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33 Krisenzeiten oder Vorkriegszeiten?

I.

Das junge 21. Jahrhunderts registriert mit großer Sorge eine bedrohliche Mehrung und Ausbreitung von Krisen und Kriegen. Nicht nur in Europa wird die bange Frage diskutiert, ob wir in einer neuen Vorkriegszeit leben.

Der Zerfall der bisherigen politischen Ordnung im Nahen Osten führte zu Völkerwanderungen nach Europa, die durch ähnliche Bewegungen aus Afrika und Asien noch überboten werden. Massenelend erreicht ein ratloses Europa, das offenbar überrascht wurde von einer Wende der Geschichte, die ganz anders verläuft als jene von 1989/90, in der sich der Westen noch einmal als Triumphator erlebte, weil die „rote Gefahr“ im Osten Europas für immer gebannt schien.

Doch ist auch diese Gefahr in neo-nationalistischer Gestalt wieder nach Europa zurückgekehrt. Rußlands Hybrid- und Cyberkriege sowie Annexionen seit 2008 entfachen in der ehemaligen sowjetischen Einflußzone gefährliche Brennpunkte, die ein zufälliger oder provozierter Funke unkontrollierbar machen könnte.

Und mit Obamas Rückzugspolitik scheint die Epoche der Pax americana, die Europa und Asien über ein halbes Jahrhundert einen nur temporär und lokal unterbrochenen Frieden sicherte (Korea, Vietnam, Jugoslawien), zu Ende zu gehen. Scheinbar zufällig bewegt sich zugleich die EU, das selbsternannte Friedensprojekt des europäischen Kontinents, im Krisenmodus auf Schleuderkurs.

Zudem ist die nukleare und konventionelle Rüstungskontrolle, bislang im Interesse aller Weltmächte vorangetrieben, auf unübersehbarem Rückzug. Das atomare Gleichgewicht, das den bangen Frieden des langen Kalten Krieges mitgetragen hat, wird – nicht zuletzt durch neue potentielle Atommächte wie Iran, aber auch durch erwartbare Konflikte zwischen den asiatischen Atommächten Indien und Pakistan sowie Nordkorea und seinen bedrohten Nachbarn – einer ungewissen und unkontrollierbaren Entwicklung ausgesetzt. Zum Entsetzen der baltischen Staaten und Polens stationiert Rußland atomwaffenfähige Kurzstreckenraketen in Kaliningrad, die auch Berlin erreichen können.

 

II.

 

In den Staaten der EU bekämpfen einander Links- und Rechtspopulisten, vorerst noch friedlich, aber jede der beiden Richtungen in der verfestigten Überzeugung, beim Gegner und Feind liege die Ursache des kommenden Unheils. Europa hält den Atem an, sein Vertrauen, den drohenden Zerfall der EU anhalten und verhindern zu können, schwindet, die Horizonte der Zukunft verdüstern sich.

Die linken Populisten beschwören die Gefahr, daß die offene und liberale, die grenzenlose und humanitäre Demokratie zunächst durch eine „illiberale Demokratie“ rechter Autokraten und Demagogen, dann durch deren Diktaturen vernichtet werden könnte – Mussolini und Hitler kehren wieder. Für die rechten Populisten gilt das ungefähre Gegenteil: eine Demokratie ohne Grenzen, ohne innere und äußere Kontrolle ihres Staates, nicht bestandfähig. Zerfallende Staaten in Europa könnten zwar nicht mehr einem neuen Stalin und Mao zum Opfer fallen, sehr wohl aber einer anarchischen und bürgerkriegsähnlichen Entwicklung und einer Machtergreifung durch islamische Ideologien.

