Categories Menu

42 Was ist ein Ereignis?

I.

Wie das Muster einer Nominaldefinition begegnet uns der Satz: Ereignis ist etwas, das geschieht. Wir wittern Betrug, hohles Urteil und leere Phrase. Verständlich, weil unser Alltagsdenken nicht mit Tautologien operiert; wir denken und reden zumeist in inhaltlich erfüllten Begriffen und logisch unterscheidenden Worten. Demzufolge ist ein Ereignis ein herausragendes Geschehen, das sich von nichtherausragenden erkennbar unterscheidet. Gibt es Ereignisse, gibt es auch Nichtereignisse, und beide gibt es nur gegen- und miteinander. Folglich immer gleichzeitig und an jedem Ort der natürlichen und geistigen Welt.

Wie denkt unser Denken, wenn es Ereignis von Nichtereignis unterscheidet? Weiß es um diesen Unterschied, weil es durch Erfahrung und Lebenserfahrung darüber belehrt wurde? Oder weiß es darum schon vor aller Erfahrung, sozusagen schon seit oder vor seiner Geburt? Weiß schon jeder Neugeborene um diesen Unterschied, obwohl er ihm anfangs verdeckt sein muß, da ein Geist, dem alles neu erscheint, unaufhörlich von Ereignis zu Ereignis eilt, weil er überall Ereignisse erblickt, Wunder über Wunder, gänzlich frei von Gedanken, Begriffen und Worten.

Am anderen Ende dieses anfänglichen Extrems menschlicher Welterfahrung steht das spätere Extrem des philosophischen Nachfragens. Jetzt wird beurteilt und erfahren erfahren, jetzt sind Worte und Begriffe in den Geist des Menschen eingekehrt, und was ein Ereignis ist, das scheint in der Macht des Menschen oder seines Schicksals zu liegen. Aber eben diese Behauptung versucht das philosophische Fragen, das allen Begriffen auf ihren Grund leuchten möchte, in Frage zu stellen.

Wenn Philosophie im traditionellen Sinn ontologisch fragt, ist sie denkbar weit entfernt von der Realität des modernen Lebens, seiner wissenschaftlichen oder meinungsfreien Weltauffassungen. Allerdings gibt es auch moderne Ontologien, aber dazu später. Läßt sich auf der Ebene der traditionellen Ontologie ein klarer (und somit logischer) Unterschied von Ereignis und Nichtereignis begründen? Wie wäre ein geschehendes Dasein namens Ereignis von einem geschehenden Dasein namens Nichtereignis unterscheidbar? Existiert ein ontologischer Unterschied zwischen beiden Arten von Dasein?

Daß beide, Ereignis und Nichtereignis, nicht wie Sein und Nichts, nicht wie Dasein und Nichtdasein unterschieden sein können, scheint evident, wenn, wie gezeigt, Ereignis und Nichtereignis untrennbar aufeinander verweisen. Beide können auch nicht von einem Nichts „umgeben“ und getragen sein, nicht von einem Nichts, in dem sich aller Unterschied verliert und daher keiner begründen läßt. Schon weil sich im Nichts kein Werden von Etwas begründen läßt. In diesem Fall hätten wir eine nihilistische, eine sich selbst aufhebende und vernichtende Ontologie irrtümlich bemüht, einen ontologischen Unterschied von Ereignis und Nichtereignis zu begründen.

In der antiken Ontologie, sei es der Idee, sei es der Entelechie des unbewegten Bewegers, mußte daher die vermittelnde Kategorie des Werdens zwischen dem als ewig vorgedachten Sein und dem wechselnden Dasein eingeschoben werden. Das Werden wurde auch als Bewegungsursache nötig, um den unaufhörlichen Wechselkurs von Ereignis und Nichtereignis zu erhalten. Doch damit wurde das Werden selbst ambivalent: zum einem Teil dem ewigen Sein verhaftet, zum anderen Teil die Bewegung von Dasein zu Nichtdasein und zurück, von Ereignis zu Nichtereignis und zurück antreibend und begründend.

Dieser Ambivalenz entzog sich nur der antike Skeptizismus, freilich um den Preis, daß er nicht mehr sagen konnte oder wollte, ob die Welt (und mit ihr der Mensch) ein Ereignis oder ein Nichtereignis sei. Richtig bleibt an dieser Position, daß ein Nihil negativum, ein nichtseiendes Nichts, keine Spur von Werden enthält, kein Verändern und kein Geschehen, und daher nicht in die (logische) Auseinandersetzung zwischen Ereignis und Nichtereignis eingreift.

Es ist gewissermaßen zu allgemein oder „jenseitig“, um die gestellte Ereignisfrage beantworten zu können. Gewiß kann ein ontologischer Begriffsunterschied auch bei ihnen nicht geleugnet werden, denn ohne Nichts und Nichtseiendes sind auch Sein und Etwas nicht denkbar. Aber sie grundieren und begleiten „nur“ Fragen der Art: Warum gibt es etwas und nicht vielmehr (nur) nichts?

Behauptete jemand: nur das Nichts und das Nichtseiende seien ein wirkliches, ein geschehendes Nichtereignis, hätte er den schon gewonnenen Unterschied von a) geschehendem Dasein namens Ereignis von b) geschehendem Dasein namens Nichtereignis wieder verloren und vernichtet. Auch der Tod des Menschen ist ein Ereignis, und bekanntlich kein nicht herausragendes.

 

II.

Daß alle ontologischen Bemühungen, ‚Ereignis‘ als logische Kategorie zu denken, für alle Wissenschaften und für das alltägliche Denken des Menschen irrelevant sind, versteht sich gleichsam von selbst. Es regiert der Konsens des common sense: weder existiert eine über alles übergreifende und in allem anwesende Definition von Ereignis, noch läßt sie sich durch spekulative Gedanken-Experimente finden.

Folglich obliegt es den speziellen Wissenschaften der Natur und des Geistes, von der Kosmologie bis zur Biographie, im Realitätsbereich ihrer Gegenstände die jeweils geltenden Begriffe von Ereignis zu finden und zu formulieren. Die Supernova von 1054 wurde von einigen zufälligen Beobachtern durchaus als Ereignis registriert. Ein neuer Wandelstern, fast so groß wie Jupiter, schien geboren, der die anderen Wandelsterne vulgo Planeten für einen Moment, der etwa ein Jahr dauerte, zu Nichtereignissen degradierte.

