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37 Globale Chancengleichheit und nationale Notbremsen

I.
Eine erneuerte Linke könnte in Deutschland zu einem neuen
weltkommunistischen Höhenflug ansetzen, wenn die Gewerkschaften und
ähnliche sozial-ökonomische Organisationen des Landes, willige Parteien nicht
ausgeschlossen, nicht mehr zögerten, Türkisch, Kurdisch und Arabisch zu
lernen. Ein Appell als Teil eines Manifestes der neuen Linken, die ein neues
Weltproletariat erspäht und zu unbegrenztem Asyl bewillkommnet hat. (Dietmar
Dath: „Der rechte Lohn. Die Anständigen und die Abhängigen: Wie links und
internationalistisch ist die soziale Frage noch?“ FAZ v. 3.11. 2017)

Warum aber nur diese Sprachen, bleibt des neuen Propheten Geheimnis;
vermutlich fehlt ihm noch die Übersicht über die Vielfalt der Sprachen, Nationen
und Ethnien, die das Land von Karl Marx und Friedrich Engels heimgesucht und
kulturell bereichert haben.

Aber das Kulturelle, so viel erinnern wir uns noch, ist doch nur der ideologische
Überbau, nicht der wahre und wirkliche Unterbau. Wer die neuen Proletarier
aus aller Herren Welt Länder daher zur wahren und richtigen ökonomischen
Produktion und Selbstreproduktion des künftigen Deutschland und aller Welt
führen möchte, sollte ihnen rechtzeitig reinen Wein einschenken. Ähnlich wie
Karl Marx dem Präsidenten der USA, Abraham Lincoln riet, bei der Befreiung
seines Landes von der Sklaverei nicht die wichtigere vom Kapitalismus zu
vergessen (Brief vom 30.Dezember 1864, erschienen in „Der Social-Demokrat“.)

Wieder einmal ergeht der Ruf des Manifestes nicht nur an Deutschland, sondern
an die ganze Welt. Die Befreiung von der Lohnabhängigkeit wird die tiefste und
höchste Bereicherung schaffen, die umfassendste und universale: Gerechtigkeit
und Frieden kehren endlich ins neue Haus der Vereinigten Menschheit ein.

Doch zur selben Stunde, da dieser – wieder einmal höchst gut gemeinte – Ruf an
die Kandare der Revolution ertönt, wird aus aller Welt gemeldet, der Versuch,
aus einigen oder gar allen Staaten der bisherigen Welt einen neuen und
einzigen Staat zu machen, stoße schmerzhaft an borniert widerwillige Grenzen
der immer noch vorhandenen Nationalstaaten.

Weil aber auch Nationalstaaten, in der richtigen Perspektive der reinen Lehre
erblickt, nur der kulturelle Überbau ihrer nationalen Ökonomie sind, muß man
wohl annehmen, daß der totale Vereinigungsversuch der transnational
gewordenen Menschheit nicht nur an die territorialen, sondern tiefer und
schmerzhafter noch an die Grenzen der unzähligen Volkswirtschaften der
heutigen nationalen Staatenwelt stößt. (Nutzen wir die Gunst der späten
Stunde: noch ist der Name „Volk“ im Namen „Volkswirtschaft“ unerkannt und
unverdächtig. Noch arbeitet das Tribunal der Inquisition der rein zu
waschenden Worte lückenhaft.)

Es ist eine entscheidende Stunde der Weltgeschichte: Der moralische
Kosmopolitismus der neuen Linken steht entweder vor einer Neugeburt seiner
marxistischen Ideologie oder diese samt jener werden nach ihrer neuerlichen
globalen Fehlgeburt demnächst zu Grabe getragen.

