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8 Alexanders Größenwahn

A.

 

Alexander wollte das Ende der Welt sehen; er wollte die Grenze seiner und der damaligen Weltvorstellung sehen. Aber wer eine Grenze sehen möchte, der möchte über sie hinwegsehen; er möchte darüber hinaus, er möchte überschreiten.

Anders nicht können wir Grenzen als Grenzen ersehen und erkennen; noch ein Grenzbegriff ahnt etwas vom Feld hinter ihm, das ihn als Grenzbegriff auf die Grenze des geteilten Feldes setzt und definiert.

Was erblickte nun Alexander am vermuteten Ende der Welt? Ein Meer, groß und endlos wie nur das Meer sein kann. Nun gut, wird er gedacht haben, Gott, der ich bin, erkläre ich diesen Ozean für das Ende der Welt.

Niemand konnte damals an dieser Welt-Erklärung Anstoß nehmen, denn niemand verfügte über eine andere Weltvorstellungsgrenze als Alexander. Und jene, die im anderen „Indien“, im realen Jenseits aller damaligen Welt existierten, wußten ein reines Nichts von der Existenz Alexanders und seiner Welt.

Heute lächeln wir über das kindliche Unterfangen, ein Ende der Welt dort anzunehmen und anzusetzen, wo gar keines zu finden war. Aber die Frage bleibt, ob nicht alle unsere Welt-Vorstellungen immer noch andere Grenzen offenbaren werden als jene, die wir ihnen bis jetzt verpaßt haben. Alle unsere Siebensachen sind begrenzt und daher sieben; alles hat seine Grenzen, das müssen wir doch zugeben, um nicht im Nebel eines grenzenlosen Verfließens aller Dinge und Sachen unterzugehen.

Wir müssen wissen oder doch ahnen, welche Sachen auf uns wirken und welche nicht; welche so, welche anders; und hier ist das Ende von diesem, dort der Anfang von jenem; ohne dieses Setzen von Grenzpfählen verfiele unsere Weltorientierung einer wahnhaften Welt, in der Täuschung nicht mehr von Nichttäuschung zu unterscheiden wäre.

Da erstaunt es, daß einzig der Begriff die Grenze, die einzig reale sein soll, an die wir uns halten können –  nicht das Maß, nicht die Messung, nicht die Beobachtung, nicht die Tatsache, nicht die Forschung. Alle empirischen Grenzen sind durch empirische Manipulationen entgrenzbar, die fata morgana ist so real wie der Akt, der sie hervorbringt. Aber ihr Begriff ist ein nur scheinender, keiner, dem ein wirkliches Wesen seinen vorausgedachten Grund geliehen hätte.

Müssen alle Dinge in unserem Bewußtsein diesen Passierschein aufweisen: entweder sinnlich erfahrbaren oder gedanklich erschließbaren Bestimmungen sich zu verdanken, ein Entweder-Oder, das glücklicher- und überwiegenderweise als ein Sowohl-Alsauch zu erscheinen pflegt – ein angeschauter Kreis ist sein wirklich erscheinender Begriff – dann ist alles Meßbare an den Dingen zwar nicht Schimäre, aber immer und stets noch meßbarer meßbar. Unsere Meßmethoden sind zu unendlich, um an die wahre Endlichkeit der Dinge heranzukommen.

 

B.

 

Der Tod ist eine sinnlich nicht erfahrbare Grenze, er ist allein gedanklich erschließbar, denn nur das Sterben, nicht der Tod ist für den Menschen ein Erfahrungsgegenstand. Streng genommen – metaphernlos – kann daher niemand sagen: hier ist das Ende meines Lebens, weil er nicht weiß, ob es sich mit dem Tod nicht verhalten könnte wie mit jenem Ozean, den Alexander zum Ende der Welt ernannte.

Auch der Tod ist sein Begriff und nur in diesem ist er Tod. Dies ist nicht so schwer zu verstehen, wie es scheint; denn der Begriff des Todes hat kein Scheinen, er ist das reine Sein des Begriffes, und dies ist seit jeher die reine und absolute Grenze von allem gewesen, was gewesen ist und dereinst noch sein wird. Der Tod ist immer schon erschienen, ehe er zum Erscheinen kommt. Erst in ihm sind wir ganz bei uns.