Was das Ereignis bedeutete, und wie es zu lesen sei, entzog sich den damaligen Himmelswissenschaften gänzlich. Erst viel später wurde das Ereignis „Krebsnebel“ entdeckt, doch sorgten ungezählte weitere kosmische „Nebel“, die Hunderte Jahre später nach und nach und nunmehr ohne absehbares Ende entdeckt wurden und werden, daß dieser eine unter Myriaden von „Nebeln“ nur noch in den modernen Himmelswissenschaften jene Aufmerksamkeit erreicht, die ihm den Status von Ereignis zusichert. Beide Ereignisse, Supernova und Krebsnebel, verhalten sich wie Ursache und Wirkung, wie unmittelbares und reflektiertes Erlebnis, wie Ereignis und Nicht(mehr)Ereignis, obwohl uns die Astronomie versichert: Das Geschehen im Krebsnebel von heute gestalte sich überaus ereignisreich.

In unserem vorwissenschaftlichen Alltagsleben sorgt dieses selbst für einen unaufhörlichen Wechsel von Ereignis und Nichtereignis. Geburtstage und andere Feiertage en familie zieren den Fluß des Lebens durch neue oder sich wiederholende Inseln, ohne doch die Inseln oder Inselketten der Leidens- und Schmerzenstage vergessen zu machen. Als die wöchentlichen Feste und die herausgehobenen Feiertage des Kirchenjahres das Leben der westlichen Gesellschaften noch verbanden, gestalteten die Inseln sich gleichsam zu Brücken über den Fluß des alltäglichen Lebens hinüber zu einem anderen und höheren Leben.

Wäre kein Mensch, wer sich nicht nach herausragenden Ereignissen sehnte. Ein „Promi“ zu sein, dürfte im menschlichen Leben der Ereignisse größtes sein: wer schon als Name und Person über alle Namenlosen hinausragt, dem kann nicht mehr geholfen werden. Seine Familie sind alle anderen, die zu seiner Fan-Familie gehören. Treffen wir im fernen Ausland, in einer Millionenstadt, einen Bekannten, den wir nicht einmal im Traum an diesem Ort vermuteten, ist klar und offenbar, daß ein Ereignis stattgefunden hat, an das wir uns noch lange nachher mit eigentümlicher Nostalgie erinnern.

Die digitale Revolution bringt auch in diese ruhige Gemengelage von Ereignis und Nichtereignis eine verstörende und lebensumstürzende Unruhe. Ein Menschheits-Ereignis einer „ganz anderen Art von Ereignis“, über dessen künftige Konsequenzen keiner der digitalen Teilnehmer Auskunft und Rechenschaft geben könnte.

Der medial und digital versorgte Mensch erntet geradezu minütlich neue Ereignisse. Kaum ein Augenblick, der nicht mit „News“, fremdgewählten und selbstgewählten, erfüllt wäre. Sensationen verfolgen ihn auf Schritt und Tritt, – man muß teilgenommen haben, um dabeigewesen zu sein. Ein Menschheitsphänomen, kein Massenphänomen, weil es „User“ auf allen Kontinenten hypnotisiert und hysterisiert, wozu sowohl die „moralische Entrüstung“ über, wie die moralische Gleichgültigkeit gegen alle Ereignisse beiträgt. Eine humanitäre Rettungsaktion in Kriegsgebieten ist ebenso Ereignis wie ein Massenmord an Zivilisten durch Terroristen.

In der vordigitalen Welt gilt für alle Ereignisse, trotz ihrer unübersehbaren Vielfalt an Arten und Individuationen die psychologische Voraussetzung (deren Ontologie in Frage steht), daß Ereignisse nur durch Unterscheidung von Nichtereignissen möglich sind. Die berühmte Stecknadel in einem stillen Raum, die alle Menschen fallen hören, die sich im Raum befinden, setzt eine ereignislose Stille als Bedingung ihrer Ereignismöglichkeit voraus. Dieser Raum verstirbt im digitalen Erlebnisraum. Möglich, daß die um sich greifende Sucht des Computerspiels einen neuen Raum der Distanzierung und Rekreation schafft. Aber das lebenswichtige Element Langeweile, einst der kräftigende Hort gesicherten Nichtereignisses, verschwindet.

Weil aber der digitale Mensch der Zukunft immer auch in einer nichtvirtuellen, nichtdigitalen, nicht medial zerstreuenden Welt wird leben müssen, bleibt die Ontologie der vordigitalen Psychologie bestehen: Allen Ereignissen dieser Welt liegen notwendige Bedingungen und Voraussetzungen voraus, die selbst keine Ereignisse sind, keine sein können, keine sein sollen.

 

III.

Und da wir den Begriff „Ereignis“ auf die Weltrealitäten von Natur und Kosmos einerseits, von Kultur und deren Geschichte(n) andererseits applizieren müssen, wären dort die Naturgesetze, hier die Normen der Sitten und Rechtsgesetze, ebenso die normenähnlichen Glaubensinhalte der Religionen und nicht zuletzt die je aktuellen Weltanschauungsinhalte von Politik und Gesellschaft als ereignisermöglichende Nichtereignisse zu nennen.

„Wären“, weil selbstverständlich nicht nur die Gesetze und Normen, sondern zugleich viele Welt- und Kulturzustände, und diese sogar in überwiegender Mehrzahl, an langweiliger Ereignislosigkeit kaum zu überbieten sind. Die Friedenszeiten der Weltgeschichte sind deren Ruhe- und Erholungspausen. Der vollkommene Nichtereigniszustand ist das andere Extrem des historischen Momentes erfüllter Ereigniswichtigkeit. Unwichtigkeit und Wichtigkeit konvergieren, wie schon daran ersichtlich wird, daß jede Ereignislosigkeit durch Absicht und Können in ihr Gegenteil überführbar ist.

Diese langweilige Straßenkreuzung beispielsweise, an der schon seit einer Stunde weder Menschen noch Fahrzeuge gesichtet wurden, hindert niemanden daran, einer genauen, und bei anhaltender Geduld und Aufmerksamkeit einer immer genaueren Beobachtung und Beschreibung gewürdigt zu werden. Prompt wird aus der fast unerträglichen Langeweile über ein von allen guten Geistern verlassenes Weltstück eine überaus einträgliche Unterhaltung mit den interessanten Geistern desselben Weltstückes.

