere Unfähigkeit, das Matterhorn mit unseren Händen von hier nach dort zu tragen, wird nicht unter negativer Freiheit rubriziert, wohl aber unsere Entscheidung, unter den hunderttausend jährlichen Besteigern des gesuchtesten aller Alpengipfel uns sich nicht einreihen zu wollen. Unsere „Entscheidungsfreiheit“, die jeder Fähigkeitsfreiheit vorausliegt, scheint viel mehr und etwas anderes als jede Fähigkeitsfreiheit zu sein.

Und sie scheint eine merkwürdige Art von „Eigenschaft“ des Menschen zu sein: weder eine nur theoretische noch eine nur praktische, weder nur ein Denken-Können, noch auch nur ein Handeln-Können.

Behaupten wir aber, Freiheit sei eine „absolute Eigenschaft“ des Menschen, müßten wir erst noch das Substrat, das Ding, die Substanz und das Wesen suchen, an dem diese fulminante Eigenschaft eine (unverzichtbare und daher „absolute“) Eigenschaft sein könnte. Wieder stellt sich die schon erwähnte Frage ein: ist die vorausgesetzte und geschenkte Freiheit eher ein ruhiges Sein oder doch eine bewegte und bewegende Bewegung oder eine (unbekannte und vielleicht unerkennbare) Vereinigung beider?

Vielleicht kann uns der Begriff der Willensfreiheit weiterhelfen? Freiheit könnte eine Eigenschaft des menschlichen Willens sein. Oder verhält es sich genau umgekehrt: Freiheit wäre die Substanz, und Wille und Denken und alle geistigen Akte, auch jene, die wir mittels unserer Sinne ausführen, wären die Eigenschaften einer Substanz namens Freiheit? Freiheit als Substanz des Menschen?

Eine These, die sich vielversprechend ausnimmt, auch verwegen und kühn, aber wodurch und wie könnten wir sie von ihrem hypothetischen Status, nur eine These zu sein, befreien?

Offensichtlich hat unser Spielen mit dem Wort Freiheit, das uns eine Unmenge an Freiheiten beschert, (Willensfreiheit, Handlungsfreiheit, Meinungsfreiheit, Entscheidungsfreiheit, Religionsfreiheit usf.) eine ablenkende Funktion. Wozu noch über Freiheit, deren Begriff, deren Genealogie, deren Grund und Notwendigkeit nachdenken, wenn sie uns ohnehin in unerschöpflichen Variationen serviert wird?

  1. Freiheit und Feldforschung

Es scheint nichts leichter zu sein, als rasch und direkt zu einem verbindlichen Freiheitsbegriff vorzustoßen. Unzählige Arten von Freiheit mögen existieren, doch darin müssen sie alle eins und eines Wesens sein: ihr Gattungsbegriff muß ein und derselbe sein. Und aus diesem, gleich wie aus der ursprüngliche Quelle eines Stroms, der sich in viele Teilströme verzweigt, gehen alle hervor, sie sind desselben Wassers Kinder.

Das All aller Freiheiten mag unerschöpflich vielfältig und äußerst beweglich sein, das Zentrum aller Arten und Varianten ist dennoch ein ruhiges und einfaches Wesen. Zwischen unseren Freiheiten läßt sich behende und spontan herumspringen, wenn wir nur nicht unterlassen, bei jedem Sprung mit dem unverrückbaren Zentrum verbunden zu bleiben.

Aber gesetzt, das Wesen wäre auf diesem Wege erreichbar, wäre damit auch ihr Grund, ihre oberste Quelle verbindlich bewiesen erreicht? Oder hätten wir doch nur eine Konstruktion unseres Denkens erreicht, eine Abstraktion unseres Denkens der Freiheit, die von allen Besonderheiten aller Arten abstrahiert und daher nur wähnt, die Vater- und Mutterschaft aller Arten der Freiheit wirklich erkannt zu haben? (Ein gestandener Gehirnforscher, ein gestandener Soziologe, Psychologe usf. oder gar ein gestandener Evolutionsbiologe wird sich beharrlich weigern, diese Abstraktionen als eindeutige wissenschaftliche Belege einer real existierenden Freiheit zu akzeptieren. Unnötig zu ergänzen, daß er alle philosophisch begründeten Freiheitsbegriffe ins Land phantasiebegabter Hypothesen verweisen wird.)

Der Weg der Abstraktion serviert uns tatsächlich ein Panoptikum an Eigenschaften, verpackt in wohlbekannte Worte, an die unsere Reflexion die altbekannte Frage stellt: ins Kröpfchen oder ins Töpfchen? Ins Wesen oder nur in die Art, ins Zentrum oder nur in die Filialen, in den unveränderlichen Mittelpunkt des Kreises, oder doch nur an die Peripherie und deren unübersehbar viele Einzelpunkte?

Doch kann uns die Abstraktion nur servieren, was die vorangegangene Induktion empirisch gefunden hat: durch realistische (Feld)Forschung werden Beobachtungen und Befragungen gesammelt, um das breite Feld vorhandener Freiheit(en) zu klassifizieren, neuerdings auch, um keine der vielen neuen Freiheiten, die tagtäglich das Licht der Welt erblicken, zu diskriminieren.

Im Repertoire der modernen Feldforschung, die im Gelände der Freiheit sucht, um fündig zu werden, finden sich unersetzliche Fragen, beispielsweise: „Was ist für Sie Freiheit? Glauben Sie, ein freies Wesen zu sein? Sind sie überzeugt aus Freiheit zu handeln?“

Fragen, die belegen, daß Freiheit bevorzugt noch im Menschen vermutet wird, obwohl Maschinen „aufholen“ – sie werden als „Künstliche Intelligenzen“ hofiert, und der denkende Pavian, der malende Schimpanse sind bereits Legende, um von den Freiheitsleistungen unserer Haus- und Zirkustiere zu schweigen.

Die „Auswertung“ der Feldforschungen dürfte sich ähnlich schwierig gestalten wie bei allen modernen Forschungen, die das Wesen der Kunst, beispielsweise das der Musik, durch Befragung und Beobachtung erheben möchten, und dabei nicht verbergen, mit allen Wassern der Statistik gewaschen zu sein.

Zwischen den Extremen derer, die „meine“ Musik für das Wesen der Musik nehmen und dem anderen Extrem, das anerkennen möchte, nur das Insgesamt aller Arten von Musik käme noch als Kandidat für ein „identisches“ Wesen der Musik in Frage, liegt eine diffuse und verworrene und überdies aussterbende Mitte: Sie defiliert und paradiert vor den Befragern mit altem Schule-Wissen oder Bruchstücken aus angelernten Musik-Ästhetiken (von Platon bis Schopenhauer und darüber hinaus) oder auch nur mittels Promisprüchen: „Musik die Sprache der Herzen“, „Musik ist die einzige Sprache, die alle Menschen verstehen.“

Für beide Extreme erübrigen sich alle weiteren Wesensfragen über Musik von vornherein. Und die prekäre Mitte kann es nicht wagen, ihre Restbildungs-Stimme als die der Vernunft auszugeben.

Ähnlich wäre es seinerzeit antiken Forschern ergangen, die etwa im Athen des Perikles durch Volksbefragung herauszubringen versucht hätten, was die Athener für das Wesen aller ihrer Mythen halten. Natürlich wäre nicht das Wort „Mythen“ gefallen, auch nicht das von Kunst und Künsten, sondern irgendwelche anderen Namen, die damals jedermann so vertraut waren, wie uns Heutigen das unübersehbare Panoptikum an Künsten und Musiken.

Die empirischen Freiheitsforscher der Gegenwart sprechen nicht zufällig von „semantischen Gewässern“, in denen unzählige Freiheitsbegriffe auftauchen, denen man wie begehrten Fischen nachjagen sollte, um sich ihrer zoologischen Eigenschaften wissenschaftlich zu versichern.

An endlos langen Perlenschnüren werden uns endlose Reihen vielfältigster Freiheitsbegriffe dargeboten, wie zum Beweis einer Tatsache, die jedem vertraut, aber kaum noch jemanden verwundert, kaum noch jemanden erfreut: Wir leben in einem Schlaraffenland der Freiheiten. – Handlungsfreiheit, Willensfreiheit, Meinungsfreiheit, Wahlfreiheit, Autonomie und Verantwortung, auch Gewissensfreiheit und Religionsfreiheit, und last not least: positive und negative Freiheiten ohne Anfang und Ende: Freies Herz, was begehrst Du mehr?

Und könnte die Freiheit, nicht wissen zu müssen oder zu können, was die Freiheit sei und woher sie komme, als allerhöchste Freiheit, als Gut aller Güter zu respektieren sein? Dann glichen wir Fische-Jägern in einem unbekannten Meer, das uns immerfort nur unbekannte Fische darbietet.

  1.  Nominaldefinition versus Systemdefinition

Eine beliebte Floskel, das Wesen der Freiheit lexikonreif zu definieren, ist die Eigenschaft oder der Akt eines Sich-Selbst-Bestimmens. Eine allerdings arg „umstrittene“ Formel und Eigenschaft. Denn alle Deterministen dieser Menschheit werden nicht müde zu behaupten, daß jeder, der glaube, sich aus Freiheit selbst – zu Handlungen und Zwecken, zu Inhalten und deren Auswahl –„bestimmen“ zu können, übersähe oder leugne bewußt und schamlos ein nicht aus der Welt zu schaffendes Faktum: Alles, wozu sich ein Mensch selbst bestimme, entschließe und entscheide, sei immer schon durch tausend unfreie Gründe, fesselnde Notwendigkeiten und determinierende Zwänge vorherbestimmt.

Doch dieser Streit (zwischen Deterministen und Anti-Deterministen)möge uns erst später interessieren. Hier rücke zunächst die Manier des Definierens ins Zentrum: Diese erregt den Verdacht, den logischen Fehler einer petitio principii zu begehen: Man gibt vor, ein allgemeines Wesen von Freiheit definiert zu haben, indem man lediglich eine spezielle Freiheit und auch diese nur namentlich vorgeschoben hat. Folglich wäre von Nominaldefinitionen unter keinen Umständen eine wesentliche Aussage über das Wesen (aller Dinge) zu erwarten.

Das „Sichbestimmen“ scheint zwar eine allgemeine Fähigkeit und ein grundlegendes Können zu sein, doch indem es wieder nur durch einen bestimmten Inhalt und Zweck bestimmt wird, zu dem man sich bestimmen könne, bleibt die „Figur“ des „Sich-Selbst-Bestimmens“ selbst vorerst noch unbestimmt oder nur willkürlich bestimmt: eine Behauptung mehr nicht. Und statt einer Definition erfolgt einer jener Zirkelschlüsse, die niemals in das Innere eines allgemeinen Grundbegriffs vordringen können, weil man diesen, kaum ist sein Name genannt, schon erblickt wie der Hase seinen Igel, der ihn immer schon erwartet, weil er immer schon da war.

Trifft dieser Vorwurf zu, wäre daraus eine unumgehbare Lehre zu ziehen: nur Systemfragen und Systemantworten sind fähig, Wesenheiten zu definieren. Nur innerhalb des Systems der Freiheit als Freiheit ließen sich deren Gründe und Inhalte erobern und erörtern. Aber wie in dieses Reich und dessen Labyrinthe und Höhlen eindringen, sofern sich autarke Gründe für ein autarkes Wesen der Freiheit finden ließen, die allen Anwendungsfreiheiten, auch jenen des Spiels unserer Nominaldefinitionen voraus- und zugrundeliegen?