Diese Befürchtung halten alle linken Populisten naturgemäß für demagogischen Alarmismus, der nur den neuen Mussolinis und Hitlers den Weg bereiten soll. Dabei argumentieren die Linkspopulisten längst nicht mehr klassenkämpferisch, nicht mehr marxistisch oder kommunistisch, sondern als neue Europa-Befreier, die das Banner der liberalen Universal-Demokratie vor sich hertragen. Wovon muß Europa befreit werden? Von der eingrenzenden und antiglobalistischen Demokratie europäischer Nationalstaaten. (Diese Linkspopulisten kollidieren im eigenen Lager mit allen „Globalisierungsgegnern“ der Linken Front, von Attac bis Occupy usf.) Das Endziel der liberalen Befreiung könne daher in Europa nur eine Demokratie durch und mit Staaten sein, die ihre nationale Identität und ihre Grenzen, äußere und innere, aufzugeben bereit sind. Eine offene EU, die stolze EU des grenzenlosen Schengenraumes, sei gegen alle nationalen Widerstände zu verteidigen und durchzusetzen. Auf diesem Weg allein werde das große Friedensprojekt für immer und ewig begründet und gesichert. Doch dem Dogma dieses Glaubens begegnet der Unglauben ihrer Gegner.

 

III.

 

Für die einen ist „Merkel“ der Name des künftigen Sargnagels der EU, für die anderen steht derselbe Name für eine unter der Führung Deutschlands weiterhin entwickelbare EU. Ein „globalisiertes“, ein multikulturelles Europa soll das bis 2015 anvisierte Ziel eines Europas der Vereinigten Vaterländer ablösen.

Gegen diesen Bruch gegebener Versprechen und der ihnen zugrundeliegenden Verträge erhebt sich verständlicher Einspruch in fast allen Nationen und Staaten Europas. Wenn schon eine EU in der Perspektive der globalen ökonomischen und politischen Verflechtungen der kommenden Welt unausweichlich sei, dann nur durch eine Neubegründung und demokratische Neu-Legitimierung, auch wenn dieses Argument kam je konkret ausführt, wie der große Plan im zerrissenen Europa gelingen könnte.

Die bisherigen Gründer-Eliten des ersten Versuchs einer Vereinigung Europas seien kläglich gescheitert. Sie hätten eine EU-Bürokratur errichtet, die den Völkern Unfreiheit und Unfrieden gebracht habe. Also müßten die Völker Europas neuerlich befreit werden und nach eingehender Befragung und Zustimmung als legitim Regierende legitimer Verträge wieder eingesetzt werden.

Die Gründer-Eliten und Befürworter der EU sehen die Sache naturgemäß von der entgegengesetzten Seite, sie sprechen von einem unvollendeten Versuch und vor allem von einem Friedensprojekt, das jede nur erdenkliche Nachsicht, Geduld und Entschuldigung verdiene. Doch mehren sich auch unter den Repräsentanten der EU die Stimmen derer, die befürchten, der „Brexit“ (Austritt des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union 2016) könnte unter austrittswilligen EU-Staaten Nachfolger finden.

Auf den Fehler der bisherigen EU-Eliten, das Projekt einer multikulturellen EU durch grenzenlose Immigration überzogen zu haben, reagieren die neuen Eliten mit dem Gegenfehler, das gemeinsame europäische Projekt nationalistisch zu verengen und dadurch zu destruieren. Welcher Fehler Ursache, welcher Wirkung ist, diese Frage ist für Historiker leicht und klar zu beantworten. Die Kausalitäten des Schlüsseljahres 2015 sprechen deutlich genug. Für die einander bekämpfenden Politiker und deren Anhänger und Fraktionen ist diese Frage hingegen nicht objektiv zu beantworten, weil sie die Realität durch die Perspektive ihrer politischen Einstellung beurteilen müssen. Was Sache ist, was Realität ist, was Ursache und was Wirkung ist, dies wird durch die politische Perspektive vorentschieden. (Wie unter streitenden Kindern gilt auch hier: stets hat das andere Kind angefangen.)