An diesem Wendepunkt kommt auch die moderne Kunst ins Spiel, deren „subversive Werke“ bekanntlich fordern, das scheinbar Gerade als insgeheimes Schräges erkennbar zu machen, das Identische als Nichtidentisches, das Normale als abnormal, das Vernünftige als Absurdität, das Absurde als neue Normalität usf.

Ein inflationäres Unternehmen einer inflationären Kunst und Ästhetik, die alle Artefakte und „Performances“ der ästhetischen Moderne im Moment ihres Erscheinens augenblicklich in ästhetische Postmoderne verwandelt. Der Moment der Geburt fällt mit dem Moment des Todes in einen und denselben Moment zusammen. Das „Kritische“ des „ästhetisierten“ Momentes wird nicht unnötig, denn es ist unterhaltsam, aber sein Inhalt wird illusorisch. Dennoch hält sich die spielerische Intellektualität der modernen Kunst und Künstler immer noch für die Avantgarde der (politischen) Menschheit. Marginalkultur verwechselt sich mit realpolitischer Zentralkultur.

Davon ist Philosophie, die sich mit „Ereignis“ als beliebigem Allgemeinbegriff beschäftigt, frei. Nichts kann marginaler und peripherer sein als die philosophische Reflexion auf die formalen Grundlagen des Erlebens von Natur und Kultur. Dennoch ist es mehr als ein interessantes intellektuelles Spiel.

Denn ein beliebiger Allgemeinbegriff kann uns nützlicherweise lehren, zwischen beliebigen und nicht-beliebigen Allgemeinbegriffen präzise zu unterscheiden. Und wer möchte nicht dem Funktionieren unseres Denkens beim Verfertigen seiner Urteile aus nächster Nähe zusehen?

Nochmals: das Argument, man müsse ontologisch zwischen Ereignissen und Nichtereignissen unterscheiden, gibt keine Auskunft darüber, wie Wissenschaften und Alltagsdenken in den Räumen der Natur und Kultur empirisch konkret zwischen beiden Faktoren unterscheiden (sollen). Daher die zunächst richtige Diagnose: weil eine „übergreifende Definition“ von Ereignis nicht existiere, müssten die Wissenschaften (von der Historie bis zur Physik), die Klärung dieses Begriffs zur „zentralen wissenschaftlichen Aufgabe“ erheben. Dazu kommt, daß auf ontologischer Ebene gleichfalls nicht klärbar ist, ob und welche „verborgenen Ereignisse“ geschahen und immer noch geschehen – wiederum in Natur und Kultur.

Der Unterschied von Verborgensein und Nichtverborgensein bringt aber das aktive Dasein von Bewußtsein und Geist unausweichlich ins Spiel. Und damit auch die Genealogie (Gewordensein) von Bewußtsein und Geist, gleichgültig, ob diese durch biologische Evolution erklärbar oder nicht erklärbar ist.

Die Menschwerdung der Primaten, sie mag sich einem einzigen oder, viel wahrscheinlicher, oftmaligen Ereignissen verdanken, war offensichtlich ein bedeutsames Ereignis, das aber von keinem der Beteiligten als großes Ereignis wahrgenommen wurde, weil sich kein menschwerdender Primat von außen sehen und reflektieren konnte. Und insofern er sich mit den Primaten im Kampf ums Überleben doch verglich, schon weil sein Stolz ihn zwang, seine Erfolge zu sammeln und zu zählen, konnte er die menschheitliche Bedeutsamkeit seiner Siege und Überlegenheit nicht wahrnehmen. Langsamer als der Mond zogen diese Vorboten der Zukunft an seinem Lebenshorizont vorbei.

Gleichfalls war die katastrophale Kollision der Erde mit einem Asteroiden, die vor 65 Millionen Jahren höchstwahrscheinlich zum Aussterben der Dinosaurier führte oder dieses erheblich beschleunigte, ein Menschheitsereignis, obwohl es von Menschen nicht wahrgenommen wurde. Doch ohne dieses Ereignis wäre die Entwicklung vielfältiger Säugetier-Arten nicht möglich gewesen, die wiederum die Voraussetzung für die Evolution von Primaten und deren Entwicklung war. Und daß erst diese eine Evolution von Menschen emanierte, die das 65 Millionen Jahre zurückliegende Kollisionsereignis rekonstruieren und damit einer kollektiven Erinnerung zuführen konnten, zählt heute zum wissenschaftlich begründeten Alltagswissen.

Dennoch kommt mit dem Faktor Bewußtsein und Geist ein erheblicher Unsicherheitsparameter in das Spiel um Ereignis und Nichtereignis. Denn alles und nichts kann des Geistes fette Wahnsinnsbeute werden.

Wenn ein Fahrrad, das jetzt in China umfällt (und über social media einigen Millionen Menschen handylike mitgeteilt wird), dann ist es das Bewußtsein und der Geist von (News begehrenden) Menschen, die dieses Vorkommnis zum Erlebnis erheben. Auch dann, wenn sich eine Mehrheit darüber lustig macht und den „Ironieanteil“ des Erlebnisses als kollektiven Wert feiert: Spaßkultur vom Feinsten, lautet das Motto des digital erweiterten Kultes ums ferne und doch so nahe Fahrrad.

Es sei zwar sinnlos, diesem Ding und seinem Ereignis Aufmerksamkeit zu schenken, aber etwas Sinnlosem Aufmerksamkeit zu schenken, das mache doch auf etwas anderes und vieles andere und vielleicht sogar auf etwas hinter der Kulisse aller unserer Arten und Techniken von Aufmerksamkeit aufmerksam. Spätestens an dieser Stelle der („ästhetischen“) Rechtfertigung rücken unzählige Erklärungsgründe ein, die wie ein Spiegel die brüchigen Gründe einer säkularen Freiheitskultur vorführen: Sinnlosigkeit des Lebens und der Welt, Zufälligkeit alles dessen, was Aufmerksamkeit erhält, Absurdität des menschlichen Verhaltens als ausweglose Norm alles menschlichen Verhaltens.

In der Tat: das Faktum des beaufmerksamten Fahrrades verweist (durch reflektierte Aufmerksamkeit in ein Problem verwandelt)auf eine tiefe Frage, die mit der Realität von Bewußtsein und Geist unhintergehbar ins moderne Spiel gekommen ist. Wäre der Sturz des Fahrrades von niemandem beobachtet worden, (und dies dürfte das „Schicksal“ der allermeisten Fahrradumstürze sein, die tagtäglich geschehen) wäre es von niemandem erlebt und von niemandem berichtet worden. Ganz allein, von „aller Welt verlassen“, wäre das Ding umgefallen.