Zwei unüberwindliche Barrieren stellen sich der Freiheit entgegen: Auf der mental-ideellen Ebene könne die sprachliche Darstellung der Freiheit deren Wesen niemals erreichen. Folglich können sich Menschen über ein verbindliches Wesen von Freiheit niemals einigen. Und auf der realen Ebene stellen sich den Gründen für ein mögliches freies Wesen tausend Gegengründe in der Welt der Physis entgegen: Dort wird die Möglichkeit von Freiheit sprachlich erlogen, hier wird Freiheit als Schein und Fiktion von vorwissenschaftlich Gemütern übermütig behauptet. In allen „objektiven Wissenschaften“ steht Freiheit unter Ideologieverdacht, in allen szientifischen und sprachanalytischen Philosophien unter „kulturellem“ Konstruktionsverdacht.

  1.  Antike Freiheit und Schicksal

In der Antike wurde der Freiheitsbegriff als Gegenbegriff des Schicksals gedacht und begriffen. Denn das Fatum galt als eine numinose Macht, der nicht nur alle Menschen, sondern selbst die Götter der antiken Religionen unterworfen waren. Heute dominiert das Prinzip „Schicksal“, in dessen dunklen Labyrinthen die Vorentscheidungen über die Zukunft des menschlichen Lebens gefällt werden, nur noch in den Denkweisen der Wahrsagerei und Astrologie. Von fatologischen Prinzipien und Mächten, die seine Freiheit bedingen und einschränken, läßt sich der moderne Mensch nur noch in „Ausnahmesituationen“ überzeugen.

In der späten Antike mußte sich die Philosophie des Hellenismus daher – bereits seit Platon – unter großen Mühen und gegen mächtige Einwände an einen Menschenbegriff, dem Freiheit innewohnen könnte (wenigstens allen nicht-barbarischen und nicht als Sklaven geborenen Menschen), erst noch herantasten. Noch bei den römischen Historikern der spätesten Antike nimmt das Schicksal als unpersönliche und unsichtbare und gerade deshalb als unüberwindbare Macht an allen großen Entscheidungen, Kämpfen und Kriegen teil.

Nicht nur gegen innere und äußere Feinde, auch gegen alle Krankheiten und alle Ereignisse, die später als Naturkatastrophen mit eigener Kausalität bewertet wurden, war das Beschwören und Beschwichtigen der dunklen Schicksalsmächte als selbstverständliche religiöse und alltägliche Praxis ubiquitär.

Die „Entzauberung der Welt“, die durch das Christentum in die Lebenswelt der Menschheit einrückte, legte den Grundstein für eine nicht-numinose Welt und Menschheit, für eine Freiheit, deren Zukunft gleichwohl noch lange Zeit unter den antiken Voraussetzungen verblieb. Auch von der Kirche wurde die Sklaverei „naturrechtlich“ legitimiert, für den Apostel Paulus ist sie weder ein Denkanstoß noch eine moralische Anstößigkeit.

Doch führte der Einzug des Freiheitsbegriffes in das Wesen der Menschen, wie von der spätantiken Philosophie vorgeschlagen, den Nachteil für den antiken Menschen mit sich, seine Entscheidungen und Taten nicht mehr durch fatologische Kausalität begründen, motivieren oder auch nur entschuldigen zu können.

Konnte man aber nicht mehr unter dem Zwang diviner oder maligner Mächte (Dämonen jeder nur vorschützbaren Art), sondern „nur mehr“ aus Freiheit handeln, bedurfte man entweder neuer Götter, oder/und eines neuen Menschen. Beide waren im Interregnum der hellenistischen Epoche gleichsam zur Fahndung ausgeschrieben.

Platons ambivalente Haltung zum griechischen Mythos und dessen vielfältigen Mächten banden auch seinen Freiheitsbegriff an numinose Kräfte, denen gegenüber gewisse – mehr oder weniger raffinierte – Strategien notwendig waren. Vor dem Eintritt in sein irdisches Leben ziehe jeder Mensch ein Los, das er jedoch bei seiner Geburt gründlich vergessen hat. Eine pränatale Glücks-Entscheidung somit, die zu seinem (Lebens)Schicksal wird.

Die ursprüngliche Entscheidung erfolgt nicht ausschließlich durch deterministische Mächte, weil die Wahlfreiheit der Seele bereits zugegen ist. Modern übersetzt: Mag die Seele auch in eine adelige Familie hineingeboren werden, welche Rolle ihr darin im realen Leben zufallen wird, darüber hält das Los noch hinter dem Berg, schon weil die Justament-Willkür der Wahlfreiheit mitgespielt hat. Die „Ambivalenz“ der Freiheit bleibt nicht nur erhalten, sie wird durch die mythische Los-Szene apriori begründet.

Mag sie sich noch so frei und „offen“ dünken, noch so frei durchs Leben bewegen, die unsichtbaren Bande und Lassos der Götter und deren Diener sind immer schon gegenwärtig. (Platon sucht nach einem Arrangement mit den Göttern, er will deren Wohlwollen nicht auf die Probe stellen.)

Einerseits soll somit jede Wahl im Leben der Seele determiniert, zugleich aber auch nichtdeterminiert sein. Und nur in dieser zweiten Hälfte der ganzen Seele, wird den freien Mächten der Gerechtigkeit und wahren Erkenntnis Zutritt gewährt. Daraus folgt eine halbe Zurechnungsfähigkeit und eine ebenso halbe Nichtzurechnungsfähigkeit des Menschen. Entsprechend „ambivalent“ mußten sich die politischen und moralischen Lebenssysteme der späten Antike gestalten. Jeden Menschen begleitet sein Genius wie sein Schatten, aber sobald er sich umsieht, erblickt er nur diesen.

Was wurde durch den vor der Geburt erfolgten (halb)freien Schicksalsentscheid konkret vorweggenommen und vorherbestimmt? Einzelne Entscheidungen oder auch Lebenswege-Entscheidungen? Wenn aber beides, in welcher Relation und Ordnung, unter welcher Bevorzugung welcher Arten von Entscheidungen?

Wie verhielt sich Platons diesbezüglicher Mythos (des Er) zu den erwartbaren sophistischen Winkelzügen, die jeder Mensch und auch jedes private oder politische Wir von Menschen anstellen konnte, um seine Entscheidungen und Handlungen zu rechtfertigen? – Es könne jedenfalls nicht schaden, den Göttern gewisse religionspflichtige Opfer zu bringen, lautete Platons halbmythische Antwort.

Damit folgte er seinem Lehrer Sokrates, den bekanntlich nicht einmal sein Todesurteil von seiner Verehrung der Götter und der athenischen Götterverehrer abbringen konnte. Deren Urteil war für ihn bindend: Sein Tun und Handeln als stadtbekannter „Straßenlehrer“ habe das Wohlwollen der Götter verwirkt, er habe die altgläubig integrierte Jugend zu frevelhaften Gedanken und Handlungen verführt.

In eklatantem Selbstwiderspruch entschied sich Sokrates für die Einnahme des todbringenden Schierlingsbechers, denn eine (leicht zu organisierende) Flucht aus der Todeszelle widerspreche dem Willen der Götter. Zwar sei sein Schicksal, als Philosophie-Lehrer völlig neuartige Lebenswege lehren und selbst gehen zu müssen, unumkehrbar, doch bei einer Kollision zweier fundamentaler Pflichten (eine gegen die Götter, eine andere gegen die Wahrheit der entdeckten philosophischen Weisheit) müsse eine der beiden zurückstecken. Sein Weg in den Hades werde ein gerechter, ein weiser und ein gottgefälliger sein.

Den manifesten Selbstwiderspruch in der sokratischen Denkweise konnte auch Platons Deutung des Er-Mythos nicht beseitigen: Wer seinen vorherbestimmten Lebensweg gewählt habe, müsse diesem treu bleiben: Ein Müssen, das durch das (Götter)Los vorgezeichnet war; wer aber mitten auf dem eingeschlagenen Weg gewissen überraschenden Einsprüchen (des Schicksals?) begegnet, die seine Vernunft vor nicht mehr eindeutig zu entscheidende Entscheidungen stellt, habe sein Bestes getan, wenn er nur versucht habe, der Stimme der Gerechtigkeit und wahren Einsicht ein Momentum zu verschaffen.

Schicksals- und Freiheitsgedanke scheinen sich friedlich zu umarmen, ein Konflikt zwischen beiden widerspreche dem Willen und Denken der immerwährend anwesenden Götter. Eine Lösung, deren „offene“ Dialektik von den erschlichenen Argumentationsweisen der hellenischen Sophisten kaum zu unterscheiden war und ist.

Es hat den Göttern nicht geholfen, daß sie noch von Platon von aller Schuld freigesprochen wurden, weil die Verantwortlichkeit für das Handeln der Menschen nicht den Göttern, sondern allein den Menschen zugesprochen wurde. Götter lebten nur noch wenige kurze Jahrhunderte, um schließlich ohne Rückkehr aus der Geschichte zu verschwinden. Ein erstaunliches Phänomen, weil eine ungeheure Vielfalt von Polytheismen die archaische und die „klassische“ Antike geprägt hatten. Was durch Jahrtausende und Jahrhunderttausende von Abermillionen Menschen für selbstverständlich gehalten wurde, war eines Tages hinter dem Horizont verschwunden.

Bereits Aristoteles „dekonstruiert“ die vorgeburtliche Schicksalswahl seiner Altvorderen. Die Differenz von Freiheit und Schicksal resultiere einzig und allein aus der Differenz von individuellen und kollektiven Lebenswesen: Wohinein ein Mensch geboren werde, darin habe sich seine Freiheit zweckorientiert zu betätigen. Und daß die Zwecke der jeweils eingeborenen Kultur gänzlich jeder Vernunft entraten und an eine übervernünftige divine Institution überstellt werden könnten, sei nicht (mehr) als vernünftiger Gedanke zu begründen.

Die erste weltgeschichtliche Stunde religionsfreier Tugenden hatte geschlagen. Bei Aristoteles erscheint eine Vorgestalt der modernen Freiheit autonomer Subjektivität, ohne daß deren Begriffe bereits begründbar gewesen wären. Intuitiv wird zwischen der Freiheit zu freien Entscheidungen und der freien Ausbildung universaler Tugenden ein unverbrüchliches Band geknüpft. Der Weg zu einer universalen Ethik, die keiner Götter und Götter-Bindungen mehr bedurfte, war möglich geworden. Ein Aufstieg der Vernunft in der denkenden Mitte der alt gewordenen antiken Menschheit. Einer Vernunft jedoch, die in auffälliger Weise an der Geschichtlichkeit und Vergänglichkeit der staatlichen Freiheitsmächte kein oder nur wenig Interesse zeigte. Auch die Entwicklung der Künste der hellenischen Kultur sollte künftig nach dem Modell naturischer Zyklen fortbestehen können.

  •  Stoa, Judentum und römisches Recht

Als sich in der Epoche der Stoa ein Götterhimmel ohne Götter zeigte, war auch dies eine (intuitive) Vorwegnahme moderner Weltbilder. Die freigesetzte Subjektivität der Antike schien nochmals ein himmlisches Obdach gefunden zu haben: Zwischen den (ewig gleichbleibenden) Notwendigkeiten des Himmels und den stets wankelmütigen und politisch extrem bedrohten Freiheitsmöglichkeiten der Individuen sollte eine verborgene und bergende Relation bestehen und ergründbar sein. Am klügsten daher das Individuum, daß sich den ewigen Gesetzen eines Logos unterstellt, der sogar am Himmel kosmische Ordnungen hatte durchsetzen können. Seneca hat es nicht geholfen, Nero mußte nur ein halblautes Machtwort sprechen. Aber wie oft und mit stoischen Wünschen erfüllt mag Marc Aurel seine Augen zum „bestirnten Himmel“ über ihm erhoben haben?