Das politische Meinen und Deuten hat zu seinem Telos notwendigerweise einen Kampf um die politische Macht; wirklich „recht gehabt“ hat jener, der die Macht des Entscheidens an sich reißen konnte. Dennoch gilt noch bis zu dieser Stunde: linker und rechter Populismus, alte EU-Befürworter und neue EU-Reformer antagonieren vorerst noch relativ friedlich, wenn auch mit steigender Frequenz und Ungeduld, und natürlich mit der Ungewißheit über künftige Entwicklungen, wie das Entstehen neuer alternativer Parteien und neuer Programme alter Parteien beweist.

Bleiben die Auseinandersetzungen im Rahmen demokratischer Prozeduren, können alte durch neue Machtinhaber friedlich ersetzt und abgelöst werden. Diesen Vorteil sollte die westliche Demokratie unter keinen Umständen verspielen. Doch existiert die westliche Demokratie im heutigen Europa in zwei Versionen: einmal als traditionelle Demokratien der Nationalstaaten mit ihren Eigentümlichkeiten, außerdem aber auch noch als neue, als Experimental-Demokratie der EU – von ihren Gegnern als „Diktatur“ diskreditiert, von ihren Anhängern als globalisierungsfähige Universal-Demokratie gepriesen.

Daher ist es fraglich, ob auch innerhalb der EU und für deren Erhalt ein friedliches Konfligieren und Kollidieren im Rahmen demokratischer Prozeduren trag- und normkräftig sein wird. Sogar das britische Referendum, das zum Brexit führte, wird von den unterlegenen Fraktionen als „undemokratisch“ und „populistisch“ denunziert. Andererseits steht die Binsenweisheit, daß weniger als 28 Staaten für das Gemeinschaftsprojekt immer schon mehr und besser gewesen wären, neuerdings nicht mehr unter Tabu.

 

IV.

 

Bisher ist Europa vom Phänomen kollabierender Staaten verschont geblieben, – sieht man vom Zusammenbruch der Sowjetunion und von den „hybriden“ (verstellten und getarnten) Annexionen Rußlands ab. In der Perspektive der westlichen Politik war und ist der Zusammenbruch und das Verschwinden der Sowjetunion ein Segen und ein Geschenk. In der russischen Gegenperspektive jedoch eine Katastrophe, durch westliche Strategien und Machterweiterungen verursacht. Sprechen jene von einer Implosion, reden diese von einer ungerechtfertigten Einmischung und bewußt organisierten Sprengung. Ursache und Wirkung tauschen die Plätze, je nach Perspektive, je nach vorentschiedener politischer Deutung.

Auch im zentralen europäischen Konflikt wechseln Ursache und Wirkung die Plätze, je nach der Perspektive, die als Platzanweiserin für Ursache und Wirkung fungiert. Jene, die das Projekt einer multikulturellen EU durch grenzenlose Immigration aus der Zweiten und Dritten Welt ablehnen und bekämpfen, sehen die Ursache der ihrer Meinung nach katastrophalen Fehlentwicklung im Versagen der bisherigen EU-Eliten.

Diese jedoch, das neue Projekt favorisierend und oft als alternativlos behauptend, sehen die Ursache der aktuellen Bedrohung der EU entweder in der Interventionspolitik der USA oder in den ungelösten Krisen und Konflikten der islamischen Welt oder, drittens, in der kolonialistischen Vergangenheit Europas. Gemäß dieser Erklärungsvariante der „Fluchtursachen“ habe daher das neue Europa die Verpflichtung und Haftung für eine alte „globale“ Schuld zu übernehmen. Am besten als humaner Gast-Kontinent für hundert afrikanische und islamische Stämme und Völker.

Bisher war die EU als Friedensmodell für die ganze Welt, das in alle Welt als Vorbild exportiert werden sollte, gedacht und angepriesen. Nun geschieht das Gegenteil, Immigrationen von Stammesgesellschaften und politischen Religionen fluten Europa und der Friede des Friedensprojektes EU ist ungesicherter denn je. Und mit dem antikolonialistischen Argument machen sich die regierenden EU-Eliten und deren Anhänger außerdem eines Denkens in Ahnen- und Sippenhaftung schuldig.