Und dieses Faktum des „von aller Welt Verlassenseins“ führt unmittelbar auf die Differenz von Welt und Weltaufmerksamkeit. Wir müssen zwischen Welt und Weltaufmerksamkeit unterscheiden, obwohl uns deren Untrennbarkeit fortwährend belästigt: Wenn es eine Welt von Bewußtein und Geist gibt, die mit Aufmerksamkeit auf alle Welt reagieren kann, zugleich aber eine andere Welt, sie sei zunächst Natur genannt, (den Unterschied von anorganischer und organischer ignorierend), die dies nicht kann und auch gar nicht können muß: Gibt es dann in der Natur und für diese Ereignisse, oder gibt es Ereignisse in und für die Natur doch nur in und für den Geist bewußter Wesen? Eine alte und ehrwürdige Frage, an der bekanntlich keine Philosophie vorbeikommt, auch jene und gerade jene nicht, die sich durch Naturalismus und Evolutionismus oder eine der vielen Sprachphilosophie-Ideologien des 20. Jahrhunderts davon dispensieren möchten.

Auf der Rückseite des Mondes – eine Wüste tiefster Ereignislosigkeit – geschehen dennoch in jeder Sekunde Ereignisse für den Planeten, aber nicht im Sinne eines Für-sich-Seins, sondern eines Für-es-Seins. Es ist dem Mond nicht einmal gleichgültig, was auf und was in ihm geschieht.

Die Explosion eines Sterns, in einer der vielen Arten der Gattung Supernova, scheint ein Ereignis ersten Ranges in und für die kosmische Natur zu sein. Und weil uns dieses Urteil durch Wissenschaften und deren mediale Vermittler über beinahe schon anderthalb Jahrhunderte zur Selbstverständlichkeit wurde, ist die Frage, „für wen dieses Ereignis eines war oder ist“, mit dem Tabu eines wissenschaftlichen Weltbildes belegt, das mit eben jener Selbstverständlichkeit voraussetzt, daß das, was für Menschen ein Ereignis ist, auch für die Natur ein Ereignis sein müsse.

Indem das für Bewußtsein und Geist unverzichtbare psychologische Faktum „Ereignis“ auf die kosmische Natur übertragen wird, soll auch die Natur Ereignisse haben, die für sie selbst Ereignisse wären. Weil in der Welt von Bewußtsein und Geist kein Ereignis ohne Ereigniserleben möglich, sollen auch in der Welt der kosmischen Natur Ereigniserleber auszumachen sein.

Die Partikel und Gesteinsbrocken der sieben Saturnringe – dreißig Billiarden – tauchen bei ihren Umläufen um den Planeten mehrmals aus tiefstem Schatten in helles Licht und umgekehrt: für den Beobachter Mensch ein beeindruckendes Erlebnis. Wunderhaft virtuose Technik verwandelt Fernbeobachter in Nahbeobachter. Den Partikeln und Gesteinsbrocken selbst entgeht „ihr“ Erlebnis, es ist für sie kein Ereignis, sie vollziehen nur ein stummes Teilgeschehen am Gesamtgeschehen des Saturnsystems innerhalb des Sonnensystems. Hätten sie ein „selbst“, wäre allerdings ein Ereignis, das für sie eines sein könnte, entdeckt, und in diesem Falle wäre das ontologische Vakuum nicht vorhanden. (Daß das Geschehen „stumm“ sein soll, hört sich für das wissenschaftliche Weltbewußtsein nur noch nach Fabel und Märchen an.)

Das ontologische Vakuum besagt, wie schon erwähnt, daß in der kosmischen Natur kein erfahrbares Für-Sich-Sein auffindbar ist: Zwischen einem Ereignis in der (zunächst anorganischen und kosmischen) Natur, das nicht für sie ein Ereignis sein kann, weil in ihr kein Bewußtsein vorhanden ist, und einem Ereignis in der Natur, das für Bewußtsein und Geist als reales Ereignis beobachtet und beschrieben wird, ist ein Unterschied, der auch dann gilt, wenn er im Zeitalter der wissenschaftliche Weltbilder und Weltanschauungen geleugnet und tabuisiert zu werden pflegt. Sonnen- und Mondfinsternis sind nur für Beobachter Ereignisse, nicht für Sonne und Mond.

Der unhintergehbare (Welten)Unterschied wäre ontologisch begründbar, wenn wir einen Begriff von Welt hätten, der durch sich, durch ihn als (schaffendes)Prinzip, in zwei Welten sich teilte. Dann wäre aus diesem Begriff begreifbar und begriffen, warum auf unserem Planeten zwei Welten in einer und als eine Welt existieren: die natürliche und die geistige Welt. Zugleich: wie welche der beiden Welten die jeweils andere umgreift und begründet. Für die analytische Ontologie scheint es sich um eher zufällige Kombattanten zu handeln: Natur und Geist haben sich nur getroffen, um bald wieder von einander zu scheiden.

Wie aber Organismen innerhalb der kosmischen und terrestrischen Natur ein Sonderfall von „Natur“ sind, ist auch deren Fähigkeit, Ereignisse von Nichtereignissen zu unterscheiden, von der Existenzweise aller nichtorganischen Natur unterschieden. Wie aber in concreto unterschieden, dies könnten wir Menschen nur erkennen, wenn wir in die Instinktsysteme der Tiere (und Pflanzen?) nicht nur theoretisch, sondern wirklich eindringen, erlebend eindringen könnten. Dann wüßten wir, wie es ist, als Maus oder Löwe, als Adler oder Schlange Erlebnisse zu haben. Ob als Ereignisse oder als Nichtereignisse, oder – am ehesten zu vermuten – als ein unbekanntes Drittes, über das wir nur Intuitionen und Hypothesen hegen können.

 

IV.

Die moderne analytische Ontologie fragt, ob es sich beim Begriff Ereignis um eine partikuläre oder allgemeine Entität handelt. Sie versteht unter „Entität“ etwas, das sich von materiellen Gegenständen, Sachverhalten und Eigenschaften unterscheidet. Doch kann sie durch ihre ontologischen Begriffe nicht angeben, wie sich materielle Entitäten von nichtmateriellen Entitäten unterscheiden (sollen können).