Wenn Volkswirtschaften Staaten tragen, vertraglich verbundene
Volkswirtschaften einen gemeinsamen Wirtschaftsraum, dann könnte vielleicht
ein gemeinsamer Wirtschaftsraum, wenn er nur auf die richtigen
kommunistischen Füße gestellt wird, das verheißene Heil der Zukunft
verwirklichen? – Halbrichtig wäre die heutige EU demnach schon unterwegs,
ganzrichtig und vollendet wird sie nach der letzten Kursberichtigung fähig sein,
auch noch die letzten Reste des globalisierten falschen Bewußtseins zu säubern.

Der moralische Kosmopolitismus des globalistischen Marxismus (neuer
Deckname: „kultureller Marxismus“) hat das Problem erkannt: Die Öffnung und
Entsorgung aller nationalen Grenzen setzt nicht nur einen (noch)
nichtvorhandenen Weltstaat voraus, er setzt auch eine (noch) nicht vorhandene
Weltvolkswirtschaft voraus.

„Welthandel“, „Weltwirtschaft“, „Weltforum“, „Weltfrieden“ und ähnliche
Globalworte gehen uns leicht und gedankenbefreit über die Zunge. Soziologen
haben sogar mit „Weltgesellschaft“ kein Problem; ihre globalistischen
Nebelkerzen versammeln sich jederzeit am heiligen Kult-Ort der
„Weltgemeinschaft.“

„Es ist die Wirtschaft, Dummkopf“, dieser Satz, den Marx souffliert haben
könnte, ist nicht zufällig den Wahlkämpfen in den USA entstiegen. Die
Besserdenkenden benutzen ihn seither als (Totschlag)Wort, um
Schlechterdenkende durch eine ausgesucht globale Beleidigung auszugrenzen.
Dennoch unterschlägt oder vernebelt das verdammende
Wort (auch dem Dummkopf-Fluchwort wurde die politische Lizenz noch nicht
entzogen) den gar nicht feinen Unterschied von „Weltwirtschaft“ und
Volkswirtschaft.

II.
Eine zentrale politische Maxime Bush-Administration für den Nahen Osten und
die Zweite (islamische) Welt lautete: zunächst in einem Staat (Irak) mit vereinten
Kräften Demokratie installieren und stabilisieren, – als Keim und Same, der
später in der gesamten Krisenregion Wirkung zeigen könnte. In fragilen Staaten
nämlich, die seit mehr als einem halben Jahrhundert von innerem Zerfall
bedroht und auf dem Weg zur rechtstaatlichen Demokratie stecken geblieben
sind: im Morast vormoderner Monarchien, korrupter Gottessstaaten und brutal
antidemokratischer Militärdiktaturen.

Nachdem dieses Projekt durch Obamas Rückzugspolitik, die der Politik der
Schröder-Chirac-Putin Achse folgte, verfehlt wurde, herrscht angesichts der
nicht endenden Flüchtlingsströme aus der Zweiten und Dritten Welt Ratlosigkeit
und Verzweiflung. Nicht nur in der Ersten Welt, mehr noch in den Staaten der
Krisenregionen selbst, die ihrem offenen Zerfall und einem brutalen Kampf
gegen den Jihad der fundamentalistischen Islamisten ausgesetzt sind. Vom stets
drohenden Glaubenskrieg zwischen Sunniten, geführt von Saudi-Arabien, und
Schiiten, geführt vom Iran, zu schweigen. Ebenso vom 70-jährigen Krieg seit
1948, den die sonst eher verfeindeten Staaten der islamischen Staaten gegen
dem gemeinsamen Feind Israel führen, um diesen vermeintlich vergifteten Keil
des westlichen Imperialismus zu vernichten.

In dieser Stunde der Ratlosigkeit und Verzweiflung scheint eine neue Ideologie
gerade recht zu kommen. Nicht mehr müsse man die zurückgebliebenen
Staaten und Kulturen in deren Hemisphäre säkularisieren und demokratisch
missionieren, sondern die Flüchtlingswellen seien als Chance einer neuen Art
Völkerwanderung zu erkennen und zu nutzen. Völker haben nach neuer
(„globalistischer“) Deutung das selbstverständliche Recht, in jedem anderen
Land einzuwandern und seßhaft zu werden.

