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7 Extrembergsteiger

A.

 

Der Extrembergsteiger, eine späte Frucht von Moderne, mimt in der Weltgeschichte die Rolle des von Schopenhauers Philosophie ins Leben gerufenen Menschen: atheistisch geworden will und muß er die Welt als Setzung seines Willens und seiner Vorstellung behaupten und erleben. Und die Journalistenformel vom „Grenzgänger des alpinen Bergsteigens“ enthält verhüllt sowohl die Anerkennung des triumphierenden Bergsteigers als Priesters und Erlösers wie auch die Anbetung des Abenteuers als letzter noch möglichen Religion, – mit den letzten noch möglichen Riten und Kulten, die sofortige Befreiung verschaffen.

Müssen alle Grenzen dieser Welt überschritten werden, um zu zeigen, daß sie lediglich vorgetäuschte sind, kommt dies einem Beweis der Unendlichkeit unseres Wollens und Vorstellens gleich. Wir selbst haben uns über uns getäuscht: denn allein wir setzen im Setzen entgrenzbarer Grenzen das Dasein einer Welt, in der das gesuchte Ziel: es möge ein sinnerfülltes Leben auffindbar sein, auffindbar wird. Laßt uns gezielt über unsere Täuschungen enttäuschen.

Es bedarf keines Kommentars um zu erkennen, daß an der Wurzel dieser „Lebensphilosophie“ die Todesphilosophie der Sinnverzweiflung des bürgerlichen Menschen steht, der als moderner Naturbursche im 19. Jahrhundert das materialistische Licht der modernen Welt erblicken sollte. Er ist mittlerweile gestorben, weil die erfolgreiche Bezwingung aller natürlichen Gipfelgrenzen dieser Erde bedingt, daß fortan nur mehr künstlich aufgeputschte Entgrenzungsabenteuer übrig geblieben sind.

Daher auch die Krise des forschen Atheismus von einst im Milieu von heute: er gerät in seine Hyperkrisis, wenn zwar nach wir vor feststeht, daß das Dasein des Menschen unerträglich sinnlos ist, nun aber auch alle Anstrengungen, das Leben sinnvoll zu machen, nicht mehr durch Entgrenzungsakte zum Erfolg führen. Der gottgleiche Ermächtigungswille des Schopenhauerschen Willens und Vorstellens mag sich nun nicht mehr als neuen Gott erblicken und glauben.

Im Grunde jedes endlichen Willens, der nach seiner Entgrenzung lechzt, rotiert der Abgrund eines Wunsches nach Selbstauslöschung. Denn allein der Tod wäre jene abenteuerliche Grenze und Gipfelregion, die jedem Freibeuter aller Grenzen dieser Welt eine absolute Grenze entgegenwerfen kann. Seinen Tod durch Übermut hervorbringen, bedeutet in dieser Region: eine neue Art von Unsterblichkeit erzeugen und aus-leben.

 

B.

 

Bubendorfer authentisch: es klinge komisch, aber er empfinde es so: wenn er den Berg angehe, richtig und gut, dann fühle er sich „gut“ in jedem Sinn dieses Wortes. Er spüre dann, wie der Berg auch reagiere, wie er ihn anfeuere und bestätige. Worte, die das Bekenntnis eines neolithischen Animisten zu wiederholen scheinen, und in der Tat muß der moderne Geist und dessen Entgrenzungsfreiheit eine animistische Genialität freisetzen, wenn die Natur zum Selbst seines Geistes aufgestiegen ist.

Denn kein Geist, kein Wille, kein Vorstellen wäre langweiliger als diese, die keine Grenze hätten, weil sie jede immer schon gesetzt hätten. Scheinbar nur mehr als Natur erfährt sich dieser homo modernus daher nochmals begrenzbar, besiegbar und sterbbar, und diesen Tod der Natur konsequent aufzusuchen, wird zum letzten Refugium der neuen und letzten Religion. Es soll offenbar werden, daß Geist und Vernunft nichts als Schimäre sind, und wäre Natur deren wirkliches Selbst und nicht umgekehrt, wären sie allerdings Schimäre und nicht die Setzung eines absoluten Geistes, der dem endlichen Freiheit und Natur als wohl zu verwahrende und zu entwickelnde schenkt und gründet.