Seine Seele ist die eines Kaisers, der an den Grenzen eines berstenden Weltimperiums gegen unaufhaltsam anstürmende Barbarenheere kämpft. Und völlig gleichgültig sollten die Sterne am Himmel dem vernichtenden Treiben auf der Erde zusehen? Rom könnte ohne göttlichen Beistand zugrunde gehen? Die Freiheit des Himmels sollte anderer Herkunft und anderen Willens sein als die der Menschen Roms und seiner ewigen Geschichte? Ein undenkbarer Gedanke noch für die späteste römische Antike.

Die Absicht der Stoa, den Ort des Menschen im Kosmos erstmals verbindlich als moralischen Ort – als Quelle wahrer Tugend und menschlichen Verhaltens – festzuhalten, ist angesichts dessen, was die Zertrümmerung des Polytheismus hinterlassen hatte, verständlich. Zwar wollte man nur „in Übereinstimmung“ mit dem Kosmos handeln, aber diese Übereinstimmung sollte zugleich ein vollkommen freies Handeln des Menschen ermöglichen. Eines, in dem das von Platon nur gesuchte Ideal eines Ausgleichs von Freiheit und Schicksal erreichbar sei. Als Glück einer neuen und endgültig zu sich befreiten Menschheit.

Auch darin lassen sich Keime dessen finden, was die Vernunftaufklärung Europas viele Jahrhunderte später zum Programm ihrer Freiheitsziele erheben sollte. (Eine natürliche Vernunft schien alle Menschennatur und alle kosmische Natur zu begründen und zu umfassen. Eine Monadologie à la Leibniz avant la lettre…)

Eine greifbare Vorherbestimmung des menschlichen Lebens und Verhaltens ließ sich jetzt kaum noch ausmachen: Nicht, weil Sterne und Himmelsgesetze in weiter Ferne lagen und wirkten, sondern weil im Menschen der Spätantike ein anderes Licht aufging. Einmal ein neureligiöses inmitten der jüdischen Religion, zum anderen und schon davor das Licht einer rechtlichen Vernunft. Und deren unübersehbare moralischen Implikationen mußten beizeiten – individuell und politisch – explizit werden. Viele der ersten Christen waren Menschen mit freien Bürgerrechten, die ihnen das „heidnische“ Rom gewährt hatte.

Und gegen diese Doppelgeburt einer völlig neuen Freiheit mußten die Mächte des götterlosen Himmels der Stoa verblassen. Astrologie und Wahrsagerei wurden zu letzten Stationen ihres Verschwindens. Die kausale Eigenlogik menschlichen Handelns war nun evident geworden: die Kaskaden der Ursachen und Wirkungen menschlicher Entscheidungen und Handlungen wurden als autonomer Kosmos zugänglich.

Die Gesetze des Himmels und die Gesetze der Geschichte traten (endgültig) auseinander. Welche Kontingenzen in beiden Gesetzeswelten gleichwohl jederzeit eingehaust sind, ist nach weiteren zweitausend Jahren Wirkungsgeschichte im „Bewußtsein der Freiheit“ kein Geheimnis mehr. (Die antike Tragödie mit ihren Schicksalsspielen hatte sich nicht zufällig an der Zeitenwende eingefunden: Aus dem Mythos erwachsen, wurde sie zu dessen erster, selbst noch halbmythischer Selbstaufklärung.)

Das vermeintliche Triumphbild der älteren Stoa wurde zum Hohnbild: Jenem zufolge sollte ein Hund (als Stellvertreter des Menschen) dem Wagen seines Herrn nicht widerwillig folgen. Er sollte vielmehr die starke Leine des Wagens erschnappen, um völlig „freiwillig“ hinter dem Wagen hinterherzulaufen. Er hätte die Leine des Logos erfaßt und könnte dessen Gesetzen gemäß seinen Lauf in dieser Welt vollenden.

Über den Großen Wagen (alias Großer Bär) als Fuhrwerk wahrer Freiheit wird auch der ansonsten astrologiegläubige Johannes Kepler herzhaft gelacht haben. Heute hängen Abertausende Astronomen allnächtlich an den Sternen nicht nur des Großen und Kleinen Wagens: Aber sie haben gelernt, von den Prozessen in den himmlischen Wägen nicht auf die Prozesse ihres individuellen und kollektiven Lebens zu schließen.

  • Kirche(n) und neue Freiheit

Mit der Ankunft des Christentums in der Geschichte der Menschheit tritt an die Stelle eines vielstimmigen Chors vieler Götter und an die Stelle eines durch strenge Gesetze diktatorischen Jehova sowie eines Gesetzeshimmels der Stoa eine neue oberste Instanz: die Kirche. Nicht mehr Schicksale und deren Verwaltung durch himmlische Mächte, sondern das Wirken eines ebenso allmächtigen wie allgütigen Gottes, der sich nicht zuletzt durch seine Menschwerdung als Liebesgott erweist, rückt auch die Dinge der menschlichen Freiheit in ein neues Licht.

Ein völlig anderer „Himmel“ steht nun über oder vielmehr in und zwischen den Menschen. Diesen Himmel verwaltet eine Kirche, die allerdings schon sehr früh in heillose Widersacher-Kriege darüber geriet, wie die beste und Gott wohlgefälligste Verwaltung der testamentarisch zugesprochenen Heilsgüter zu organisieren sei.

An strenge Abhängigkeiten von einem kosmischen Stoa-Himmel war nun nicht mehr zu denken, und ein rigider Tempelbezirk, zu dessen Verwaltung nur auserwählte Familien oder Stämme Zutritt hatten, war ebenfalls unmöglich geworden. Eine freie Gottesverehrung sollte der neue Gottesdienst sein, und diesen zu erhalten dienten alle Gesetze, Vorschriften und Hierarchie-Regeln, die gleichwohl streng einzuhalten waren. Regeln, die freilich, wie schon erwähnt, mitten im angebrochenen Streit über die gottgefälligsten Gottesdienstordnungen je nach Ort, lokaler Tradition und spezieller Anbindung an die absterbenden hellenischen Kulturen variabel entschieden wurden. Wohl mehr als eine Vorahnung dessen, was dem Schicksal der Kirche(n) in den künftigen Sezessionsbewegungen durch die Bildung von Konfessionen und Sekten „blühen“ sollte.

Einer Begründung und verbindenden Definition der menschlichen Freiheit nahmen sich nun Theologen an, auch einige Kirchenväter und deren Nachfolger, Bischöfe und deren Mitstreiter, weiters Theologen in eigenem Auftrag und Forscherdrang, aber auch alle politisch Mächtigen, die ihrerseits an einer friedlichen und gehorsamen Verwaltung der Heilsgüter des Neuen Testaments durch die mächtig gewordene Kirche interessiert sein mußten. Jedes Reich, das in sich zerstritten sei, hatte auch das Evangelium verkündet, müsse früher oder später zerfallen.

Zugleich wurden die Verbindungen zu den Freiheitsbegriffen der antiken Philosophen niemals gänzlich abgebrochen, waren sie doch selbst in die Verkündigungs-Texte des Neuen Testamentes intuitiv eingegangen. Von Glaube, Liebe und Hoffnung zu reden, ist ohne eine vorausgesetzte Freiheit des „Menschengeschlechts“ nicht sinnvoll möglich.

  •  Freiheit zwischen Kirche(n) und neuen Philosophien

Diese Verbindungen verstärkten sich in den europäischen Renaissancen der antiken Philosophie: die Summen des Thomas von Aquin wären ohne Kenntnis der Schriften Aristoteles‘ nicht möglich gewesen. Und wie sehr der Neuplatonismus das Denken der Theologen und Kirchenoberen durchdrang, belegen nicht nur die Schriften des Cusanus.

Daß es in der modernen Welt um die Beziehung zwischen Theologie und Philosophie, Kirche(n) und Philosophen nicht mehr so günstig steht, ist unmittelbar verständlich: An welcher der neuen Philosophien, die nach Leibniz erschienen sind, sollten Theologie und Kirche(n) diesmal „andocken?“ – Lieber wählt man (in der katholischen Kirche) einen unverrückbar sein sollenden Thomismus als ewigen Anker. Womit das „System“ des Aristoteles als „ewig zeitgemäße“ Philosophie des christlichen Glaubens festgeschrieben wird, obwohl sich die Welt(geschichte) um 2000 Jahre weiter bewegt hat.

Und unter den modernen Philosophien nach Schopenhauer, die sich oft als Philosophien einer außervernünftigen Freiheit oder gar als widervernünftige, freiheits- und glaubensfeindliche Philosophien verstehen, blieben am Ende vermutlich nur noch die existentialistischen übrig, jedoch mit Kierkegaard als radikalem Kirchenkritiker an der Spitze. Oder sollten sich die Kirchen der Gegenwart, mangels philosophischer Partner, eher an die Wissenschaften halten, aber an welche? Oder an die jederzeit wechselnden Ideologien des Zeitgeistes, aber an welche?(Irgendwie an alle, scheint die aktuelle Losung der Kirche(n) zu lauten.)

In der Frühgeschichte des Christentums bewiesen deren Kirchen (quer durch den hellenistischen, afrikanischen und europäischen Raum) eine überragende Geschicklichkeit, die neue Glaubensfreiheit inmitten der vorhandenen kulturellen und politischen Freiheiten zu integrieren. Sogar die staatlichen Strukturen der hellenistischen Verwaltungskultur wurden für kirchliche Zwecke adaptiert, woran noch der Name „Diözese“ erinnert.

Während die altgewordene heidnische Religion das Zeitliche segnete, arrangierten sich Staat und Kirche zu Bündnissen wechselseitiger Nützlichkeit, und der biblische Grundsatz: Wes des Kaisers, ist des Kaisers, was des Gottes, ist des Gottes, schien vollendet und ein für allemal erfüllt. Dem entsprach das theologische Denken des heiligen Augustinus, der als philosophierender Theologe eine führende Definitionsmacht auch in den Dingen der Freiheitsbegriffe ausübte.

Er entsorgte die kosmischen Nötigungen der stoischen Philosophie als unvereinbar mit dem christlichen Glauben an einen allmächtigen und allgütigen Gott. Und für den Gegensatz zwischen der Allmacht Gottes über und in der Menschenwelt einerseits, der Freiheit des Menschen in derselben Welt andererseits, fand er eine elegante Lösung. Die Freiheit des Menschen wurde als Vermögen seines Willens und Erkennens erklärt, Gutes von Bösem zu unterscheiden und ausführen zu können. Theoretische und praktische Vernunft konnten sich weder im Menschen (gegenseitig) vernichten, noch konnten sie Gottes Schöpfung „nachhaltig“ tangieren.

Die Freiheit des Menschen (seine Entscheidungen und Handlungen)konnten den Welt-Ordo des Allmächtigen durch keinen Irrtum, durch keine Fehlhandlung und auch durch kein Totalverbrechen belästigen und stören. Die Schöpfungsordnung, mit der Vorsehungsweisheit Gottes übereinstimmend, stand der Freiheit des Menschen nicht im Weg, obwohl der sündende Mensch alles Böse und Falsche jederzeit und mit großer Kraft und Macht zu befördern wisse.