Das zentrale Dogma der neuen Ideologie verkündet: Wer „Chancengleichheit
für alle Menschen“ anstrebe, könne auf die noch existierenden Nationalstaaten
und deren autonome Grenzen wie auch politische und ökonomische
Selbständigkeit keine Rücksicht mehr nehmen. Ein Dogma, das vom aktuellen
katholischen Papst bereits theologisch abgesegnet wurde: „Jeder Flüchtling ist
ein Geschenk Gottes.“

Nachdem die politische Haltlosigkeit dieser Ideologie in Essay (36) gezeigt
wurde, fehlt noch eine Erörterung ihrer ökonomischen Haltlosigkeit. Wie vorhin
schon angedeutet, basieren die Staaten dieser Welt auf ihren Volkswirtschaften.
Diese Basierung ist keine umfassende, keine erst- und letztbegründende, wie
der Marxismus und sein kommunistisches Weltmodell glaubte, weil von der
ökonomischen Basierung die kulturellen Basierungen der Nationalstaaten, die
ihrer Sprache und Religion, ihrer Geschichte und Tradition, ihrer Sitten wie
Unsitten konkret zu unterscheiden sind. Es ist der Überbau, stupid, der sich
ständig in die Machenschaften des Unterbaus einmischt. Wer gegen die globale
Vermarktung von Google, Amazon, Facebook argumentiert und mit rechtlichen
und Protest-Schritten droht, gesteht ein, daß er seine eigene Global-Praxis nicht
mehr mit marxistisch-leninistischen Doktrinen begründet.

Wer nun das „Gebot einer globalen Chancengleichheit für alle Menschen dieses
Planeten“ zu begründen versucht, pflegt als ersten Beweis für die Überholtheit
aller Nationalstaaten die große Phalanx an Institutionen anzuführen, die
scheinbar einer zentral organisierten und institutionalisierten Weltgemeinschaft
entstammen. Weltbank, IWF, WTO, IEA, BIZ bis hin zu G8 und G20 werden
angeführt, um als bewiesen vorzuführen, was nur durch die irreführende
Sophistik täuschender Welt-Worte erschlichen wurde.

Unzählbare Zoll- und Handelsabkommen zieren die moderne „Weltwirtschaft“,
aber Verträge und deren Kontrolle und Vollzug sind nicht dasselbe wie eine
Weltwirtschaft als politisch und ökonomisch verantwortliches
Handlungszentrum. Eine „Welt-Volks-Wirtschaft“ mag am Ende der
angestoßenen Entwicklung stehen, aber dieser potentielle Anfang eines
Weltstaates und seiner Weltökonomie liegt, wenn er jemals wirklich werden
sollte, in ferner Zukunft.

Die diversen Organisationen für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung mögen daraufhin arbeiten, indem sie unbewußt anstreben, was
vorerst noch nicht Gegenstand bewußter Pläne sein kann. Denn auf
unabsehbare Zeit wird niemand wissen, welches „Menschheitsvolk“ sich durch
welche Prozeduren in einem durchaus möglichen Weltstaat zusammenfinden
wird. Und welcher Art seine (Welt)Regierung sein wird, nachdem die vielen
Völker und Kulturen der Gegenwart alle noch kommenden Clashes of
Civilizations hinter sich gelassen haben werden.

Als zweiter Beweis wird die Entstehung und Existenz vieler gemeinsamer
Wirtschaftsräume (ASEAN, MERCOSUR, EFTA, EAWU usf.) in aller Welt angeführt.
Dabei wird mit unschöner (verdächtiger) Regelmäßigkeit unterschlagen, daß die
handelnden Subjekte dieser Vergemeinschaftungen doch die Staaten sind und
bleiben, nicht aber die Staatengemeinschaft als autonomes und
institutionalisiertes Subjekt agiert. Die sich verbindenden Staaten mögen sogar
gemeinsame Institutionen zum Austausch ihrer Verhandlungen gründen, auch
gemeinsame Regeln und Gesetze erlassen, dies ändert nichts am Unterschied
der realen Akteure von ihren gemeinsamen Institutionen, denen – teilweise – die
Aufgabe übertragen wird, den Vollzug der bereits abgeschlossenen Verträge zu
kontrollieren und die Möglichkeit weiterer Verträge zu sondieren.