Als ob im Europa von heute noch Stämme oder auch nur Stände regierten, und als ob unser Abstammen von Nationen mit dem von Stämmen in vormodernen Gesellschaften und Beduinen-Clans vergleichbar wäre, wird beispielsweise das Sykes-Picot-Abkommen, das 1916 die Gründung mehrerer neuer Staaten auf dem Boden des kollabierenden Osmanischen Imperiums einleitete, auf das Schuldkonto des heutigen Frankreichs, des heutigen Englands und des heutigen Europa übertragen.

Mit anderen und deutlicheren Worten: Unsere Urgroßväter, die obsiegenden Kolonialmächte (nichts als böse Ausbeuter), hätten eben dort, wo jetzt und heute Staaten kollabieren (Syrien) oder noch immer nicht als Demokratien florieren (Afrika), Staaten fremdgegründet – ganz gegen den Geist von Kulturen, die durch Stämme und Religionen, nicht aber durch säkulare Parteien und zivilgesellschaftliche Voraussetzungen einer tragfähigen Staatenbildung geprägt waren und geprägt sind.

 

V.

 

Nicht Syrien, Irak und Libanon, nicht Jordanien und schon gar nicht Israel hätte man als Staaten gründen sollen, sondern die Stämme „vor Ort“ hätten unter sich austragen und entscheiden sollen, welche Arten von „Stammesstaaten“ und „Religionsgesellschaften“ ihrer Kultur gemäß sind. Dieses rückwärtsgewandte Appeasements läßt für das vorwärtsgewandte, das auch in Europa Anhänger finden wird, nichts Gutes, nichts Friedliches erwarten.

Sollte nun ein Zerfallsprozeß der EU eingesetzt haben, würde er scheinbar zufällig mit dem Ende der Pax Americana zusammenfallen, wenn sich bestätigen sollte, daß die Nachfolger der Obama-Administration den begonnenen Isolationismus der USA fortsetzen oder sogar verstärken.

Kollabiert auch noch das bisherige Schutzbündnis NATO, das freilich unter Linken und Rechten und vor allem unter den pazifistischen Fraktionen Europas immer schon auf Protest, Haß und Widerstand stieß, könnte der bekannte Merkel-Spruch vom „Fluchtursachen bekämpfen“ sein historisches Recht einfordern, beim Wort und nicht als Phrase genommen zu werden. Auch wenn Deutschland mittlerweile seine Wehrpflicht abgeschafft hat, weil es offenbar wähnte, dank EU im erhofften Land eines Ewigen Friedens angekommen zu sein. Der Kampf gegen den global agierenden islamistischen Terror, den Obama mehrmals für „abgesagt“ erklärte, könnte aber von Europa als neuer Sicherheitsmacht, die erst noch zu begründen und zu organisieren wäre, kaum gewonnen werden.

Die Totalkrise der Türkei unter Erdogan – diese nützt auch den Versuchen Rußlands, den Zerfall der EU zu voranzutreiben – hat eine weitere Ordnungs-Säule bisheriger Weltpolitik zum Einsturz gebracht. Die Hoffnung nämlich, als Fernziel noch vor kurzem verhandlungsfähig, eine laizistische Türkei könnte als demokratische Brücke und Vorbild zwischen dem Westen und der reformbedürftigen islamischen Welt dienen. Wird auch diese Brücke zerstört, könnte die islamische Welt ihren Demokratisierungs-Kompaß weder am Sultanat in Ankara noch am religiösen Wächterstaat in Teheran ausrichten. Und eine Türkei, die nur noch als Verteiler unkontrollierbarer Flüchtlingsströme dient, liefert ganz Europa unberechenbaren Erpressungen und Entwicklungen aus. Ganz abgesehen davon, daß Europa zu einem der religiösen Hauptgründe der „Fluchtursachen“ keinen Zugang erhält: Saudi-Arabien kann seine sunnitische Führungsrolle im Kampf gegen schiitischen Erzfeind in Teheran nicht an die neoislamistische Türkei abtreten.