Mit einem Wort: nochmals war es möglich, mit göttlicher Vorsehungsmacht über Begriff und Realität der Freiheit zu theologisieren. Gottes Wille sei letztlich auf der Seite des menschlichen Willens – eine harmonische Synthese, die man, modern und diplomatisch gesprochen, als optimistischen Voluntarismus abzukanzeln pflegt. Doch nur in der Rückblick-Perspektive moderner Philosophien vom Menschen läßt sich behaupten, Augustinus habe Willensfreiheit durch Wahlfreiheit definiert und umgekehrt. Die Generierung künstlicher (Geistes)Geschwister war seine Sache noch nicht.

Gottes Wille und des Menschen Wille waren noch alttestamentarisch mitvermittelt, eine Vermittlung, die heute bereits herausragender Kenner als Dolmetscher bedarf, um dem modernen Geist nochmals vermittelbar zu werden. Und in der Perspektive des thomistischen Aristotelismus ist der moderne Exzeß einer vernunftlosen Freiheit nur als letzter Sündenfall, die paradiesische Sündenfabel hingegen nur als antiaristotelische Skandalgeschichte erfaßbar.

  •  Neue Kämpfe der Freiheit

In der Neuzeit war das Fatum der antiken und archaischen Götter in weite Ferne gerückt. Es taugte nicht mehr als Gegenbegriff zum Freiheitsbegriff, den dieser jederzeit bedarf, weil er nur an seinem Antipoden als dessen Befreier möglich ist: Freiheit setzt Unfreiheit und daher auch Befreiung von Unfreiheit voraus. Freiheit ist nur als doppelte Negation ihrer Unfreiheit als wirkliche Freiheit denkbar und erkennbar.

Schon das Judentum verstand sich als Teil dieses Kampfes und wurde doch gegen den christlichen Gott und dessen neue Freiheit als alte Unfreiheit definiert und zurückgereiht. Denn in der Perspektive des Christentums wird in der jüdischen Religion durch einen Kanon strenger („pharisäischer“) Traditionen der menschlichen Freiheit Gewalt angetan. Eine partikulare Gewalt, die sich selbst zwar als auserwählte Freiheit Auserwählter definiert und erfährt, gleichwohl keine „allgemeinmenschliche“ Zukunft haben konnte.

Die gräßlichen Leiden, die das (vorneuzeitliche) Christentum dem Judentum zufügte, sind bekannt, sie wurden nur noch durch das säkulare Europa des 20. Jahrhunderts überboten. (Auch den Islam, der allerdings erst sehr viel später in die Geschichte eintrat, definiert ein strenger Kanon an Traditionen. Das Kismet der sunnitischen und schiitischen Moslems weiß, was es bedeutet, im Kollektiv strenger Stammeszugehörigkeit einem erhabenen Gott durch lebenslangen Auserwählungs-Gehorsam zu dienen.)

Die Kämpfe der Freiheit mit und gegen den jüdischen und mit und gegen den islamischen Gott sind somit völlig andere als alle Kämpfe gegen das Fatum der Götter. Und nochmals völlig andere als alle Kämpfe mit und gegen einen allwissenden Schöpfergott und dessen christlichen Glauben an eine auf eherne Gesetze gegründete Schöpfung.

Noch in der europäischen Altzeit dominierte der allwissende und alles vorhersehende Gott des Christentums das gesamte Welt- und Selbstverständnis der (christlichen) Menschheit. Gegen diesen und seine Verwalter – Heilige Schriften und Theologien an der ideologischen Basis, starke Kirchen an der Spitze, die gleichwohl übereinander herfallen mußten, weil ihr Welt- und Freiheitsprinzip kein gegründetes, kein wirklich universales war – vollzog sich das Kämpfen einer Neuzeit, die im christlichen Raum zu radikalen Reformationen und im Gesamtraum der europäischen Menschheit zu einer Kettenkaskade an wissenschaftlichen Revolutionen und Eroberungen führte.

Diese erweiterten sich schließlich seit dem 19. Jahrhundert zu einem ungeahnten Kosmos an Wissenschaften und deren technischen „Anwendungen“, – allen Zeiten davor unbekannt und unerahnbar. Ein „wissenschaftliches Weltbild“ setzte sich durch, das am ehesten noch in der spätantiken Aufklärung und deren fernöstlichen Pendants gewisse embryonale Vorläufer gehabt zu haben scheint.

Eine neue Welt, eine neue Menschheit war entstanden – mit welchen Folgen für das Denken und Handeln der Freiheit? Welcher (unersetzliche) Gegenbegriff der Freiheit bot sich nun an, um die Freiheit des Menschen neu zu definieren? Zum einen wird der christliche Gott nach wie vor selbst als Hort und Quell wahrer Freiheit in der christlichen Binnenperspektive definiert. Zum andern hatte dieser Gott der christlichen Tradition „plötzlich“ eine ganze Welt säkularer Wissenschaften gegen sich. Soll er nun gegen sich selbst kämpfen(lassen)?

Mit welcher Philosophie, mit welcher Theologie? Oder sollen wir mit ausgesuchten Wissenschaften (Psychologie, Soziologie, Wirtschafts-, Natur- und Kulturwissenschaften usf.) versuchen, den zerfaserten Begriffsfaden menschlicher Freiheit neu aufzuwickeln?

Mit welchen Methoden, mit welchen Begriffen aus welchen Gründen und auf welche Ziele zielend? Und was wurde eigentlich aus der Vernunft, die nach wie vor als Prunkstück der europäischen Aufklärung in aller Welt missioniert wird?

Keine Freiheits-Philosophie der Neuzeit konnte sich der neuen Wissenschaften-Welt entziehen, auch wenn jeder Philosoph nur seinen Aspekt durch sein philosophisches Denken in den Gefilden der logisch, moralisch, politisch und ästhetisch anwendbaren Freiheit vertiefen und erweitern konnte.

Läßt sich die Freiheit des menschlichen Wollens und Denkens nicht mehr aus einem göttlichen Wollen und Denken, und auch nicht mehr aus einer gütig oder göttlich überquellenden Natur ableiten, konnte man nur noch in den Tiefen und Kammern des Menschen selbst fündig werden. Weshalb die Freiheitstheorien der antiken Aufklärung, etwa die Dialoge Platons und die Schriften Aristoteles, arrière la lettre zu unverzichtbaren Partner-Philosophien aufstiegen. Das Rad der Zenonischen Aporien mußte nicht ein zweites Mal entdeckt werden.

  1.  Kampf der Freiheitstheorien

Zu einer bleibenden Kampfarena wurde die Auseinandersetzung zwischen den deterministischen Lehren des neuen Physikalismus einerseits und den philosophischen Theorien des menschlichen Bewußtsein andererseits. Nach jenen ließen sich in der Natur keine Spuren, geschweige Quellen, Gründe und Ursachen für einen freien Willen und freien Status des Menschen auffinden. Nach diesen war es sinnlos, in der Materie der Natur, welcher auch immer, nach Freiheit zu suchen. Bewußtsein und Wille des Menschen seien physikalisch weder definierbar noch real zugänglich.

Es handle sich um zwei völlig verschiedene Realitäten und deren je eigene Kausalitäten. Mit einem Wort: Die neue Dominanz naturwissenschaftlicher Weltmodelle zwang die philosophischen Freiheitsmodelle zu einem Fahneneid: In der Welt des menschlichen Geistes sei eine Freiheitswelt möglich, die aller materiellen Welt verschlossen bleibe.

Eine nichtausgedehnte, eine rein intelligible Welt der Freiheit existiere als eine Art Zweit- oder Drittwelt, je nachdem ihre Distanz zur natürlichen Welt veranschlagt wurde. Und in dieser Welt sei das Unterscheiden zwischen Wahn und Wahrheit, richtigen und falschen Entscheidungen möglich? – lautete eine unvermeidliche Folgefrage. In der Natur(wissenschaft) und deren extensiven Welt(en) wurden mittlerweile genaueste Vermessungs- und Definitionsmöglichkeiten ausgeschöpft, in der Welt der Geistes schien Analoges völlig unmöglich zu sein – gesehen mit den Augen der physikalistischen Perspektive.

Also standen zwei Perspektiven unversöhnt und unversöhnbar gegeneinander. Zwei säkulare Konfessionen, die nicht mehr so genannt wurden, obwohl ihr schismatischer Eifer nichts zu wünschen übrig ließ. In der Welt der Religionen lebten Menschen in verschiedenen Religionen und deren Kulturen; in der neuen Welt der Wissenschaften schienen Menschen in zwei unvereinbar verschiedenen Welten zu leben.

In der intelligiblen Welt der Freiheit herrschten allerdings völlig andere Gesetze und Verhältnisse als in der Welt der Natur und ihrer Wissenschaften. Theoretische und praktische Vernunft trenne ein Abgrund, lautete Descartes‘ philosophisches Credo: Der Verstand des Menschen reiche weit weniger weit als sein Wille. Diese schon an Kant gemahnende These mußte die Mittel des Verstehens weit unter den Mitteln des Wollens und Handelns einordnen.

Obwohl das Weltverstehen der Naturwissenschaften von Gipfel zu Gipfel eilte: Das Verstehen von menschlichem Wollen und Handeln, ebenso das Verstehen des Verstehens (Denkens), war darin allerdings nicht inbegriffen: Beide Welten blieben getrennt, aber die Erfolge der Naturwissenschaften waren und wurden immer augenscheinlicher, währen die philosophischen sich in internen Disputen der Intelligiblen untereinander zu verlieren schienen.

Diesem neuen Titanenkampf (zwischen Natur und Geist) konnten die Theologien des Christentums nur ratlos zusehen, ganz anders als am Beginn des Christentums nach Christi Tod und Auferstehung. Damals mußte die Kirche lediglich die antiken Philosophien in Zaum und Dienerschaft nehmen und die jüdische Religion und alle gnostischen Richtungen entschieden hinter sich lassen. Gelang dies, konnte man von der eigenen Wahrheit ohne Gegenwind überzeugt zu sein.

Doch in der neuen Welt der neuen Zeit waren schmerzlich neue Fragen ungebeten eingetreten: Woher weiß der Mensch, ob er einen falschen oder einen richtigen Gebrauch seiner Verstandesmittel betätigt? Allein durch die Mißerfolge oder Erfolge seiner Handlungen?

Und bringen Fragen dieser Art das Denken über das Wesen der Freiheit weiter, tiefer in deren Grund hinein? Wer auf die Frage, was etwas sei, antwortet, daß das Etwas in viele Arten und Kausalitäten seines Wesens verwickelt sei, hat gleichsam nur wie ein Kind zugehört, er gibt nur infantile Antworten.

Die Gebrauchsarten der Freiheit, die Entscheidungsfreiheit, die Wahlfreiheit, die Meinungsfreiheit usf. usw. – eine Liste ohne Ende – mit einem Wort: alle „Systeme“ aller denkbaren „Klassifikationen“ der Freiheit, setzen deren Wesen und Grund immer schon voraus. Sie tun so, als wäre diese Frage schon beantwortet, oder schlimmer: sie wäre keine vernünftige Frage, keine Frage der Vernunft.

