73 Museum goes Party
„Immersive Ausstellungen“ sind der letzte Schrei der Stunde und zugleich die Todesstunde des Museums, das wir bisher kannten und mitunter auch besucht haben. Der gute alte Betrachter der „guten alten Bilder“ wird nicht mehr alleingelassen mit sich und dem Abenteuer seines Bildbetrachtens, er wird jetzt multimedial begleitet und wie ein verlorenes Kind an die mediale Hand genommen. Irgendwann scheint er seiner ehemaligen Betrachtungsaufgabe müde geworden zu sein.
Vielleicht hat ihn ein Blick in Wikipedias Künstliche Erklärungsintelligenz erkennen lassen: nichts langweiliger als die alte lange Weile in den hoffnungslos veralteten Museen mit ihren wandgroßen Schinken und tellergroßen Schinkelchen. Mit ihrer wärterbewachten Stille, mit ihren erbarmungslosen Legionen wartender Bilder, die in endlos vielen Räumen den Hauch von Jahrhunderten ausatmen.
Wie konnte er sich nur auf diesem Folterbett langstrecken lassen: Ein mit sich alleingelassener Bildbetrachter, der mit seinem Betrachten „mutterseelenallein“ zurechtkommen soll. Was Goethe noch als tägliches Exerzitium seiner Kunstreligion vollzog, wird längst schon als unerträgliches Übel beklagt. Warum soll ich mich vom Tafelbild vis à vis hypnotisieren und verhören lassen?
Der moderne Betrachter hatte es schon längst geahnt: die alten Langweiler – ruhig an einer Wand hängende Bilder – würde er sich nicht mehr lange gefallen lassen. Jetzt ist der Groschen gefallen, jetzt ist der Rubikon überschritten. Mag noch ein Bild an der Wand hängen: entscheidend sind die Bilder und Filme, die „rund um das Bild“ über das alte „Tafelbild“ gezeigt werden. Nicht mehr gilt: das Bild wird erst im Auge des Betrachters zum Bild, und je besser der Betrachter, umso besser das Bild – erkannt und beurteilt.
Jetzt gilt: je mehr und je „bessere Erklärungsbilder“ und „Textsorten“ (die austauschbaren Geschwurbel-Kommentare einschlägig vorverbildeter Kuratoren), umso besser die neue „immersive“ Bildbetrachtung. Eine „Zeitenwende“ nun auch in der Bildenden Kunst, die sich offenbar einer Kulturrevolution verdankt, deren wahrer Name lautet: Digitale Kunst, dies sei Euer neues tägliches (Kunst)Brot.
Folglich handelt es sich nicht um die „Todesstunde“ des Museums, sondern, ganz im Gegenteil, um dessen völlige Neugeburt. Im Konkurrenzkampf der Museen um den erfolgreichsten Massenbesuch, bisher durch „Jahrhundertausstellungen“ über einen Alten oder auch einen modernen Meister (da Vinci versus Picasso) ermöglicht, werden nun andere Saiten aufgezogen: digitale, immersive, virtuelle und interaktive.
Der Marketing-Apparat der Museen sucht bereits nach dem geeigneten „Framing“ mittels durchschlagend überzeugender Phrasen. Man spricht von einer „niederschwelligen Einladung zur Kunst“, niemand müsse mehr vortäuschen, ein Kunstexperte zu sein. Es genügt: „einfach reinkommen und sich fallen lassen und die Inhalte aufsaugen“, verkünden die Veranstalter des Van Gogh-Events auf dem Grazer Messegelände.
Oder auch: „Pixel statt Pinsel“ sei jetzt die Devise, – statt der satt gesehenen Originale, ermöglichen die „digitalen Kopien“ einen „immersiven Kunstraum“, in dem man von Kunst und Musik umhüllt wird. Bilder verschmelzen mit Bildern, mit Klängen und „Sounds“, die Musik a là carte servieren. Ein verjazzter da Vinci sieht dich doch gleich ganz anders an, und auch einem vervivaldisierten Picasso wird man dessen bisher verkannte Barockader noch glauben lernen
Besonders stolz ist der immersive Geist der neuen Digitalexperten auf die „vielartigen Vergrößerungen“ der Bilder, die man immer noch „Ikonen“ einer Kunstgeschichte nennt, die jetzt hinter dem Horizont verschwindet. Noch niemals konnte man in die ehrwürdig alt gewordenen und sattsam abgesehen Ikonen der „abendländischen Kunstgeschichte“ so genau hinein- und ausgiebig in ihnen herumgehen. Nun wird es möglich, die Bilder aller großen und kleinen Künstler einer unübersehbar langen Vergangenheit auf ganz neue Weise zu erleben.
Niemand entziehe sich den digitalen Kulissen, die nun die Bühne der Tafelbilder stürmen. Mit den neuen Augen sieht sich alles besser, weil anders und ganz anders. Und was fordert der akustische Genosse des modernen Augen-Killers? „Kill the silence“, um möglich zu machen was bisher unmöglich schien: „Museum goes Party“.
Damit werden auch Menschen, die eigentlich nicht kunstaffin sind, für Kunst interessierbar gemacht. Und um das „Framing“ perfekt zu machen, wird ein angeblich traditioneller Museumsbesucher vor das Mikrofon geführt und erfolgreich befragt: er sei „ein großer Fan von Originalen“ und dennoch vom neuen Produkt-Event begeistert. Das Neue, ergänzt der Veranstaltungs-Manager, sei keine Konkurrenz zum herkömmlichen Museumsbetrieb, sondern eine Ergänzung: Ein „Türöffner“…
Mit der „immersiven Welt rund um Vincent von Gogh“ wurde nun in Graz ein Anfang gemacht.
Schon hören wir die Anklage des ewigen Goethe in uns: das Barbarentum seiner Zeit sei arg gewesen, das Barbarentum Eurer Zeit ist unaussagbar. Es führt zu einer Hölle von Kunst.
Leo Dorner, September 2023