Wie noch die innigsten Freunde trotz ihrer tiefen Freundschaft selbständige
Personen bleiben, und die Rede von einer Eheperson, zu der die Ehepartner
verschmelzen, eine gutgemeinte Metapher für gelebte Liebe ist, so bleiben auch
Staaten in sogenannten Staatengemeinschaften selbständige Einheiten und
Subjekte, denen schon das Völkerrecht gebietet, ihrer Volkswirtschaft und ihren
Staatsbürgern verpflichtet zu bleiben.

Einzig der Sonderfall EU scheint den großen Sprung zu wagen: Die Europäische
Union bestimmt zu ihrer gemeinsamen Mitte eine Institution als politisches
Zentralorgan mit legislativer, exekutiver und juridischer Handlungsmacht für
(gegenwärtig) 27 europäische Staaten.

Wie in einem Versuchslabor der Menschheit lassen sich an diesem Modell, das
seit etwa 1985 ultimativ als grenzenloser Schengenraum realisiert wird, alle
Probleme und Krisen studieren, die unausweichlich eintreten, wenn sich
nationale Volkswirtschaften in die Gemeinschaft einer übernationalen
Kontinentalwirtschaft auflösen sollen. Es sind ganze Kaskaden an Verwerfungen
und Kollisionen, die das Experiment durchläuft; und ob es nun wirklich läuft
oder nur geht, oder schleicht und stolpert: Unbeantwortet im Dunkel der
Zukunft verharrt die existentielle Frage, ob die Neuerschaffung Europas dieses
zum Problemkind oder zur Musterknäbin der künftigen Menschheit machen
wird.

Wird nämlich die Auflösung der Nationalstaaten einem überstaatlichen Zentrum
übertragen, einem scheinbar oder wirklich demokratisch legitimierten
Überstaat (dessen künftiger Name unbekannt bleibt), muß dessen
Gewaltenteilung zwischen Judikative, Legislative und Exekutive
notwendigerweise mit den gleichnamigen Gewalten der Nationalstaaten
kollidieren, – in jedem Feld und Bezirk von Wirtschaft, Politik und Kultur. Nicht
nur mit deren obersten Entscheidungsträgern und Ministerien, sondern auch
mit deren zentralen Behörden und zugehörigen Verwaltungsapparaten. Und
nicht zuletzt, obwohl fast schon vergessen: mit den Mentalitäten der „Völker der
Vaterländer“, – mit den Massen der Einzelbürger und ihrer Korporationen, über
deren Köpfe hinweg die allwissenden politischen und ökonomischen Eliten
befinden und entscheiden.

Es ist weniger der triviale Grund der nationalen Souveränität, der zu Konflikten
führt, – diese verspürt allerdings bei der Annäherung einer übernationalen
Souveränität das irritierende Gefühl invadierender Fremdherrschaft. Es ist vor
allem ein historischer Grund, der zu unversöhnlichen Verwerfungen führt: Die
Mitgliedsstaaten stehen nicht auf gleicher Entwicklungsstufe, weder in ihren
Volkswirtschaften noch in der demokratischen Qualität ihrer politischen und
kulturellen Systeme, weil sie sich mit oft sehr verschiedenen Herkünften
herumschlagen und daher mit verschiedenen Geschwindigkeiten in die Zukunft
bewegen.