Um diesen Unterschied zu markieren, muß sie daher auf Begriffe entweder der materiellen oder nichtmateriellen Welt zurückgreifen. Ein Löwe ist eine natürliche Entität, 2+2=4 ist eine intelligible Entität, und was sie unterscheidet, diese Frage bekümmert die „analytische“ Ontologie nicht. Ob übrigens auch 2+2=5 als intelligible Entität passieren darf, soll hier nicht erörtert werden, obgleich feststehen sollte, daß sich Löwen innerhalb ihres Instinktsystems nicht irren können, Menschen hingegen, vorab lernende, innerhalb ihrer Zahlensysteme und deren Rechenoperationen sehr wohl.

Um die Schwierigkeiten der (unmöglichen) ontologischen Begründung von „Ereignis“ zu umgehen, pflegt die analytische Ontologie den Begriff Ereignis in einem „sehr weiten Sinn“ zu gebrauchen. Keine Klasse von Entität sei ausgeschlossen, das Herz des Wortes „Entität“ sei groß und weit. Der vermeintlich logische Begriff Entität (er scheint zwischen Sein und Dasein zu schweben) erlaubt, auf der vermeintlich ontologischen Ebene jedes Seiende und jedes Ereignis unter „Entität“ zu subsumieren. Doch damit ist der zentrale Welten-Unterschied der Entitäten vernichtet und vergessen, unterschlagen und unterschätzt. Dem analytischen Klassenbegriff von Entität liegt kein ontologisches Sein, keine ontologische Idee zugrunde.

Dieser analytische Begriff der Entität scheint daher nur so weit und so offen zu sein, wie die Begriffe der antiken Ontologie. Er hat weder ein Sein noch eine Idee im Sinne Platons zu seiner Grundlage; er ist das Produkt einer analytisch (sprachnominalistisch)denkenden Philosophie. Weil letztlich ohnehin alles nur als (sprachliches) Zeichen für Menschen existiere, darf und kann das Etikett „Entität“ allem Seienden, mag dieses in unterschiedlichsten Welten existieren, angeklebt werden.

Daher haben die Entitäten der analytische Ontologie weder eine innere noch eine äußere Grenze: Alles wird zum „Ereignis“ einer „Entität“: Die Mondlandung und „jede kleinste Zuckung der Materie auf der Ebene physikalischer Prozesse“, der Holocaust und die Interaktion der Atomteilchen innerhalb einer Kernfusion, die Aufforderungsrede Hitlers zum „totalen Krieg“, jeder Ausbruch eines Vulkans auf Jupiters Mond Jo. Aber daß für Menschen alles (und nichts) zum Ereignis werden kann, – um dies zu wissen, bedarf es keiner Ontologie, die den Namen nicht verdient.

Wenn Philosophen des Existentialismus und Phänomenalismus (Heidegger, Bergson und nachfolgende) Ereignisse als „Unterbrecher“ der historischen Zeit und als „Aufbrecher“ symbolischer Ordnungen definieren, halten sich Trivialität und Versponnenheit die Waage. Das Stammwort „brechen“ als Lieferant von Metaphern, die uns die Sache Ereignis begreifbar machen sollen, umspielt zwar die ontologische Logik von Kontinuum und Diskretum, ohne die kein Denken und Erkennen der Zeit möglich wäre. Aber Wortspiele spielen ist eines, Sachen und deren Begriffe begreifen ist ein anderes.

Zum einen geht oder fliegt die historische Zeit trotz ihrer permanenten Unterbrechungen immer weiter, sogar nach Revolutionen und Weltkriegen. Zum anderen sollte man im Gebiet der Geschichte nicht allzu fahrlässig mit dem Begriff „Ordnung“ hantieren. Ordnung herrscht in der Küche in den Kästen und Schränken des Küchengeschirrs, Kulturen sind mehr und anderes als „Ordnungen.“ Und „Unterbrechen“ gehört ins Reich der Stromkreise, „Ein- und Aufbrechen“ ins Gebiet von Kriminalistik und Strafrecht.

Die oberflächliche Wahl oberflächlicher Worte verrät viel über die Unbestimmtheit, vulgo „Offenheit“ der Grundbegriffe des philosophischen Denkens im 20. Jahrhundert. Auch Wort und Kategorie „Symbol“ (in der traditionellen Philosophie nur in Ästhetik und Religionsphilosophie präsent) ist unmittelbarer Ausdruck dieser Unbestimmtheit. Offensichtlich ist der Grund der neuen Grundbegriffe ein brüchiger.

Der Mensch ist kein Symbol von Freiheit. Seine Handlungen sollen keine symbolischen sein, es sei denn, gewisse Systemregionen erfordern dies ausdrücklich und machen sich als solche kenntlich. Eine päpstliche Fußwaschung an Häftlingen, eine Willenserklärung von Politikern, die ein Problem „lösen“ soll, indem sie ein „Wir schaffen das“ verkündet, gehört allerdings einer nur „symbolischen“, nämlich einer „rhetorischen Ordnung“ an. Wann, wie und wodurch aus hohen Handreichungen und großen Worten reale Handlungen werden, die den Niederungen und Realproblemen des Lebens beikommen, steht auf ganz anderen Blättern der jeweiligen Realitäten.

Nicht einmal der Begriff des „Neuen“ wäre geeignet, das „Unterbrechen“ und „Aufbrechen“ ontologisch zu begründen und zu stützen. Erst ein politisch fundierter Freiheitsbegriff könnte beispielsweise das Ereignis von 1789 in Frankreich, dem unzählige weitere Fortsetzungsereignisse folgten, als „Unterbrechung“, nicht der historischen Zeit, sondern als Abbruch einer abgelaufenen und als Anbruch einer neuen politischen Zeit definieren.

Der Satz, die Menschheit, wenigstens in ihren vorauseilenden Teilen, werde von Zeit zu Zeit neu, und zwar von „Grund auf“ neu, bemüht sich tapfer, dem Neuen einen ontologischen Rang zu verleihen, doch mit geringem Aussicht auf Erfolg, weil die Neuheiten in den Departements der Geschichte inkommensurabel verschieden sind. (Spengler versucht dieser Inkommensurabilität mit analogistischen Mischkulanzen aller Departementes und mit Machtdekreten eines deutschen Oberstudienrates, der zuviel Nietzsche eingenommen hat, beizukommen. Sein Buch war zur richtigen Zeit am richtigen Ort Europa.)