 

VI.

 

Wenn es nicht gelinge, Demokratie im Nahen Osten zu verankern, werde ein zerstörender Domino-Effekt die islamische Staatenwelt erschüttern, lautete eine Prophezeiung der Bush-Administration. Da nun eingetreten ist, was prophezeit wurde, rätselt die westliche Welt über der entscheidenden Frage, ob der Domino-Effekt erfolgt ist, weil jener Versuch im Irak unternommen wurde, oder weil er nicht energisch genug, nicht mit vereinten Kräften unternommen wurde. Je nach Antwort ergeben sich die jeweiligen Varianten künftiger Folgerungen und Entscheidungen.

Entweder wird der Versuch als abwegig und irregeleitet verdammt, dann folgt die isolationistische Prämisse der totalen Nichteinmischung: Nie wieder „Invasionen“ und „Besatzungen.“ Sondern? Ganz einfach: friedliches Eingreifen und Reformieren, sei es durch Entwicklungshelfer und verständnisoffene Goethe-Institute oder durch flächendeckende „Dialoge zwischen den Kulturen“, am besten unter der Regie der jeweiligen Päpste in Rom.

Noch einfacher und erfolgsversprechender schien eine deutschgründliche Variante – das berüchtigte Scholl-Latoursche-Heilmittel: die islamische Welt sich selbst überlassen, um sie fähig zu machen, ihre Probleme durch eigene Intelligenz und Macht zu lösen. Ähnlich märchenhaft ein linkspopulistischer Gegenvorschlag aus Deutschland: nur ein Marshallplan für den Nahen Osten könne noch helfen. Doch dieser Plan war ein „European Recovery Program“ (ERP), ein Wirtschaftswiederaufbauprogramm der USA, das nach dem Zweiten Weltkrieg dem an den Folgen des Krieges leidenden Westeuropa wieder auf die Beine half. Ginge es bei der Transformation der islamischen Welt nur um Wirtschaftsfragen, wäre das Problem schon seit hundert Jahren gelöst.

Sollte aber auch die Dialog-Variante zu absurden Selbstwidersprüchen führen, etwa weil der global agierende Jihad Goethe und Dialoge nur als trojanische Pferde von Kreuzrittern und Ungläubigen erkennen kann, ist guter Rat teuer. Auch scheint diese Variante nur schwerlich der Agenda „Fluchtursachen bekämpfen“ zurechenbar zu sein. Kurz: das Projekt „Demokratie verankern“ müßte einen zweiten Versuch unternehmen, der allerdings genötigt wäre, sowohl die Destruktionen durch eine antiamerikanische Schröder-Chirac-Putin-Achse also auch eine scheinbar Frieden schaffende Rückzugspolitik der Obama-Administration zu vermeiden.

Wie dies gelingen soll, nachdem als Frucht der letztgenannten Obstruktionen mittlerweile eine Moskau-Teheran-Assad-Achse und eine Türkei, die sich als islamofaschistischer Hegemon zu etablieren versucht, das Regiment des Entscheidens übernommen haben, ist als „Frage 13“ zu protokollieren.