Ein anderer Bubendorfer, allein in der Ferne unterwegs, hockt authentisch viele Tage in seinem winzigen Zelt am Fuß des Mount Kinley: das Videotagebuch filmt unerbittlich jede Sekunde tödlich umgrenzter Existenz, kein setzbarer Schritt vor das Zelt, wo die Natur einen heulenden und rasenden Sturm losgelassen hat, der den stärksten Mann zur Schnecke macht.

Die Kamera läuft, und wir sehen – ziemlich teilnahmslos – die Verzweiflung im Gesicht des Ausgesetzten, wir hören, wie er sein Los beklagt, wie er darüber lamentiert, daß er nun so ganz ohne Spaß und Abenteuer vegetieren müsse, und was er „jetzt“ in seinem sonnigen Domizil in Monte Carlo nicht alles unternehmen könnte.

Dann aber spricht sein Wille und seine Vorstellung mit der Kraft ihres Patents:

„Es ist doch so einfach: du brauchst dir nur vorzustellen, du hast es gewollt, und es ist das beste von der Welt.“ Redepause; Schweigen; Warten; ein Gesicht wie ein Pudel; dann Gelächter des Helden. Später wird er Vorträge in überfüllten Hörsälen über die positiven Seiten des Scheiterns halten, – weil sein Wille auch diese Krisis selbst herbeigeführt und allmächtig gewollt habe.

Stürzen wir in eine Unendlichkeit ab, die keinen Grund unter sich hat, ist der Flug der Freiheit grundlos; und nach einer alten vergessenen Lehre gehört sich dies nicht für uns: grundloser Grund sein zu können und sein zu wollen.

 

C.

 

Die bekannte und beliebte Dialektik des bürgerlichen Bewußtseins, daß es an seiner Vorderseite die moderne Vollendung der rationalen Subjektivität der Neuzeit sei, an seiner Rückseite aber das genaue Gegenteil: die vollendete und vorher niegewesene Irrationalität höchstpersönlich, zwischen Vernunft und Verrücktheit in jedem Augenblick deren Kleider wechselnd, versuchte das 19. Jahrhundert noch mit edler Ästhetik und schöner Künst zu befrieden. Nietzsches Wagner lebt in seiner Musik aus, was der Denker nur zu denken wagt: ein sinnloses Dasein ist nur mehr durch schöne Kunst zu rechtfertigen.

Daß diese Dialektik im 20. Jahrhundert sportif werden mußte, wissen wir; auch war Adornos Diagnose richtig: Vernunft, getrennt von ihrem absoluten Grund, muß in ihr Gegenteil stürzen; aber das Rezept seiner Therapie diktierte ihm die erkannte Krankheit, nicht deren Arzt.

Entgrenzt sich der Geist purer Freiheit und Rationalität ins Äußerste seiner natürlichen Existenzbedingungen, muß ihm schmerzlich werden, daß die Zeit der Abenteuer in „freier“ Natur zu Ende zu gehen scheint: Alles schon erobert, alle Berge schon bestiegen, alle Kontinente schon entdeckt, wozu noch leben?

Und auch die Versuche, alle Abenteuerfelder nach innen zu verlegen, alle Materialia und Sensibilia der modernen Künste zu mystischen Substanzen und schamanistischen Instanzen zu erheben, wiederholt nur die bekannte und beliebte Dialektik. Vernunft und Freiheit möchten sich grundlos und aus grundlosem Grunde selbsterschaffend und selbsterlösend erfahren. Philosophie war Urheberin auch dieses Spektakels.

Fehlt noch der grenzenlose Ruhm, um der Entgrenzung die letzte Krone aufzusetzen. Aufs glänzendste läßt sich ein Abenteurertum vermarkten, das zwischen seiner schwindenden Realität und nichtmehrschwindenden Inszenierung alle unterscheidbaren Grenzen verwischt. Jetzt erst ist die Welt ihr Wille und ihre Vorstellung: Der Geist des Marktes betätigt sich als unerschöpflicher Allschöpfer neuer Abenteuer und Entgrenzungen, neuer Lifestyles und Produkte, neuer Outfits und Infits. Die Firma Schopenhauer gibt das Geheimnis ihres Patentes frei.