Was neu ist und wird im Kosmos, vulgo Natur, oder in der Kultur, vulgo Geschichte, darüber hat noch niemals eine ontologische Philosophie ein Wörtchen mitgeredet. Aristoteles hat sich nicht zufällig zur Geopolitik seiner Zeit, die nicht weniger als die Unterwerfung Griechenlands unter die Herrschaft Mazedoniens sah und erlebte, mit keinem Wort geäußert. Dennoch glaubten sich Marx und Engels als Gründer einer neuen ontologischen Philosophie der Tat, die erstmals und geschäftsmäßig die Beschaffung einer neuen Menschheit durchführen wird. Die Beschaffung organisierte ihre eigene Widerlegung.

 

V.

‚Ereignis‘ kann auch kein theoretischer Grundbegriff transzendentaler Subjektphilosophien sein, die versuchen, aus der Struktur des menschlichen Bewußtseins, dessen Möglichkeiten, in der Welt zu sein und Erfahrung von Erfahrungsgegenständen zu verwirklichen, zu erkunden. Geschweige ein Vernunftbegriff, der sich einer theoretisch spekulativen Vernunft ablauschen ließe, etwa einer Philosophie der Tat, in der ein absolutes Ich als Erzeuger aller Weltereignisse, die unter die Rubrik und Funktion von Nicht-Ich fielen, eine Vernunftreligion zu begründen versucht. Von der Funktion zur Fiktion führt ein nur kleiner Schritt allzukurzer Beine.

In diesem Fall wäre der Mensch das Ereignis aller Ereignisse, er wäre schon als Mensch das absolute Urereignis, er wäre Vater und Mutter aller Ereignisse, weil er alle anstoßen und erzeugen würde. Zwar mag jeder Mensch seines Schicksals Schmied sein; was allerdings seine Taten und Untaten einschließt. Aber zwischen erzeugen und schmieden regiert ein Vernunftunterschied. Die Schickalse von Staaten, Völkern und Menschheit schmiedet kein Mensch als Mensch. Und der sich selbst erzeugende Mensch existiert nur als existentialistische Metapher des sich selbst schmiedenden Menschen.

Insofern jedoch moralische (und amoralische) Handlungen für jeden Menschen nicht als Nichtereignisse gelebt werden können, sind sie für jeden Menschen Ereignisse ersten Ranges: sie sind ihm näher als die Ereignisse der ganzen Welt um ihn herum.

Zwar erheben Religionen monotheistischer Herkunft Einspruch: Gott ist Dir näher als Du Dir selbst; und dies mag wahr sein oder nicht, für den Glaubenden sogar unbezweifelbar wahr und wirklich. Aber Glaubenswahrheiten können nicht (mehr) moralisch beurteilt werden, sie schweben jenseits aller moralischen und poltischen Vernunft. Daher können sie auch nicht als reale Ereignisse demonstriert und sozial kommuniziert werden.

Diese Absenz einer verbindlichen Verifikation der höchsten und tiefsten Glaubenswahrheiten ist auch der entscheidende Grund dafür, daß religiöse Gemeinschaften ihre Gemeinschaft als „öffentliche“ feiern, weil alle Teilnehmenden durch öffentlichen Beweis eine Bekenntnis-Verifikation vorführen, die gegen jede Falsifikation von außen (die Ungläubigkeit der Ungläubigen oder Andersgläubigen) immunisiert.

Ein Faktum, daß schon innerhalb der Religionen, bei deren Begegnung oder Kollision, das Tolerieren der jeweils anderen religiösen Gemeinschaft zur höchsten Moralität erhebt, und damit der Illusion verfällt, eben dadurch eine neue (Toleranz-)Weltreligion im Namen eines „Weltethos“ als höchstem Gut begründet zu haben. Eine „Begründung“, die freilich durch die Begegnung und Kollision mit nicht religiösen Kulturen und Zivilisationen ihres Illusionscharakters einsichtig wird oder werden sollte.

Eine Nächstenliebe ohne Obergrenze ist jedenfalls keine christliche Nächstenliebe mehr, sie kann oder könnte ganz ohne Kirche und Kirchengemeinschaft gelebt werden, wenn sie lebbar und politisch organisierbar wäre. Wäre ihr politisches Pendant, ein als möglich unterstellter Weltstaat schon vorhanden, könnte dieser als ausführendes Organ eines künftigen Gottesstaates dienen, oder dieser könnte als Begleiter einer freien und mündigen Menschheit dienen, die über die Grenzen ihrer Freiheit zureichende Vernunftbescheide erhalten hätte.
Für die Gegenwart aber gilt: Embryos (der Weltgeschichte) sollten gar nicht erst herauszufinden versuchen, wie sie als Erwachsene mit einander umgehen werden. Und die Ontologie hat auch als Ontotheologie keine Macht über einen deus absconditus, den noch keine Offenbarungsreligion vom unsichtbaren Thron stürzen konnte.

Wirklich moralische (und amoralische) Handlungen müssen zurechenbar sein, – ein Mensch, der sich nicht zurechnet, was ihn moralisch ausmacht, würde wie sein flacher und dunkler Schatten neben sich her gehen. Er lebte ohne eigenes Leben, ohne Individualität, ohne Charakter, am Ende als „Mensch ohne Eigenschaften.“

Der Ereignischarakter menschlicher Handlungen, die nur als moralische, amoralische oder neutralische Handlungen möglich sind, fällt oft unter die Aufmerksamkeitsschwelle lebender Menschen, weil sie – Menschen wie Handlungen – stets nur als (flüchtige) Momente gelebter Kulturwelten möglich sind. Auch das Single, das sich von allen Gemeinschaften fern halten möchte, lebt in Gesellschaften und unterliegt dem moralischen Wechselwirkungssystem menschlichen Handlungen: ihrer Absichten, Entscheidungen, Ausführungen und Beurteilung möglicher Folgen.

Dennoch muß es unter den moralischen Entscheidungen und Handlungen subjektivere und weniger subjektive geben, weil sonst der Unterschied von moralischer und politisch moralischer („ethischer“ oder vormodern: „sittlicher“) Vernunft nicht Gegenstand der praktischen Vernunft und ihrer Sittlichkeitssysteme sein könnte. Es sind Systeme einer freien Autonomie des menschlichen Willens und seiner Vernunft, die den Rechtssystemen der modernen Demokratie – nicht den vormodernen Moralen vormoderner Hierarchiereligionen – zugrundeliegen. Überspitzt: ohne Single kein zoon politikon, ohne zoon politikon kein Single.