(Womit sich eine Schattenseite der modernen Freiheitsentwicklung zeigt: Das Reden und Denken an der Sache vorbei wurde als „wissenschaftliches“ Reden und Denken geadelt: philosophisches und wissenschaftliches Verhalten begannen auseinanderzudriften. Und diese Entwicklung mußte auch Rückwirkungen auf das philosophische Denken haben, auch dieses erhielt immer wieder eine wissenschaftliche Schlagseite, die man seit dem 20. Jahrhundert „szientifische“ nannte.)

Durchaus tiefer zielte Descartes’ Frage: woran ließe sich ein falscher menschlicher Gebrauch der Freiheit zweifelsfrei feststellen? Da des Menschen Wille weiter reiche und daher umfassender wollen als sein Verstand denken und erkennen könne, könnte seine Freiheit gleichsam an einem Verstandesvakuum laborieren. Die Wurzel der Freiheit wäre lädiert, sie ließe sich immer nur als unlösbarer Widerspruch denken, im Grund ihres Wesens sei Freiheit sich selbst widersprechend.

  •  Rationale oder irrationale Freiheit?

Doch orientiert sich Descartes nicht an einer „absoluten Willensfreiheit,“ die sich jenseits von Wahr und Falsch und auch jenseits von Gut und Böse zu Handlungen entschließe könne und solle. Ein solcher Wille, der später zum großen Wunschbild philosophischer Ideologien aufstieg, ist in der beginnenden Neuzeit noch kein Thema.

Ist die Freiheit nichts weiter als die Möglichkeit „von selbst anfangen zu können“, wirkt sie als liberum arbitrium indifferentiae, – ein Wille, der sich am Ende auch noch selbst wegwollen könnte. Eine Grenzenlosigkeit des Willens, der sich mit zureichenden Gründen widersprechen läßt. – Freiheit, die sich selbst aufhebt, ist der Freiheit höchstes und tiefstes Gut nicht. (Und wer Freiheit im Gegenzug nur als Freiheit von äußerem Zwang deutet, hat letztlich nur politische Absichten in der Hinterhand. )

Nicht ein fundamental sein sollender Indifferentismus definiert nach Descartes die Nichtdeterminiertheit (Unbestimmtheit) der Freiheit des Menschen. In diesem Fall wäre jeder Inhalt des Handelns und Denkens als Als-ob-vernünftiger möglich, – noch die verrücktesten Inhalte wären der Freiheit des Menschen gemäß. (Eine Position, die erst in der Entwicklung der modernen Künste für deren Freiheit unvermeidlich wurde.)

Für Descartes gilt noch verbindlich: Unentschiedenheit (und deren Pendant: willkürliche Bestimmtheit und Entschiedenheit) sei der schwächste Grad, sei die niedrigste Form der Freiheit. (Zwischen leerer und erfüllter Freiheit ließe sich verbindlich unterscheiden.)

Auch war die moderne Wahnvorstellung, die Freiheit des Menschheit sei in der Indeterminiertheit der subatomaren Teilchen begründet, noch nicht en vogue. Diese Art einer erfolgreichen szientifischen Philosophie sollte erst im 20. Jahrhundert die Bühne betreten und (teilweise) erobern.

Wäre sie stichhältig, besäßen wir einen „vollkommen“ irrationalen Grund unserer Freiheit: eine Kontingenz der „Außenwelt“, die „Unentschlossenheit“ der Teilchen aller Materie würde auch die „Innenwelt“ unserer Freiheit generieren und als „Gesetz“ bestimmen. Dieser Anti- oder besser Null-Logos würde auch der Evolution aller Materie aller Arten der Natur vorausliegen. (Schon früh wird es philosophischer Brauch, vermeintliche Leitwissenschaften der modernen Welt- und Menschenbilder gegeneinander auszuspielen, um ihnen die Grenzen der Vernunft als bestimmende Grenzen unseres Denkens und Handelns klarzumachen. Ob mit Erfolg, steht auf einem anderen Blatt anderer (Selbstimmunisierungs-) Gebräuche.)

Wenn sich aber immanente Notwendigkeiten im Begriff der Freiheit zeigen sollten, erhob sich die Frage, woher diese im Inneren der Freiheit kommen könnten, unabweislich. Arbeitet die Freiheit mit doppeltem Grund und Boden? Täuscht sie uns, um ihren Fata-Morgana-Status zu verbergen? In der empirisch erscheinenden Welt lassen sich viele Notwendigkeiten erheben und einsehen. Sie scheinen immer nur empirischer und kontingenter Natur zu sein.

  •  Locke und Hobbes versus Spinoza, Descartes und Leibniz

Wäre demnach das Wesen und die Herkunft der Freiheit, samt immanenter Notwendigkeit, durch empirische Kausalität begründet? Also auch unser Begriff der Kausalität, der unser Denken über und Handeln in der empirischen Welt bestimmt? Die Zwecke unseres Handelns sollen doch realisierbare Zwecke sein. Die Kausalitätsfrage verlangte eine überempirische Begründung, diese wurde damals „metaphysische“ genannt. Und das (nicht)empirische „Schisma“ über die Freiheit teilte die Philosophien der Aufklärung in zwei Fraktionen: Engländer und Franzosen standen und argumentierten gegen Spinoza und Leibniz und umgekehrt.

Empirische Begründungen verenden immer in kontingenten Gründen, metaphysische (intelligible) Begründungen enden bei Begriffen, die mehr als „Grundvermögen“ sein müssen, wollen sie Realisierbarkeit beanspruchen. Die Möglichkeit „aus sich anfangen zu können“, muß die Möglichkeit, das Anfangen beenden und ausführen zu können, einschließen. (Die aristotelische Entelechie machte bei den Auseinandersetzungen zwischen den empirischen und metaphysischen Freiheitsphilosophien der Neuzeit den stillen Beobachter.)

Der rechtlich formulierte Gedanke, Freiheit könne sich aus Freiheit nicht nur selbst strangulieren, es könne sogar eine Pflicht geben, sterbewilligen Menschen zur Selbsttötung zu verhelfen, wurde dem unsterblichen Hippokrates in der heroischen Epoche der Aufklärung noch nicht zur Begutachtung vorgelegt.

Leibniz‘ Metaphysik des menschlichen Willens lag die Überzeugung voraus, daß ein völliger Indifferentismus der Freiheit des Menschen widerspreche und sie am Ende vernichten müsse. Denn der Freiheit wie auch dem Willen und dem Erkennen des Menschen liege eine Vernunftnatur zugrunde, die als immer schon vorausliegender Bestimmungsgrund in den drei genannten Instanzen präsent sei. Ohne diese Präsenz sei verantwortliche Freiheit nicht denkbar, nicht möglich.

Freiheit ohne innere Notwendigkeit sei ein Unding, und alle äußeren Notwendigkeiten und deren Zwänge und Zufälle zwar unvermeidlich in einer Welt empirischer Erscheinungen und deren Kausalitäten, gleichwohl kein zureichender Grund, die Vernunfttatsache einer notwendigkeitsbegabten Freiheit als („philosophische“) Illusion zu denunzieren und zu bestreiten. Der Mensch sei fähig, inmitten noch der verantwortungslosesten Situationen (woran die Realität der Geschichte überfließe) vernunftresistent zu verbleiben, zu denken und zu handeln. (Dieser These sollte Leibniz „Weltharmonik“ jedoch widersprechen, wie sich noch zeigen wird.)

Auch Spinoza kannte eine vernunftbestimmte Freiheit, doch sei es lediglich der Substanz, dem absoluten Wesen Gottes möglich, sich vollkommen aus und durch Vernunft zu bestimmen. Eine „monistische“ Ansicht, der Leibniz‘ absolute Monade vermutlich nicht widersprach, denn die vollkommen deutlichen Vorstellungen aller endlichen Wesen dieser Welt und Geschichte blieben ihrer absoluten Zentralität vorbehalten.

Nicht zufällig mußte der metaphysische Freiheitsbegriff eine theologische Seite ans Licht befördern: Kein Philosoph wollte jemals für sein Vernunft- und Freiheitskonzept für das Ganze aller Monaden seine Hand ins Feuer legen. Auch wenn sich Spinozas göttlicher Determinismus dieser theologischen Anfrage überhoben geglaubt haben sollte, harrte auch sein Fall einer weiseren Lösung.

Und die Frage, ob die Begründung der Freiheit seit Kant und dem deutschen Idealismus einer Lösung (und welcher) zugeführt wurde, verweist auf ein späteres Stadium in der Geschichte des Freiheitsbegriffes. Auf jeden Fall scheinen die fortlaufenden Katastrophen der Weltgeschichte nach dem 19. Jahrhundert auch den Vernunftoptimismus der philosophischen Freiheitskonzepte gehörig eingeschüchtert zu haben.

  •  Hobbes negative Freiheit und Humes Freiheit als Sprachirrtum

Mit den neuzeitlichen Vernunftsorgen über eine gut und wahr begründbare Freiheit mußten sich Engländer (Hobbes und Hume) und Franzosen (La Mettrie und d’Holbach) nicht belasten. Nach dem empirischen Evidenzmotto: Wasser ist nicht Luft, definiert Hobbes die Freiheit negativ: In allen Momenten, da uns keinerlei äußere oder innere Hindernisse bemühen und beengen, ist die Freiheit des Menschen Realität. (Sie muß demnach in den Lüften und in der Nachbarschaft unser Vögel am größten sein.)

Menschen, die handeln und dabei den Verdacht erregen, sie könnten aus Freiheit handeln, sollte man von diesem Verdacht freisprechen: Denn was tatsächlich geschehe, sei ein von Widerständen, Grenzen und anderen Widerwärtigkeiten unbegrenztes natürliches Geschehen. (Wir wohnen der Geburt moderner Irrationalität und Gegenaufklärung bei.)

Was immer der Mensch auch beabsichtige und bezwecke: Nicht diese Inhalte sind freiheitsrelevant, sondern allein die freie Gewalt eines Menschen, dem keine Gegengewalten Einhalt gebieten. Mit der Geburt von Gegenaufklärung und säkularer Irrationalität wird zugleich der moderne Anarchismus aus der Taufe gehoben.

Konsequent daher, wenn Hobbes lediglich von einer auf Körper bezogenen Freiheit reden und denken möchte: Wie sich auch Berge oder Tiere von Widerständen und Nöten beengt erfahren, und darin ihre Freiheit verspüren, – frei von Bergstürzen, frei von Schlachtungen, – nicht anders reagiere der Körper des Menschen auf Unfreiheit mit massiven Freiheitsgefühlen.

Hobbes Thesen wurden später durch die moderne Diätforschung bestätigt: Wer lange nichts zum Knabbern vorfindet, wird von befreiender Hungerwut erfaßt, er wird rabiat und sprengt alle auferlegten Hungerfesseln und Kühlschränke. Wenn ein Mörder unbehindert zur Tat schreitet, ist dies als freie Tat erkennbar, nicht weil der Täter aus selbstgegründeter Freiheit handelt und seine Freiheit widervernünftig gebraucht, sondern weil seinem Mutwillen kein Hindernis entgegentritt. Die Fähigkeit zum philosophischen Spleen mußte man den Engländern niemals absprechen.

In Hobbes Bild einer lediglich negativ bestimmbaren Freiheit fügte es sich prächtig, daß alle Motive, die zu menschlichen Handlungen führen, Teile einer geschlossenen Ursache-Wirkungskette sein sollten, einer Kette, deren erstes und daher erstursächliches Glied niemand geringerer als Gottes Hand sei. (Auch die Fähigkeit zum theologischen Spleen konnte man den Engländern niemals absprechen.)