Obwohl sich durchwegs alle Staaten der EU als moderne Demokratien
ausgewiesen und unter rechtsstaatlichen Titeln zur neuen Gemeinschaft
verschworen haben, differieren sie doch in vielen Punkten und nicht selten
unversöhnlich. Die Bucht von Piran gehört doch längst schon allen Staaten der
EU, sollte man glauben…

Formell, auf dem Papier unzähliger Verträge, verpflichten sich die europäischen
EU-Nationalstaaten nicht nur für ihre eigene Bevölkerung, sondern auch für die
26 anderen Mitgliedsstaaten alle sozialen Rechte (Arbeit, Aufenthalt, Familien,
Versicherungen, Pensionierungen usf.) zugänglich zu machen. Indem jeder
Staat und dessen Volkswirtschaft seine nationalen Rechte mit denen anderer
Nationen teilt: Quelle eines Systems gemeinsamer EU-Rechte, soll am Ende des
erfolgreich zurückgelegten Weges der Selbstverlust aller zum Selbstgewinn aller
führen: Ein siegreicher und mächtiger Kontinent, der mit seinem gewaltigen
gemeinsamen Wirtschaftsraum im Konzert der anderen Weltmächte als
gleichberechtigte Weltmacht mitspielen wird.

Und im Zuge dieser Eroberung einer gemeinsamen europäischen
„Volkswirtschaft“ werden die Nationen Europas zugleich zu einer Nation oder
Übernation, zu einem europäischen Volk oder Übervolk zusammenwachsen.
Welche gemeinsame Sprache die (gegenwärtig) 27 Nationen dann pflegen
werden, ob Englisch oder Esperanto oder eine andere, dies sei eine sekundäre
Frage. Politische Modelle, die der Logik praestabilisierter Harmonie folgen,
eröffnen viele Hoffnungen. Wenn der Nationalstaat zum Teufel geht, kann der
Überstaat EU vom Himmel des Tausendjährigen Friedens herabsteigen.

Offensichtlich weist dieses spezifisch europäische Vereinigungs- und
Auflösungsdenken eine gewisse Verwandtschaft mit der globalistischen No-
Border-Ideologie auf. Weshalb sie deren Vertretern auch wie ein alternativloses
Gesetz der Geschichte, dem zu folgen moralische Pflicht sei, erscheinen muß.
Wie Europa zusammenwächst, so demnächst die ganze Menschheit. Das große
Europa wurde zur Avantgarde der Menschheit berufen, eine Ehre, zu der man
nur einmal berufen wird.

Und dieser großen Avantgarde, der Phalanx der 27, geht nochmals eine
auserwählte Avantgarde mit bewährter Gründlichkeit voran: Die künftige
deutsche Nation wird kunterbunt, von der bisherigen deutschen Nation finden
sich bald nur noch Spurenelemente. Das hohe Ziel der innovativen Eliten heiligt
viele neue politische Mittel, die nur den Ewiggestrigen grausam und unrechtens
erscheinen.

III.
Zwar unterstützt die EU die nationalen Volkswirtschaften und fördert eine
Vielzahl von Projekten in ganz Europa mit den Mitteln eines gemeinsamen EU-
Haushaltes. Aber die Volkswirtschaften und deren Regierungen bleiben
letztverantwortlich, wenn sie von der EU ermahnt werden, die oft extrem
unterschiedlichen sozialen, juridischen und nicht zuletzt ökonomischen
Standards in den Nationalstaaten zu beseitigen. Die Beseitigung der hohen
Schuldenlast und (Jugend)Arbeitslosigkeit im gesamten EU-Raum ist
beispielsweise ein Dauerthema auf jedem EU-Gipfeltreffen, bei dem mit schöner
Regelmäßigkeit das treuherzige Mantra vom „Nur gemeinsam“ (lösen wir
„unsere“ Probleme) beschworen wird.