Nur durch den Rückbezug auf die moralische Vernunft eines autonom vorausgesetzten Menschen, kann die westlich-säkulare Welt vermeiden, die Freiheit des Subjekts, das freie Agieren des autonomen Menschen, an Systemphilosophien und deren Ideologien auszuliefern, in deren Systemen (politischen, religiösen, ästhetischen) diese selbst (wiederum ein gefährlich selbstloses Selbst) als Großfabrikanten von Ereignissen auftreten, in denen Menschen nur noch als Rädchen im Kreisen und Kreischen großer Maschinen fungieren.

Schon dem Marxismus war der Gedanke fremd, daß die Freiheit des Menschen als Selbstzweck allen politischen Zwecken vorgeordnet sein muß, weil sonst freie Demokratien und deren Rechtsbegründungen unmöglich sind. Allerdings waren die Ideologen der klassenlosen Gesellschaft bedingungslose Gläubiger und Schuldner ihres Systems: schon bald würden Freiheit und Demokratie als bürgerliche Restideologien überflüssig sein.

Die Befreiung der Menschheit als erstmals klassenlose Klasse sei das zentrale Ereignis der Weltgeschichte, – eine Neugeburt der Menschheit, die Geburt der erstmals wirklichen und unfehlbar wahren Menschheit. Ein Kurzschluß zwischen moralischer und politisch moralischer Vernunft, der sich einer ökonomischen Ideologie, die sich selbst als politisches Erlösungsprogramm beglaubigte, verdankte. Noch heute verzweifeln die letzten Mohikaner des realen Sozialismus am Ereignis des Untergangs des ruinierten Weltkommunismus, indem sie von einer Wiedererweckung der reinen Lehre und neuen Umständen träumen.

 

VI.

Harmlosere Erfolge feierte der Begriff des Ereignisses auf den Bühnen der modernen Sprach- und Kulturtheorien, die zuletzt den ästhetischen Kern des Interesses an der allseits verwendbaren Kategorie offenbarten. Indem der Unterschied von Kunst und Leben verschwand, wurde jeder Lebensaugenblick als Kunstereignis zugänglich. Die totale Inflation der kollabierenden Währung Kunst führt zu einer neuen Währung, die den größten aller bisherigen Kunstmärkte bedient. Ein normaler Alltag eines beliebigen Künstlermenschen, von Minute zu Minute gefilmt und als Video weltweit verbreitet, – und schon wurde möglich, was man soeben noch für unmöglich gehalten hatte.

Doch erst im System der digitalen Sozial-Medien, die eine Sozialität in die Welt gesetzt haben, die von ihrem Gegenteil Asozialität ununterscheidbar wurde, wird die neue Währung eine wirklich neue, ein neues Leben. Jeder ist nun Teil des Lebensfilmes aller Teilnehmer. Digitale Großfamilien lagern um das Lagerfeuer ihres gemeinsamen Lebensfilms, aber dies kann nicht verhindern, daß sie oft als aggressive Haßfamilie agieren, weil der unversöhnliche Haß anderer und ganz anderer Großfamilien den Gang durch die enge Gasse erzwingt.

Mit dem digitalen Imperativ: das Leben als austauschbarer Film für potentiell alle, wurde weder eine neue Religion noch eine neue Politik in die Welt gesetzt. Aber alle Differenzen der alten Religionen und Politiken sowie Sozialitäten potenzieren sich im neuen Medium ins Unendliche, Unbeherrschbare, global Explodierbare. Wie die Wellen mancher Erdbeben um die ganze Erde laufen, so die Erregungen durch neue „moralische“ Meinungen, die plötzlich jedermann und jedefrau zwingen, Farbe zu bekennen. Dir gefällt noch nicht, was mir schon längst gefällt? Eine neue Kultur wurde in die Welt gesetzt, aber sofern sie als (life-style) Religion gelebt wird, hat sie die Liste der unlösbaren Menschheitsprobleme vervielfältigt.

Daß die Kategorie Ereignis, die sich als Inbegriff von Kontingenz anzubieten scheint, erst durch die Lebensphilosophien des 19. Jahrhunderts, die vermutlich in Nietzsches Willen zur Macht und Bergsons „elan vital“ ihren Zenit erreichten, nicht aber in den vormodernen Philosophien eine zentrale Rolle spielten, ist philosophiegeschichtlich erklärbar. Mit jedem Augenblick, mit jedem neuen Lebensprojekt ein neues Leben beginnen können und sollen: ein ereignishafterer Imperativ wurde noch nicht gefunden.

Philosophien hingegen, die auf intelligiblen Prinzipien basieren, haben im Erkennen und Denken ihrer Gründe und Abgründe Ereignis genug, sie genügen sich selbst als höchstes und tiefstes Ereignis. Was sollte im Lehrgebäude des Aristoteles die vollkommenste Glückseligkeit des bios theoretikos übersteigen können?

Und die traditionellen Religionen, nicht nur die drei monotheistischen, haben ihre Großereignisse, die sich an den Fingern einer Hand abzählen lassen. Im Christentum beispielsweise die Erschaffung der Welt durch eine siebentägige Schaffenswoche Gottes einerseits, einer wenigjährigen Heilsgeschichte durch Christus andererseits, die in einer vorzeitlichen Ewigkeit vor Anker gelegt wurde.

Was in der Perspektive der vormodernen Philosophien ein nur epiphänomenales Ansehen genießt, die Ereignisse der Welt und des menschlichen Lebens, das reißt in den modernen Philosophien dem Faß des Lebens einen unerschöpflichen Boden aus. Scheinbar wird nun Philosophie wirkliches Leben; sie verliert sich selbst, ohne sich neu zu gewinnen.

Und das wirkliche Leben hat wenig gewonnen, wenn Philosophieren, noch dazu in Worten und Sätzen, sein neues Um und Auf geworden ist. Im Vergleich gesprochen: in der traditionellen Philosophie der Natur war Nebel kaum mehr als natürlicher Dampf. Jetzt wird derselbe Nebel zum Offenbarungsereignis einer Natur, die ihre Geheimnisse seinen wechselhaften Erscheinungen anvertraut hat. Das verschleierte Bild zu Sais allzu wörtlich genommen.