Europa steuert auf mehrere Dilemmata zu. Erstens ist weder der Kurs einer globalisierten Massenimmigration auf Dauer befahrbar, noch können die nationalen Programme der Alternativ-Parteien wirklich tragfähige Lösungen für eine Revision der Fehlentwicklung anbieten. Dies wird schon daran erkenntlich, daß die klügeren Köpfe in beiden Fraktionen ihren Kurs mäßigen oder zu korrigieren versuchen. Auf der einen Seite werden Grenzkontrollen durch die EU, trotz des stolzen Projektes „Schengen“, wieder zugelassen, auch das Unterscheiden von Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen und Abschieben von Asylsuchenden stehen nicht mehr unter menschenrechtlichem Tabu. Auf der anderen Seite wünschen die meisten der national gesonnenen Parteien vorerst nicht einen Austritt aus der EU, sondern deren Reform, eventuell durch eine konsensfähige und demokratisch legitimierte Neubegründung gestützt.

 

VII.

 

Doch könnten auch diese Alternativen oder Varianten Makulatur werden, wenn im Wahljahr 2017 in einigen Nationalstaaten Europas neue Regime an die Macht gehievt werden. Folgte auf den „Brexit“ auch noch ein „Frexit“, (Austritt Frankreichs aus der Europäischen Union 2017 oder 2018) bliebe wohl nur noch der Weg von Totalreform, Reduktion der Mitgliedstaaten und Neubegründung offen. Ein Neuanfang, der keine der zentralen politischen Institutionen, auch nicht deren bisherige Instrumente und Projekte („Schengen“ und „Dublin“, Währungsunion, Bankenunion und gemeinsame Finanzierungs-, Sozial- und Steuerpolitik, Geldpolitik der EZB, Bologna-Universitäten usf.) unbehelligt ließe.

Nochmals sei es gesagt: weniger als 28 Staaten wären von Anfang an mehr und besser gewesen. Ein zweiter Versuch sollte vor allem die ökonomischen und sozialen Ungleichgewichte zwischen dem nördlichen, dem östlichen und dem südlichen Europa nicht mehr unterschätzen und ignorieren, noch weniger durch ständige Notoperationen am noch lebenden Patienten zu kurieren versuchen.

Ein zweites Dilemma erhebt sich vor der künftigen EU, genauer: mitten unter ihren Mitgliedsstaaten: das Dilemma der heftig umstrittenen Sanktionspolitik gegen das neo-imperiale Rußland. Schon seit Jahren offenbaren rechte Populisten, in Deutschland auch linke Populisten, auffallende Sympathien für Rußlands Politik der Annexionen und Expansionen. Verständlich daher, daß Rußland vehement ein Ende der Sanktionen fordert und Europa mit einem speziellen USA-Deal droht. Eine Spaltung von EU-Europa wäre möglich, dessen Ost-Staaten nach 1945 über 40 Jahre unter sowjetischer Fremdherrschaft leben mußten.

Durch Obamas fatale Rückzugspolitik ermutigt, fordert Rußland eine Neuordnung der Weltpolitik unter dem Schlagwort „multipolare Weltordnung.“ Die „Einflußzonen“ der Supermächte seien neu zu organisieren, was in russischer Lesart bedeutet: durch Propaganda und Hybrid-Aktionen provozieren und Chaos schaffen, um rechtzeitig neues Land zu gewinnen, denn überall, wo Russen leben, ist Rußland. Dieser Imperativ treibt seit Jahren einen unheilvollen Keil in die verunsicherte EU; mit der Ukraine könnten noch weitere ex-sowjetische Länder und Gebiete am Altar des neuen Hegemon im Kreml geopfert und „heim ins Reich“ geholt werden.

Drittes Dilemma: Europa kündigt die bisherigen Verbindungen mit den USA inklusive einer Demolierung der NATO und riskiert dabei, durch ein „neues Selbstbewußtsein“ (aktuelle Wortspende von „Friedensfürst“ Schröder) verführt, eine durch Rußland bestimmte „Sicherheitsarchitektur“ für Osteuropa zu akzeptieren. Am Ende dieses neuen Paktes, etwa durch eine neue Achse Berlin-Paris-Moskau geführt, könnte Europa allein und hilflos der der überlegenen Macht des Kremls ausgeliefert sein. Ein Szenario, das nicht völlig unwahrscheinlich ist, wenn erstens, wie schon angedeutet, die Nachfolger Obamas den Isolationskurs der USA fortsetzen oder gar verstärken, zweitens eine unvorhergesehene Provokation an den Ostgrenzen Europas einen Flächenbrand auslöst und drittens, die scheinbar fern von Europa grassierenden Konflikte Asiens auch hierzulande Wirkung zeigen.