Und dennoch konnten die englischen Aufklärungsphilosophen die Agenda der politischen Freiheit in Europa am erfolgreichsten vorantreiben. Dennoch oder deswegen? Wegen ihres abstrakten Freiheitsbegriffes nämlich, der die Menschen zu Ausgeburten einer Gewaltfreiheit erniedrigte, gegen deren Zumutungen die Forderung nach „friedlicher Koexistenz“ bereits die Forderung eines Vernunftgrundsatzes zu sein schien.

Und da die Kirchen entweder zu schwach oder zu gespalten oder beides waren, um den neuen Friedensgeist in den Seelen der britischen Inselreich-Menschen „nachhaltig“ zu verankern, mußten Verträge formuliert und eingeführt werden, um einen bellum omnium contra omnes zu unterbinden. (Ein Krieg, den Hobbes als natürlichen Naturzustand des Menschen unterstellte. Auch anthropologische Spleens lagen den Engländern niemals fern, wie später nochmals Darwin oder dessen gedankenlose Mitläufer beweisen sollten).

Doch nicht Privatverträge zwischen Landadeligen und Bauern, Adeligen und Bürgern, Königen und Fürsten, sondern Verträge im Rang staatlicher Gesetze waren erforderlich, um das neue Reich der Freiheit zu stützen. Nicht anders war der selbsterzeugte Moloch Freiheit einzuhegen: Frei ist, wer sich den politisch angeordneten Verträgen und Gesetzen unterordnet.

(Eine Travestie vernünftiger Freiheit, die dennoch politisch geschichtsmächtig wurde und auch werden sollte. Denn für einen wirklich freien Bürger war die vormoderne europäische Welt noch nicht reif, man wandelte noch zwischen dem Joch der Kirche(n) und dem Joch vormoderner Ständestaaten und deren allerchristlichster (königlicher oder kaiserlicher) Autorität.)

Eine konsequente Folgetravestie des englischen Denkens in den Labyrinthen des Freiheitsbegriffes war Humes These, daß alle Fragen, die sich als schwer oder gar nicht beantwortbar herausstellen, auf einen „Sprachfehler“ unseres Denkens in Begriffen zurückzuführen seien. (Auch die moderne sprachanalytische Philosophie, die später besonders im angelsächsischen Raum dominant werden sollte, erblickte bereits in dieser Variante einer verführerischen Gegenaufklärung das Licht der europäischen Welt.)

Weil Menschen gewöhnt seien, den Wortausdruck „Freiheit“ als sachlich zutreffenden zu gebrauchen, während er doch nur wie ein Ausdruck eines Spiels der Sprache (einer Tarock-Partie unter Worten) fungiere, habe sich auch das Vorurteil eingebürgert, Freiheit sei ein vernünftiger Wert von und für angeblich vernünftige Menschen. (Während sie doch nur Sprachspieler sind, die wie Kinder, nun aber mit einem umgänglicheren Spielzeug, ihre Dauerspiele spielen.)

Das Wort „Lüge“ sei beispielsweise in Gebrauch, obwohl noch kein Philosoph oder Sprachwissenschaftler (in allen Sprachen der Menschheit)die Berechtigung dieses Gebrauchs zufriedenstellend untersucht oder gar bewiesen habe.

(Als man später den „Sprach-Aufklärer“ Wittgenstein zum „Philosophen des Jahrhunderts“ (des 20.) erhob, war das Unheil des Travestierens von Philosophie und vernünftiger Sprachphilosophie nicht mehr aufzuhalten. Der sprachanalytische Sprachskeptizismus, der nichts weiter als ein unbelehrbarer Vernunft- und Denkskeptizismus war und ist, hatte sich wie eine Epidemie durchgesetzt. Auf den Wegen scheinbar strengster („analytischer“) Rationalität hatte man das Gelobte Land eines vollendeten Irrationalismus betreten. Europas Philosophiekultur hatte sich einen weiteren Scheiterhaufen errichtet, in unmittelbarer Nähe der anderen, den szientifischen, die sich aus vielen Wissenschaften, den existentialistischen, die sich aus den Früchten freischaffender Geniedenker errichten ließen.)

Wollte man im frühen englischen Sprachempirismus die Frage, ob Freiheit oder Determinismus das Wollen und Tun, das Denken und Sprechen des Menschen begründen und behelligen, beantworten, mußte man als versierter Grammatikexperte oder Linguist ins Seminar der Philosophie eintreten, um „sachadäquat“ mitreden zu können. Danach durfte man das philosophische Reden und Denken selbst anführen und zu ungeahnten Höhen sprachbewußter Erkenntnis hochführen.

Sprache sei chronisch oberflächlich, meinte Hume, ihre Worte seien allzu einfältig, und daher würden sie Sachen als existent unterstellen, die durch Worte bezeichenbar wären, obgleich nur die Worte, nicht die Sachen existierten. Freiheit als einfache Tatsache sei eine Konstruktion, die noch nicht einmal den Unterschied von Libertas indifferentiae und Libertas per vis (durch gegenwirkende Gewalt) zur Kenntnis nehme.

(Woher Hume wußte, daß dieser Unterschied der Sache Freiheit den Worten der Sprache praeexistiert, wäre vielleicht eine Frage gewesen, die seine Vernunft hinter dem gemütlichen Inselofen hervorlocken hätte können.)

Die Sachen (auch der Freiheit) wären demnach durch eine gänzlich andere oder neue Sprache zu bezeichnen, oder sie blieben als unerkennbare und unbezeichenbare Sachen völlig außerhalb des Radars menschlichen Redens und Erkennens. Nur der naive und ungebildete Mensch rede daher über sich und die Welt, als habe er Realitäten vor sich und in sich, die sich besprechen und bedenken ließen. Nur der naive Mensch hat sich noch nicht als spielsüchtigen und unmündig-unzurechenbaren Worte-Spieler erkannt und aufgeklärt.

Und weil Freiheit nur als Widerstand gegen die Gewalt der Gesetze, gegen die beugenden Urteile der Rechtsprechung und die Macht der staatlichen Machtbefugnisse erfahrbar sei, konnte die Frage, ob der Mensch überhaupt und dadurch in und durch sich selbst frei sei, nicht als unvermeidbare Vernunftfrage vernommen werden. Jede Handlungssituation, ja sogar jede Nichthandlungssituation beweise zur Genüge, daß der Mensch niemals ohne determinierende Faktoren existiere und handle. Schon von daher erübrige sich alles Fragen nach einer tieferen oder höheren Grundlage des Problemkinds Freiheit.

Auch wenn keine Widerständigkeiten in der Welt vorliegen, nachmittags in der Siesta-Hängematte des Philosophen, sei dieser als Mensch doch immer noch unlösbar an seinen Charakter, dessen Neigungen und Abneigungen und an unübersehbar viele Augenblicksumstände gefesselt. Wo sind nun freier Wille und freier Mensch verblieben? Noch sein Mittagsschläfchen muß er sich in der schaukelnden Hängematte sorgsam vorbereiten und (im Halbschlaf) aufmerksam überwachen, um nicht aus seiner „frei schwebenden“ Hängematte zu fallen.

So unfrei lebt und schläft der Philosoph im Speziellen und der Mensch im Allgemeinen. Fehlt nicht viel um auszurufen: „ein Königreich für ein Pferd“, das dem Siesta-Philosophen ein herrlich vorübertrabendes und doch unerreichbares Freiheitsbild vor Augen führen könnte.

Wer aber an determinierende Motive und Umstände, die einander kontingent (chaotisch)durchdringen und verwirren, gefesselt ist, kann dessen Handeln vertrauenserweckend sein, kann es auch nur einfache Vorhersagen über die Erreichbarkeit und die Erfolge seiner Handlungsziele zulassen? Eine beliebte Antwort der englischen Freiheitsphilosophen lautete: Wie unhaltbar die Annahme positiver Freiheitsgründe sei, zeige sich schon daran, daß Aussagen über die Resultate des menschlichen Handelns immer nur unter Wahrscheinlichkeitsgrenzen möglich seien.

Und weil der Mensch nur an den und gegen die unfreien Grenzen seines (neutralen? indeterministischen? durch nichts festgelegten?) Wesens „frei“ handle, sei auch seine „Verantwortlichkeit“ lediglich die erzwungene eines nötigenden Ausnahmezustandes. Und wird er für Lügen, schlechte Taten und Verbrechen bestraft, kann er auch dieses „Gericht“ über sein Leben und Tun immer nur als Einschränkung seines (freien?) Wesens erkennen und sich vormerken. Der Tag der Rache ist seiner, die Macht seines Willens wird ihn auszuführen wissen.

Diese Philosophie behielt somit recht: ein Wesen dieser Art, von äußeren und inneren Mauern umstellt und unterdrückt, konnte nicht für frei erklärt werden. Aber diese Marionette eines unfreien Wesenscharakters existierte nur im Denken eben dieser unfreien Philosophie; nur innerhalb ihrer verblendeten Grenzen hätten Menschen zu erkennen gehabt, daß sie einem Betrug der Sprache in die Falle gegangen waren, als ihr nämlich andere Philosophien und Religionen vorgaukelten, die Idee eines freien Menschen existiere leibhaftig. Und wie nennt man Philosophien, die nicht auf der Höhe ihrer Zeit sind, wenn diese – die Zeiten – nicht zufällig selbst kollektive Opfer geschichtsmächtiger Ideologien geworden sind? Ideologien.

  •  Der Gefangene des wissenschaftlichen Materialismus

Der Gefangenstatus des Menschen wurde im französischen Materialismus (La Mettrie und d‘Holbach)nochmals um eine Potenz gesteigert, mehr noch: ins Unmögliche überdreht. Denn ein Wesen, daß mit seinem Naturstatus als physikalisches oder organisches Phänomen vollständig eins geworden ist, kann weder als frei noch als unfrei („determiniert“) angesprochen werden: Als Physikum ist es (hinfälliger) Teil der physikalischen Welt, als Tier kann es nur seinen Instinkten gemäß handeln und daher nicht handeln.

Ein totaler naturwissenschaftlicher Determinismus darf somit hinsichtlich des Menschen für sich in Anspruch nehmen, keine philosophische, sondern eine nur rein wissenschaftliche Lehre zu sein. (Richtung Moderne sollten noch viele Wissenschaften folgen, die mit philosophiefreien Mitteln und Zielen über das unbekannte und seltsame Wesen Mensch neuartige Botschaften verkündeten).

Unter Anspielung auf die biblische Lehre der Schöpfung des Menschen aus der Hand Gottes erhoben die Väter des neuesten, diesmal „wissenschaftlichen“ Materialismus radikalen Einspruch: Es gab keinen besonderen Lehm, aus dem der Mensch erschaffen worden wäre. „Die Natur hat immer nur denselben Teig verwandt und lediglich die Zusammensetzung der Hefe verändert.“

Der Logos dieser Gottheit (die weltschaffende Natur) war einfältiger als jener der Götter der Antike und geblendeter als jener des Gottes der monotheistischen Religionen. Der neue (gottlose)Gott sah und kannte nur eine Natur, die sich später zwar durch die Wissenschaften der Evolution zu vielen evolutionären Welten differenzierte, die jedoch den Menschen nicht mehr den Fängen der allumwaltenden Alpha-und-Omega Natur entrissen. Der Determinismus der einen Natur vervielfältigte sich zu spezifischen Determinismen derselben Natur. Daher bleibt der Materialismus dem Rückspiegel der aktuellen Geschichte, die unablässig weiter in ihre Zukunft fährt, unvergeßlich eingeprägt.