Wenn wir daher lesen, daß die analytischen und postanalytischen Philosophien bei der ontologischen Klärung der Kategorie ‚Ereignis“ bislang keine einheitliche Lehrmeinung durchsetzen konnten, möchte man zu diesem Ergebnis gratulieren. Lieber das Palaver „anhaltender Diskussionen“ als deren Gegenteil: Dekrete und Sprüche, deren medialer Verzehr nur die einschlägige Kulturjournalistenmeute erfreut.

Andererseits möchte man die neuen Ontologien geradezu beneiden: sie besitzen, was den alten Ontologien noch fehlte: ein „Prinzip ontologischer Sparsamkeit.“ Ausgerüstet mit dieser Wunderwaffe wird ontologisch (!) gegen die „Existenz von Ereignis“ (in Welt und Mensch) argumentiert. Eine moderne Variante der antiken sophistischen Trickkiste: es ist nichts, und selbst wenn etwas wäre, könnte niemand darüber ereignisreich plaudern und aussagen.

Bleibt nur noch die Kärnerarbeit im Bergwerk der ontologischen Kategorien, mögen diese in analytischen oder postanalytischen Goldadern gefunden worden sein. Und „Kärnern“ heißt Arbeiten durch Unterscheiden, Unterscheiden durch Zuteilen von Identitäten: Wenn Ereignis eine „Entität“ ist, muß sie sich von anderen unterscheiden lassen. Die Frage, warum das Sein die Güte hat, sich zur „Entity“ differenter Seiender zu teilen, wird in der modernen Ontologie entweder nicht gestellt oder als andernorts beantwortet vorausgesetzt.

Wenn überdies nach Quine gelten soll: „No Entity without Identity“, scheint Identität eine Kategorie zu sein, der sich auch moderne Ontologien vertrauensvoll zuwenden können. Aber der Satz, alles ist mit sich identisch, fundiert nur Tautologien als Philosophien, kommt über geglaubten Nominalismus nicht hinaus. Diesem wußte sich schon die eingangs zitierte Definition verpflichtet: Ereignis ist etwas, das geschieht.

Von ganz anderem Kaliber ist hingegen Leibniz‘ bekannter Satz, es gäbe keine zwei Dinge derselben Gattung und Art, die vollkommen identisch sind. Dieser behauptet somit „no identity without individuality“, und dies nicht als Resultat von Erfahrungen, denn welcher Mensch könnte jemals empirisch überprüfen, ob sich unter den Abermilliarden Atomen des Elementes X nicht doch zwei absolut identische finden lassen?

Das Wagnis der Leibnizschen Ontologie liegt in der Formulierung eines Begriffes von Materie, der sich mit den sprachlichen Finessen der analytischen Ontologie nicht erreichen läßt. Diese setzt daher voraus und erklärt auch offen, daß sie unzuständig ist für die Wahrheit, die der Leibnizsche Satz implizit ausspricht: Immer schon gibt es in der Welt Individuationsbedingungen, die erfüllt sind. Und ohne diese ist Welt als Welt gar nicht möglich.

Daß aber Individualität ohne Nichtidentität nicht möglich ist, sollte ontologisch einleuchten. Ohne Nichtidentität wären alle Individuen ihrer Arten und Gattungen austauschbare (identische) Einzelexemplare. Das aber sind sie nicht, teilt uns Leibniz Satz mit, und daß er für dessen Geltung eine apriorische Anleihe nehmen muß, hat ihn (noch) nicht bekümmert.

Und daß Mengen keine Individuen sind, sollte ebenfalls einleuchten. Mengen als Mengen von Zahlen sind daher individualitätslos identisch. Und auch diese Universalität des mathematischen Logos ist für die Existenz von Welt als Welt eine bedingungslose Bedingung. 2+2=4 konstituierte schon die Begegnung von Dinosauriern, von Protoplaneten und Protosonnen. Und auch Tomaten und Fußballtore zählen sich von selbst, – der Logik identischer Zahlenmengen gemäß. Denn jeder Zählende setzt die Selbstgezähltheit gegebener Mengen schon voraus.

Die Unzuständigkeit der analytischen Ontologien wird auch nicht dadurch behoben, daß man die Nichtidentität und Individualität der materiellen Gegenstände den Akteuren Raum und Zeit zuschiebt. Weil Dinge zur gleichen Zeit niemals identische Postionen im Raum einnehmen könnten, wären sie als individuelle möglich und notwendig. Daß die moderne Ontologie mit dieser Hypothese zugleich der modernen Physik und Astrophysik widerspricht, scheint ihr noch nicht aufgefallen zu sein.

Wenn die Einsteinsche Raumzeit nach neuesten Resultaten („Bestätigungen“) ohnehin nur als materielles Epiphänomen existiert, ist deren Nichtidentität scheinbar gesichert: Was sich unaufhörlich verändert („staucht und schrumpft“ oder verschnellert und verdünnt), je nach Wirkung materieller Gravitation, das kann nicht mehr konstante Basis für inkonstante Veränderungen und deren Individuationen sein.

Die Konsequenz des physikalistischen Weltbildes wäre freilich: schon diese Welt als ganze, das totale Universum, ist Individuum: Ein wissenschaftliches Phantasma, das notwendig zum neuerdings überaus beliebten Superphantasma führt: Pluriversen existieren, denn eine Welt, diese unsere, kann nur gegen andere Welten individuell sein. Jetzt wäre nur noch die Anzahl der Universen zu klären: Kein Problem für Mathematiker des Universums, die mit selbsterzeugten Gleichungen virtuos zu rechnen wissen.

Fazit: Es muß an der ontologischen Logik der Dinge selbst liegen, daß sie einander nur als ungleiche gleichen, als gleiche zugleich ungleich sind. Und auch dieser Grundsatz bedarf einer apriorischen Anleihe, weil Beobachtung der Dinge und Erfahrung der Beobachter unvermögend sind, ontologische Sätze zu begründen. Ontologische Sätze sind nur durch ontologische Logik zu begründen.

Nur in ihnen finden sich ontologische Relationen von Form und Materie, die verbindlich formulierbar sind, auch wenn zugleich gilt, daß der Hiatus von formaler ontologischer Logik und konkreter materialer Realität (in Natur und Geist) weder ontologisch noch metaontologisch überspringbar und ausfüllbar, weder ignorierbar noch denunzierbar ist. Beispielsweise als Schein und Betrug, weil eine höhere Gnostik im Besitz einer höheren Weisheit wäre.

Leo Dorner, Oktober 2018