Dabei treibt die EU einen merkwürdigen, halb beabsichtigten oder auch nur
unbemerkten Keil in die für ihre Volkswirtschaften verantwortlichen
Nationalstaaten, wenn sie nicht diese, sondern deren „Regionen“ anruft, mit der
EU gemeinsame Sache(n) zu machen. Ein gefährlicher Appell, der hoffentlich nur
in Katalonien als Weckruf zu „mehr Demokratie“ verstanden wird. Schotten,
Wallonen, Flamen und viele anderen warten bereits, auch mit dem Rückenwind
namens Brexit in den Segeln, ihre Regionen als neue oder erneuerte
Nationalstaaten zu gründen. Gegen das Schreckgespenst einer „EU mit 95
Staaten“ wurde in der Brüsseler Zentrale bereits ein vorauseilendes politisches
Veto ausgerufen. Dabei sind es oft gerade die wirtschaftlich stärksten Regionen
der bestehenden Nationalstaaten (Katalonien, „Padanien“), die vom Virus der
Sezession erfaßt werden.

Mit einem Wort: die EU ist schon innerhalb ihres Gebietes (ursprüngliche Idee:
die zu vereinigenden Vaterländer) ein nur schwacher globaler Akteur, und
außerhalb der EU wurde überhaupt noch keiner gesichtet, der die Pflichten und
Aufgaben der nationalen Volkswirtschaften übernehmen oder ersetzen könnte.
Appelliert beispielsweise das UNO Flüchtlingswerk (UNHCR) an die EU, mehr für
Migration und Integration zu unternehmen, wendet sich diese umgehend an die
betroffenen Nationalstaaten. Prompt zeigen sich diese uneinig bezüglich der zu
befolgenden Methoden und zu erreichenden Ziele. Worauf die EU mit
(un)schöner Regelmäßigkeit ihr eingeübtes Mantra „Nur gemeinsam“
verkündet. Eine ermüdende Prozedur und Litanei, die das Vertrauen in eine
zukunftsfähige EU geradezu systematisch untergräbt.

In der Perspektive der globalistischen Ideologie kann die herrschende globale
Ungerechtigkeit nur durch eine globale Gerechtigkeit überwunden werden. Und
weil diese nur durch globale Chancengleichheit erreicht und durchgesetzt
werden kann, ist ab sofort die globale Chancen-Ungleichheit zu beseitigen. Der
ehrwürdige Klassenkampf der marxistischen Ideologie wurde durch einen
kontinentalen Massenkampf ersetzt, durch einen kontinentalen Kampf der Drei
Welten der gegenwärtig existierenden Menschheit. Daher die Proklamation
eines Rechtes auf universale Völkerwanderung und gleichen Reichtum für alle.

Im Vergleich zu Menschen, die in Deutschland, Italien oder Schweden leben,
sind Menschen, die in Nigeria, Ägypten oder Jordanien leben, einer extremen
und unmenschlichen Ungerechtigkeit ausgesetzt, lautet die Parole, die der
utopischen Proklamation scheinbar unwiderlegbar folgt. Proklamationen und
Parolen dieser Spezies bemerken nicht, wie schon erwähnt, daß sie eine noch
nicht vorhandene Menschheits-Institution, einen noch nicht vorhandenen Meta-
Staat (Weltstaat) als vorhanden voraussetzen. Bei diesen könnten die besagten
Menschen allerdings gegen das Unrecht, das ihnen ihre Nationalstaaten und –
kulturen zufügen, rechtmäßig klagen. Bei den utopisch vorausgesetzten nicht
einmal den Diebstahl eines Taschentuchs.

Ein Meta-Staat (der utopische Embryo eines Weltstaates) soll als Hüter der
höchsten, wenn auch erst noch kommenden Gerechtigkeit, eingreifen. Diese
Proklamation führt zu den diversen Menschenrechtsgerichten und
Strafgerichtshöfen der UNO und vor allem der EU, die daher nicht frei sind von
der Versuchung, sich als Organe eines schon existenten Menschheitsstaates zu
interpretieren.