Im Rückblick erstaunt weniger, daß die neuzeitlichen Wissenschaften der Natur scheinbar alleserklärende Ideologien auszubrüten begannen – ihr Nest war aus den Gebäuden der Philosophie und auch der Religionen gestürzt – aber doch sehr, daß mitten im vorrevolutionären Frankreich, das sich auf eine große und alles umstürzende Freiheitsrevolution vorbereitete, dergleichen simple Reduktionismen möglich waren.

Mit welcher Verblüffung mögen Voltaire und die Seinen die Schriften der kühnen Materieapostel der Natur gelesen, und mit welchen Augen mögen die späteren Anhänger La Mettries und d’Holbachs die Erstürmung der Bastille erblickt haben?

  •  Rousseaus „Aus-sich-heraus-Mensch“

Mit den radikalen Auswürfen seiner Kollegen von der Materialisten-Fraktion fackelte Rousseau nicht lange: Menschen seien Wesen, die „aus sich heraus“ handelten, „aus sich heraus“ denken und erkennen, urteilen und entscheiden. Und daß dieses „Aus–sich–Heraus“ einen Körper, eine Welt, anorganische und organische Materien und Wesen voraussetze und benötige, um seinem „Aus–sich-Heraus“ frönen zu können, müsse man weder Kindern noch Wissenschaftlern erklären und begründen.

Schon bei und für Rousseau war somit klar: Der Versuch neuer (Natur)Wissenschaften, die unmittelbare Selbst- und Welterfahrung des Menschen als hinfällig in Frage zu stellen, um sie durch wissenschaftliche Wissenserfahrungen zu ersetzen, kann immer nur zum Schiffbruch veritabler Ideologien führen. Naturalistische Reduktionen eines sich verabsolutierenden Materialismus können niemals leisten, was sie ihren gedankenlosen Mitläufern versprechen, leisten zu können.

Gegen La Mettries „L’homme machine“ wendete Rousseau ein, es sei unmöglich, daß eine Körpermaschine denken könne; das unhintergehbare „Aus-sich-Heraus“ bedürfe einer eigenen und autonomen Quelle seiner geistigen Aktivitäten. Heute würde Rousseau zwar über die Leistungen der sogenannten Künstlichen Intelligenz, angefangen bei unseren Computern, (nicht) aufhörend bei den rechengesteuerten Robotern in Medizin und Weltraumfahrt, erstaunen, doch ein autarkes und autonomes „Aus-sich-Heraus“ würde er den Fabrikaten unserer hypermodernen oder „hybriden“ Technologien dennoch nicht zusprechen.

Aus der unumgänglichen Annahme eines „Aus-sich-Heraus-Menschen“ verstärkten sich alle vormodernen Philosophie-Versuche, universale Menschenrechte als gesetzlich verankerbare Rechte zu denken nicht nur graduell. Sie wurden nun prinzipiell und fundamental geführt, um alle gegenläufigen Avancen eines naturalistischen Determinismus, eines politisches Totalitarismus herrschender Klassen und Individuen, aber auch eines religiösen Fatalismus, wie etwa im Islam oder auch bei Calvin, in ihre (antiaufklärerischen) Schranken zu verweisen. (Und auch Leibniz‘ Totalkontinuum zwischen Natur und Geist, zwischen Tier und Mensch konnte nicht weiterhelfen. Seine (religiös motivierten) Beschwörungen der Freiheit des Menschen mußten im Pool der Motivationen keine falschen Faktoren, keine bösen Umstände fürchten: In einer harmonischen Welt prästabilisierter Monaden wird freies Handeln zum vergnügten Vollzug universaler Weltordnungen.)

Rousseau: Es ist Freiheit in der Welt, und sie war immer schon in der Welt, obwohl unfreie Verhältnisse seit jeher versuchten und immer noch versuchen, das Recht und die Möglichkeit der Freiheit des Menschen, deren Entwicklung und Entfaltung zu verwirklichen, menschenfeindlich einzuschränken und oftmals gänzlich zu vernichten.

Alle Zivilisationen der Menschheit hätten bisher nur die unfreien Wege vormenschlicher Kulturen beschritten. (Der Furor von Marx‘ ökonomistischer Befreiungsideologie kündigt sich an.) Obwohl von Natur frei geboren, mußte der Mensch das Joch unfreier Zivilisationen bis anjetzo tragen und erleiden. Nun aber sei die wahre Natur des Menschen erkannt und ein wahres freies Leben, Wollen und Handeln sei bedingungslos unbedingt möglich geworden. Diese Erkenntnis und ihr revolutionärer Impetus sollten schon bald die vormoderne Welt zuschanden machen und eine neue Zivilisation freier Menschen und freier Gesellschaften auf den Weg bringen. (Rousseau stirbt 1778, 11 Jahre vor Ausbruch der französischen Revolution in Paris.)

Wie aber die natürliche Freiheit des Menschen individuell zu gestalten und kollektiv zu organisieren wäre, diese Fragen waren durch unmittelbare Anleihen beim „edlen Wilden“ nicht zu beantworten, wie sich bald herausstellen sollte. Rousseaus Fixierung auf einen „Zivilisationsirrtum“ nahm einen marxistischen Basisirrtum vorweg: Hätte die Menschheit von Anfang an für gerechte Güterverteilung gesorgt, hätte sie weder einen Sündenabfall und Religion(en) erfinden, noch Armut und Unfreiheit, weder Kriege und gegenseitiges Abschlachten senza fine ertragen müssen. Die Hierarchien falscher Herrschaftssysteme, die immer nur „soziale Ungleichheiten“ bewirkten, und die moralische und politische „Entmündigung des Einzelnen“ waren demnach radikal zu beseitigen, für immer zu heilen. Die Erlösung von allen Übeln der Menschheit, das Ziel eines paradiesischen Endzustandes der Menschheit, sei greifbar nahe gerückt.

War bei Hobbes der Krieg aller gegen alle der natürliche Erstzustand der Menschheit, soll es bei Rousseau das genaue Gegenteil gewesen sein: Friedliebende Schäfer, von allen Zivilisationssorgen frei und fern, pflegten das arteigene Einsamen und Aussamen ihrer Clans. Aus heutiger Sicht: Die Menschheit begann mit einer natürlichen Inkarnation der globalen Friedensbewegung, – wovon moderne „Aktivisten“ von heute noch träumen, war in den ersten Tagen der Menschheit bereits selbstverständliche Realität. Doch dann erschienen Religionen und Religionsgründer und missionierten den Sündenfall Zivilisation.

Da der Mensch, „von Natur aus“ als mündiger Mensch geboren, konnten alle Zivilisationen nur Unrecht tun und Unfreiheit verbreiten. Jetzt liege die Menschheit „überall in Ketten“, die Herrschaft falscher Zivilisationen habe sie heillos korrumpiert. – Rousseaus „anthropologisches“ Menschenbild fiel trotz aller menschenrechtlichen Beschwörungen hinter die Ethiken des Aristoteles zurück.

Nach Rousseaus Revolutionsprogramm konnte nur noch ein völlig neuer Gesellschaftsvertrag zwischen Staat und allen seinen „Einzelnen“ eine radikale Umkehr der Menschheit bewerkstelligen. Die Vorschläge seines Programms gingen bald in die Sitzungen des Wohlfahrtsausschusses ein, der unter Napoleons Mitwirkung die Prinzipien einer „republikanischen Demokratie“ formulierte, die ganz Europa durchrütteln sollte. Eine weitere philosophische Begründung der Freiheit schien mit dem Beginn ihrer europaweiten politischen Wirksamkeit obsolet geworden zu sein. Dennoch sollte die grundlegende philosophische Begründungsarbeit erst mit Kant und seinen Nachfolgern im Deutschen Idealismus das entscheidende Fundamental-Kapitel eröffnen.

  •  Fundamentale Begründungen der Freiheit

Kant versucht die faktische Unfreiheit des Menschen mit einer (nur) transzendental begründbaren Freiheit zusammenzudenken. Jene schließe diese nicht ein und nicht aus: die Freiheit des Menschen sei kein Naturprodukt und dennoch oder deshalb schließe die unfreie Kreatürlichkeit des Menschen einen unversehrbaren Freiheitskern im Menschen nicht aus. Dieser Kern sei jedoch, obwohl oder weil wir nach der Paralogismenlehre der Kritik der reinen Vernunft keinen ontologisch substantiellen Ich-Kern besitzen, nicht empirischer Art und Herkunft, er sei rein noumenaler Art und Herkunft. Dies der kritische Anstoß, den Kants Nachfolger aufnahmen und weiterspielten. Die vorkritische Substanzmetaphysik der sogenannten Schulphilosophien hatte ausgespielt. (Und Leibniz‘ Entelechie-Kontinuum zwischen Leib und Seele, zwischen Tier und Mensch, zwischen unfreien und unbemerkbaren Perzeptionen und einer die Freiheit konstituierenden Apperzeption war obsolet geworden.)

Nach Kant läßt sich die Freiheit des Menschen empirisch weder beweisen noch leugnen, weder begründen noch als inexistent behaupten. Aller Evidenzglaube (an eine vernunftnatürlich gegebene Freiheit) a là Rousseau sei unterbestimmt, aller dezisionistische Voluntarismus in Sachen Freiheit sei vorphilosophisch.

Modernistisch formuliert: der Mensch ist als Naturwesen vollständig determiniert: als Geistwesen vollständig frei. Doch mit welcher und durch welche Freiheit frei? Es soll eine noumenale, eine gesetzgebende und zugleich Gesetze-empfangende Freiheit möglich sein. Wille und Vernunft eines Wesens sollen möglich sein, die dessen gesetzgebendes Tun und Lassen nicht unterbieten, vielmehr erst ermöglichen:

Ein sogenannter „intelligibler Charakter“ des Menschen, jeder Art und Weise seiner spezifischen Charakterbildung immer schon vorausgesetzt, setzt moralische Urhandlungen (modern: „Intuitionen“) frei, die ein freies Gewissen eines frei handelnden Wesens ermöglichen. Anders formuliert: Grundsätze einer moralischen Vernunft, über deren Grundvermögen keine weiteren Begründungen sinnvoll möglich seien. Jeder weitere oder tiefere Begründungsversuch sei zum Scheitern verurteilt.

Das gegebene Grundvermögen reiche zu, um sich und seinesgleichen (alle Menschen besitzen gleiche Autonomiefreiheit)als Anteilseigner am (höchsten moralischen) Gut Freiheit erkennen und anerkennen zu können. Doch die Handlungen dieser Freiheit sind selbst wiederum empirische Erscheinungen, sie sind aus ihrem noumenalen Schatten immer schon herausgetreten. Und unterliegen als empirische res facta doch wieder den Gesetzen der Natur? Sollte Rousseau doch recht behalten? Der Mensch dürfe den Baum der Lebensnatur nicht allzuweit verlassen, er dürfe nicht nach einer unsichtbaren Hand über sich greifen, soll seine Freiheit nicht bodenlos, „intelligibel“, grundlos werden?