Die Prosa eines Tisches kennt die Tücken ihrer empirischen Grenze; wollten wir sie – an dieser Kante – „empirisch exakt“ feststellen, kämen unsere unendlichen Meßmethoden mit dem nichtbegrenzbaren Spiel der Elektronenschalen in Konflikt, weil diese das Vergnügen haben, in Gegenden unörtlicher Örter sich herumzutreiben, entgeistert über die Unverfrorenheit unseres eindeutig begrenzenden Wortes Tischkante. Mit diesem haut der Begriff seine Faust auf den Tisch. Man sollte ihn hören und nicht zuviel Respekt vor den quantenmechanischen Heinzelmännchen haben, die angeblich immer schon jede Grenze unbestimmt und unbestimmbar gemacht haben, weil sich unser Denken vom mysteriösen Inneren der Materie nichts träumen lasse.

Der Begriff ihrer Grenze stößt den Dingen nicht von außen zu; noch die mechanisch geworfensten müssen ihr Geworfenwerden zulassen können. Jedes atomare und subatomare Wirkungsquantum ist hierorts immer schon von anderen – nichtatomaren – Wirkungsquanten und -qualen durchformt, umgrenzt und abgetötet, um als erlebbare Wirklichkeit erscheinen und existieren zu können.

Nur für das empirische Denken erscheint der Begriff als ein merkwürdig undefinites Ding, weil es als empirisches noch nicht den Leben bringenden Tod der Begriffsgrenzen geschmeckt hat. Der Begriff aber findet es degoutant, mittels exakter Methoden den Enden seiner unendlichen Verknüpfungen auf die Schliche kommen zu wollen und mittels quantenmechanischer Glaubensartikel für inexistent erklärt zu werden.

Anfänglich gesprochen: jedes Etwas hat seine Grenze, und nur darin und dadurch ist es, was es ist; die spinozistische determinatio ereignet sich vor jedem Unbestimmtheits-Spiel von Orts- und Zeitgrenzen, an deren Linien oder Feldern meßbare oder nichtmeßbare Partikel und Wellen durch die Welt der materiellen Dinge streunen.

Alle Dinge müssen als Etwas Qualität sein; dieses Urwort des Begriffes muß, um empirisch existieren zu können, mit einem gewissen Quantum an Materie notwendig verknüpft sein; widrigenfalls wäre es nicht ein Etwas einer vorhandenen Welt. So viel zu den Dingen der Welt, ein Wort, das heute nur mehr bedeutet: Dinge; Dinge, nichts als Dinge –  die angreifbaren und meßbaren, das ganze säkulare Empyreum des empirischen Weltverstandes.

Und daran ist richtig, daß wir die Dinge des Geistes, seine Art und Weise, Vorstellungen, Empfindungen, Bilder, Klänge, Gefühle, Erinnerungen, Worte und sogar Gedanken haben zu können, als geistige Qualitäten denken müssen, ohne doch zu vergessen, daß auch diesen die Quantität, freilich die ihre, notwendigerweise zukommt. Denn alle Akte und Inhalte unseres Bewußtseins haben eine bestimmte Intensität, eine nach innen geschlagene Quantität, die sich im Soma des Geistes stets zugleich als extensive zeigt.

Dies aber mit Maßen, die Grenzen verdankt sind, die dem Begriff gehören und gehorchen: wer ein Leben lang musiziert, hat am Ende desselben nicht ein doppelt so großes Gehirn, das er jedoch haben müßte, wenn er unserer Gehirnforschung gemäß musiziert hätte.

In der Welt des Geistes ist ein ständiges Ineinandergehen des Somatischen und des Psychischen, des Seelischen und des Geistigen; ein Widerspiel des Inneren und Äußeren an jeder Wirkung und Nichtwirkung; folglich ein Setzen und Aufheben von Grenzen, das wesentlich exakter und gemessener ist als jenes in der Welt der physischen Dinge; und dennoch wird es niemals exakte Methoden geben, die das ständige Ineinandergehen in der Welt des Geistes und ihrer Natur werden messen können.

Die Bestimmungen des Geistes sind ohne Begriff unerkennbar; ohne Vernunft erscheinen sie als Epiphänomene von Materie, als Äußerungen der Natur, als Marionetten von Gehirn und Evolution. Alexander, sein Gehirn immerhin das eines Gottes, dachte vollkommen gehirntranszendent, als er sein Ende der Welt erblickte.

Am und im Gehirn erblickt jeder Alexander heutiger Gehirnforschung das Ende von Geist. Er erblickt diesen Ozean von Materie, dieses uferlose Meer an Neuronen und Vernetzungen, und er weiß noch nicht, daß er jenseits dieses Ozeans unlängst wohnhaft wurde. Er lauscht auf Gehirndiktate, die nicht diktiert werden können, ähnlich wie Alexander ein Ende diktierte, das ihm nur als scheinendes erscheinen konnte.