Ob beispielsweise ein von Nationalstaaten erlassenes Burkaverbot den
Freiheitswerten der Ersten Welt widerspricht; ob eine Mutter berechtigterweise
die Abnahme eines Kruzifixus von der Schulzimmerwand fordert, weil ihr Kind
durch das Symbol gegen seinen Willen religiös indoktriniert werde, diese und
ähnliche Fragen zu entscheiden, sind neuerdings national geborene, aber
international urteilende Richter berufen. Sie allein werden für versiert genug
erachtet, im täglichen Clash of Civilzations, der viele und überaus unverträgliche
Werte und Rechte durcheinander taumeln läßt, rechtskundig zu befinden. Neue
Genies für eine neue Menschheit wurden gefunden. Daß ein Minimalkonsens
zwischen den drei Welten („Weltethos“) nicht das gesuchte Goldene Ei einer
neuen (vorerst noch „multikulturellen“) Menschheit sein kann, haben sie bereits
herausgefunden.

Wird aber der westliche Kolonialismus als Verursacher der globalen
Ungerechtigkeit namhaft gemacht, wird Anklage gegen die heutigen
Nationalstaaten als Erben der ihrer Vorgänger-Generationen erhoben. Zwar
wird diese beinahe alttestamentarisch mythische Ideologie
epochenübergreifender Sippenhaftung, die kongenial mit der globalistischen
Ideologie totaler Chancengleichheit harmoniert, manchmal durch christlich-
theologische Begründungen, die an Unbestimmtheit nichts zu wünschen übrig
lassen, abgeschwächt. Die Struktursünde einer Welt, die immer noch eine „Drei-
Welten-Welt“ zuläßt, läßt sich christlich theologisch nur dem „„Fürsten dieser
Welt“ anhängen, der entweder oder auch nicht mit dem Teufel höchstpersönlich
unter einer Decke steckt.

Gegen die Verschwommenheit der christlich theologischen
Geschichtskategorien lassen die der islamisch theologischen an Bestimmtheit
und Entschlossenheit nichts zu wünschen übrig. Kennt das Haus des Islams
prinzipiell keine Grenzen, ist sein Anspruch auf globale Weltherrschaft auch
unter dem Prinzip einer religiös gebotenen Verstellung durchsetzbar. Dagegen
hilft den friedliebenden Gemütern in der Ersten Welt nur die liebgewordene
Vorstellung, jeder Moslem laufe nach seiner Ankunft in Europa sogleich ins
Lager der Frieden schaffenden Demokratien über, moderate Moslem
verwandeln sich erwartungsgemäß in „lupenreine“ Demokraten.

IV.
Eine Volkswirtschaft wirtschaftet unter dem Ziel, ein gemeinsames
Bruttosozialprodukt zu erwirtschaften, das dem Staat dient, seine Pflichten als
Staat zu erfüllen. Diese Pflichten sind nicht nur, aber vor allem, Pflichten des
Nationalstaates gegenüber seinen Staatsbürgern, mögen diese noch so
vielsprachig und multiethnisch sein. Primär sind zu nennen: Bildungssystem,
soziale und medizinische Versorgung, öffentliche und staatliche Sicherheit sowie
nicht zuletzt Beschäftigung.

Versucht man die nationalen Volkswirtschaften in übernationale
Kontinentalwirtschaften überzuführen, folgt unausweichlich, wie schon
angedeutet, ein wirtschaftspolitischer Kulturkampf. Jenen, die überzeugt sind,
daß der Nationalstaat zum Teufel gehen soll, stehen andere gegenüber, für die
der Überstaat EU der Teufel ist, den es zu bekämpfen gilt, auch wenn er einen
Tausendjährigen Frieden verspricht.