Doch dazu bestehe keine Gefahr, meinte Kant, wenn in den (empirischen) Erscheinungen der Freiheit deren transempirischer Vernunft-Kern unverwüstlich erhalten bleibe. Wozu wiederum alle Anteilseigner der Freiheit apriori durch Vernunft fähig und verpflichtet sind. Durch deren Vergemeinschaftung lasse sich – keine übermenschlich intelligible, sondern – eine erstmals wirklich vernünftige Gesellschaft und menschliche Kultur organisieren. Ein Reich gemeinsamer Zwecke, das um eine zentrale Vernunft kreise und doch zu geschichtlicher Vorwärtsbewegung fähig und verpflichtet sei. (Religiöse und theologische Begründungen der Freiheit treten endgültig ins zweite Glied.)

Natürlich kennt auch Kant ein selbstevidentes Bewusstsein der Freiheit an. Die Anteilseigner sollten sich nicht als solche wissen und erkennen können? Aber „Evidenz“ ist nur ein anderes Wort für Unmittelbarkeit, und als Kategorie verstanden wird „Evidenz“ gefährlich oft als eine nur durch sich selbst vermittelte Unmittelbarkeit mißverstanden. Eine Unmittelbarkeit aber, die nur durch sich selbst vermittelt ist, ist eine unvermittelte Unmittelbarkeit: Eine grundlose Tautologie, die an Münchhausens Geniestreich erinnert, sich am eigenen Schopf aus bodenloser Tiefe hochziehen zu können.

Durch keine Evidenzen unseres Bewußtseins können wir zwischen dem noumenalen und dem empirischer Charakter unserer Freiheit unterscheiden. Im Empirischen leiten uns unser Verstand und unsere Sinne sowie deren erscheinende Phänomene zu guten und wahren Unterscheidungen. Aber im nichterscheinenden vorempirischen Noumenalen unseres intelligiblen Ichs, in dem der gesuchte Grund der Freiheit vergraben wurde, haben uns Verstand und Sinne verlassen. Sollten sich an diesem Ort Begriffe und Gedanken herumtreiben, oder Quellen und Prinzipien finden lassen, müssen sie so unsichtbar schwarz sein wie die berühmten Kühe, die in schwarzer Nacht deren farblose Farbe anzunehmen pflegen.

Mit einem Wort: Kant scheint recht zu behalten: laßt uns über unser Vermögen der Freiheit nicht weiter nachforschen, laßt uns wieder an die Oberfläche der Erde zurückkehren, in das natürliche Licht, wo die Resultate unserer Freiheit genug Stoff bieten, unsere Gedanken- und Handlungsfreiheit in Gang zu setzen und auf Trab zu halten.

Beispielsweise lasse sich die psychologische Wirkung des Moralgesetzes und seiner Imperative unmittelbar erfahren: Wer das Laster bekämpft und überwindet, dem geht es besser, er „fühlt“ sich freier, er weiß sich als Kämpfer und Sieger. Insofern scheint der schwarze Grund des Moralgesetzes doch etwas Helles und Erhellendes zu besitzen. Das schwarze Noumenale ermöglicht das Erscheinen eines sich an prächtigen Farben erfreuenden Charakters.

Also müßte die von Kant behauptete „unzertrennliche Verbindung“ von Freiheit und selbstgesetzgebendem Willen doch nicht nur an ihren erscheinenden Verbindungen erkennbar sein. Denn solange dies gilt, bleibt der Als-Ob-Verdacht bestehen: trotz aller Freiheitsbeispiele könnten wir uns nur einbilden, auf und aus wirklich freiem Grund zu handeln und zu leben. Wir könnten nur so tun und nur so denken, also ob wir frei wären.

Wenn wir aber über das Woher unserer Selbstgesetzgebung nicht „nachforschen“ können und sollen, weil uns die Grenzen unserer beschränkten Vernunft daran hindern oder raten, es gar nicht erst zu versuchen, soll – soll – uns der intelligible Charakter auf ewig ein Buch bleiben, das mit sieben Siegeln verschlossen wurde.

Nach Kant soll – soll – Freiheit die ratio essendi des moralischen Gesetzes sein, während das moralische Gesetz die ratio cognosendi sei. Diese These, gegen Kant gelesen, führt zur erweiterte These, daß wir inmitten unserer praktischen Vernunft doch einen leeren(?)Raum besitzen, in dem eine immer schon vorausgesetzte absolute Vernunft eine begreifbare Offenbarung über unseren erkennbaren Freiheitsgrund bereit halten könnte. Doch wie angedeutet verweigert sich Kant diesem Weg und seinem Quellort. Über den Grund des Noumenalen unseres Vernunftcharakters sollten wir nicht reflektieren.

Warum kann Kant Personen dieser dunklen Herkunft als freie Menschen bezeichnen, die über ein Vermögen, nach Prinzipien und Gründen zu handeln, verfügen? Eine negative Definition von Freiheit, der die positive noch fehlt. Denn nach Prinzipien (moralischen Grundsätzen) und rationalen Gründen handeln zu können, setzt schon voraus, daß das Vermögen dazu einen eigenen Vernunftgrund zur Voraussetzung hat. Die transzendentale Begründung Kants setzt somit etwas voraus, was sie selbst zu reflektieren verbietet oder verunmöglicht. Worauf, unter anderen, bereits Jacobi aufmerksam machte.

Daraus folgt, daß unsere Freiheit durch eine Determination determiniert ist, die allen rationalen Herrschaftsakten der moralischen Vernunft vorausliegt. Diese absolute Determination beläßt uns nicht die Wahl, zwischen Freisein und Nichtfreisein wählen zu können. Der Kategorische Imperativ kann „nicht in der Luft hängen“, er kann sich nicht einem Vernunftvakuum verdanken. Wie schon erwähnt: die ratio essendi der moralischen Vernunft, muß sich einer absoluten Vernunft verdanken.

Jeder Mensch ist demnach zu einer Unbestimmtheit unmittelbar bestimmt, deren Vermittlung bzw. Grund selbst nicht unbestimmt ist. Die Unbestimmtheit ist nur das erste Mittel, die Bewegung des Bestimmens (absolute Freiheit) in Gang zu setzen, die unbestimmte Unmittelbarkeit ist vermittelt. Und in diese Grund-Bewegung steigt Hegels Vernunft-Logik anfänglich anfangend ein.

Daher hat man mit Recht gesagt, der Deutsche Idealismus propagiere ein System der Freiheit, alle seine Systementwürfe würden um den Begriff der Freiheit als höchstem und tiefstem Vernunftbegriff kreisen. Aber nicht nur die „Systementwürfe“, auch das System selbst, an dessen Fortführung die Menschheit daher fundamental, kollektiv und global interessiert sein sollte. Das „System selbst“ existiert als Aufgabe (nicht als Utopie) fort, denn Begriff und Idee einer Einheit von theoretischer und praktischer Philosophie sind unvermeidlich. Daß die Katastrophen schon des 19., und vor allem des 20. Jahrhunderts diese Aufgabe hintertrieben, und die meisten Philosophien der Moderne und Postmoderne diese Aufgabe verfehlen, sollte bekannt (geworden) sein.

Auch Schelling beklagte den lediglich transzendental begründeten Freiheitsbegriff Kants. Später freilich auch die „idealistisch“ begründeten Autonomie- und Systembegriffe Fichtes und Hegels, womit er sich unter die Vorläufer Schopenhauers einreihte. – Woher einen nicht-grundlosen Freiheitsbegriff nehmen und nicht etwa bei Religion und Theologie stehlen? Diese Grundfrage steht immer noch im Denkraum der Menschheit, zunächst der philosophierenden. Allein die Tatsache, daß bis heute kein umgangssprachlich brauchbares Wort für „Idealismus“ und „idealistisch“ gefunden wurde, verweist auf eine innere Verweigerung zunächst des deutschen, dann des europäischen Geistes, der zur Orientierungs- und „Obdachlosigkeit“ der Gegenwart geführt hat.

Indem aber der absolut begründete Freiheitsbegriff Schellings lediglich im „Vermögen des Guten und Bösen“ bestehen sollte, verblieb er einerseits noch ein Nachläufer Kants. Doch weil sich in diesem Vermögen die Unabhängigkeit des Menschen von Gott beweise, näherte er sich bereits den Vorläufern Nietzsches an. Nicht zufällig, daß dieser die Spuren seiner Verwandtschaft mit Stirner so oft und so gründlich wie nur möglich zu verwischen wußte.

Mit einem Wort: Schelling geht zwar über die Grunddifferenzen zwischen theoretischer und praktischer Philosophie, die noch für Kant unüberwindbar waren, hinaus. Aber einen Weg zu einer personalen Ontologie eines Menschen, dem ein unendliches Wissen über seine Endlichkeit hinaus zugänglich wird, findet er nicht. Der Absturz in den Nominalismus droht an jeder Ecke seines nach-idealistischen Systems. „Metaphysisch und religiös heimatlos“ sowie „transzendental obdachlos“ – diese Erbschaft wurde an das 19. und offenbar auch an die folgenden Jahrhunderte weitergegeben.

Schelling weiß, daß freie Entscheidungen und Handlungen nicht allein aus Reflexionsakten, denen eine nur vorübergehende Zeitlichkeit zukommt, emanieren können. Sie wären in diesem Fall den momentanen Ausbrüchen von Vulkanen vergleichbar, die ansonsten die allermeiste Zeit ihres Daseins als „Freizeit“ von sich selbst verbringen und genießen. Wie wäre im Gegensatz dazu eine ewige Zeitlichkeit oder zeitliche Ewigkeit zu denken, in deren bewegter und zugleich mit sich identischer Reflexion die Persönlichkeit des Menschen gewiß sein könnte, weder unfrei noch scheinfrei zu denken und zu handeln?

Daß unsere Selbstbestimmungen zu Taten, denen ein Erkanntsein ihrer Realitätsbedingungen immer schon vorausgeht, immer zugleich innerhalb und außerhalb der Zeit liegen müssen, weil sich sonst die Identität der Person entzweien, spalten und verlieren würde, führt auch Schelling auf eine ursprüngliche Selbstbestimmung, an der unsere Anteilhabe gleichfalls nicht in der Zeit zu verorten ist, zurück. Aber er findet den Faden der Ariadne nicht, um die Reflexionsverwicklung bis an ihr anfangendes Ende aufzulösen zu können.

Im bestem Fall bliebe noch eine Rückkehr zu Malebranches okkasionalistischem Gott, der uns in jedem Augenblick neu und doch nur immergleich auferbaut. In Malebranches Fall freilich nur, um gegen Leibniz‘ Monadologie einen haltlosen Einspruch zu erheben. Daher können wir aus doppeltem Grund zu Malebranche und dessen rastlosem (Vulkan-) Gott nicht zurückkehren.

Hätte der Spätidealismus Schellings den deutschen Idealismus zu Ende geführt, wie Walter Schulz meinte, wäre dieser durch jenen seiner Selbsterschöpfung überführt und zugeführt worden. Noch die heutigen und künftigen Erben von Feuerbach und Marx, von Schopenhauer und Nietzsche hätten keine Alternative als nur diese: einer dieser untervernünftigen Zerfallsrichtungen folgen zu müssen.

Die voluntaristischen und existentialistischen Lebensphilosophien nahmen den unsterblichen Freiheits-Willen des Idealismus seit dem 19. Jahrhundert sukzessive zurück. Und für die materialistischen Philosophien und deren nachfolgende Ideologien war ohnehin klar, daß „das Sein das Bewußtsein bestimmt“ und nicht umgekehrt. Noch an dieser ins Absurde verdrehten Ontologie-Formel des Idealismus läßt sich die Tragödie eines Europas ohne Vernunft erahnen: Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt, doch nunmehr (und für immer?) ohne Kopf dahingestellt.

Leo Dorner, April 2021