Weil aber viele Segmente der nationalen Volkswirtschaften längst schon
international interagieren, entweder bilateral oder multilateral – ohne
Außenhandel und ohne internationale Geldmärkte wären die nationalen
Volkswirtschaften verurteilt, als Insulaner in einem Meer von Nicht-Insulanern
zu überleben -, sind die je aktuellen Fronten des wirtschaftspolitischen
Kulturkampfes volatil, oft kaum deutlich erkennbar, in jedem Fall umstritten und
der beliebigen Meinungsbildung ausgeliefert. Maximen wie „Denke global,
handle national“, lassen sich mühelos umkehren und dadurch als hohle
Meinungspolitik entlarven.

Dennoch firmiert die nationale Volkswirtschaft auch in gemeinsamen
Wirtschaftsräumen, etwa im Schengenraum der EU, zumindest auf gleicher
Höhe mit der des multinationalen Wirtschaftsraumes. Verpflichten sich
beispielsweise alle EU-Staaten eine bestimmte, sogar vertraglich festgehaltene
Schuldengrenze ihrer Haushalte zu erreichen und einzuhalten, dann gewiß
auch, um den gemeinsamen EU-Haushalt bedienen zu können. Doch nicht
weniger, eher mehr, um nicht als nationale Volkswirtschaft in die Binsen zu
gehen.

Geschähe dieses, wäre auch jener, der multinationale Wirtschaftsraum, über
Bord der Geschichte gegangen. – Ein anderes Beispiel: Abertausende Produkte,
auf und aus asiatischen Arbeitsmärkten hergestellt und geliefert, werden in
Europa verkauft. Import und Konsum kommt den europäischen, Export und
Beschäftigungsquote kommt den asiatischen Nationalstaaten und
Wirtschaftsräumen zugute.

Errichten aber europäische Großfirmen in den außereuropäischen Staaten
produzierende Wirtschaftsenklaven, die oft enorme Umsätze erzielen, ebenso
asiatische Firmen in Afrika oder auch schon in Europa, wird das Problem der
„Globalisierung“ wirklich greifbar. Ersichtlich an den vor allem finanzrechtlichen
Diskussionen über die abzugeltenden Steuern: wo, wie und wie viel? – bestimmt
welcher Nationalstaat oder welcher Wirtschaftsraum?

Eine „global vernetzte Welt“ ist folglich noch kein wirklich politisch gemeinsamer
Wirtschaftsraum, ihm fehlt noch das gemeinsame Subjekt: eine gemeinsame
politische Macht-Institution, die bestimmt und ansagt, führt und haftet. Eine
verantwortliche Weltregierung für einen Weltstaat als wirklich gemeinsamer
Weltgesellschaft liegt noch weit hinter unserem Zukunftshorizont.

Deshalb argumentieren die Ideologen einer sich angeblich von selbst
realisierenden „Globalisierung“ sophistisch: als moderne Utopisten. Sie müssen
eine „gemeinsame Menschheit“ als schon vorhandenes gemeinsames Subjekt
unterschieben. Utopische Legitimationen sind nur erhoffte und prophezeite, sie
müssen ihren aktuellen Status als Wunschdenken und „Zeichensetzen“ erst
noch hinter sich lassen.

Aus der langen Liste der manifest gewordenen Widersprüche folgt einsehbar,
daß sich das Gebot einer „globalen Chancengleichheit für alle Menschen der
Welt“ nicht rational begründen läßt. Daraus wiederum, daß sich das Gebot,
„Völkerwanderung“ und Zuwanderung zu kontrollieren, von den real
vorhandenen Nationalstaaten weder moralisch noch rechtlich zurückweisen
läßt. In Europa allerdings unter einem speziellen Vorbehalt: sofern sich der
gemeinsame Wirtschafts- und Rechtsraum (Schengen/ EU) als unvermögend
erweist, eine wirklich gemeinsame Sicherung der Außengrenzen, eine wirklich
gemeinsame Kontrolle der Zuwanderung, eine wirklich gemeinsame Integration
der Immigranten zu organisieren. Ein bislang manifestes Unvermögen, das
auch UNO und NGOs auf absehbare Zeit nicht beseitigen werden.
Leo Dorner, Dezember 2017