Die auffälligsten sind zur Zeit nicht der Kaschmir-Konflikt zwischen Indien und Pakistan, sondern zuerst das Bestreben Chinas, die Rolle eines pazifischen Hegemon zu erobern. Auch aus künstlichen Inseln entstehen reale Imperien. Welches Szenario folgen würde, wenn der Hegemon China das bisherige Gleichgewicht zwischen Mächten derangiert, um den Pazifik als seinen Domäne zu markieren, ist kaum in Umrissen vorstellbar. Dennoch könnte ein Koreanisches Schreckensszenario das Chinesisch-Pazifische überbieten. Sollte in Nordkorea die längst fällige Erhebung des Volkes gegen die menschenverachtende kommunistische Diktatur zu einer letalen Krise des „Systems“ führen, wäre es von gleichwertigem Übel, ob dessen Atomwaffen gegen Südkorea oder Japan oder die USA oder gegen alle zusammen eingesetzt würden, um in auswegloser Paranoia ein atomares Inferno zu entfachen.

 

VIII.

 

Nach den Mißerfolgen der letzten Jahre wird sich der „Weltpolizist“ USA sehr wahrscheinlich auf die Gefährdungen seiner eigenen Sicherheit, Wirtschaft und gesellschaftlichen Entwicklung besinnen. Der „globalisierenden“ Migrationspolitik der EU werden die USA kaum folgen, ihr folgen nicht einmal alle Staaten der EU.

Das dritte Dilemma wird sich verschärfen: wie soll sich Europa zu einer USA verhalten, die wie vor 1917 und vor 1940 lediglich auf die eigene Sicherheit und das eigene Prosperieren, auf eigene Ziele zurückzieht? Und welches Europa unter welchen führenden Mächten und Mentalitäten? Und falls die EU weiterhin Bestand haben sollte: – unter welcher neuen EU-Politik und EU-Strategie?

Rußland und USA sind Vetomächte, die EU ist weit davon entfernt in diesen höchsten Club der Weltmächte aufgenommen zu werden. Und England und Frankreich als Europas Einsatz sind weit davon entfernt, eine neue, die NATO ersetzende Sicherheitspolitik für Europa durchsetzen zu können. Auch wird sich Großbritannien nach dem „Brexit“ sicherheitspolitisch wohl eher an die USA als an die chronisch uneinige EU halten.

Das EU-Dilemma mit der drohenden Autokratie in der Türkei wurde schon erwähnt – ein islamischer Faschismus in den Spuren Mussolinis – eine gelungene Überraschung der Weltgeschichte. Atatürks Revolution wird gekündigt und vernichtet, die türkische Demokratie entleibt sich selbst, und Europa und die EU sehen ohnmächtig zu. Untrennbar wird der Fall der Türkei mit der Frage der Flüchtlingsbewältigung durch Europa verknüpft bleiben. Zwar bemühen sich die EU-Globalisiererer nach Kräften zwischen Flüchtlingen und Jihadisten zu unterscheiden; jene seien ja auch vor den Jihadisten geflüchtet – eine nur halbe Wahrheit, die wenig hilfreich ist, das kommende Problem unter Kontrolle zu bringen. Unterschiede, die am Schreibtisch der politischen Rhetorik ersonnen werden, sind nicht das Papier wert, auf das sie geschrieben werden, noch sind die Mikrofone, in die sie gesprochen werden, mehr als willige Placebo-Zuhörer.

Sollte das Kalifat, durch die kräftige Mithilfe der Obama-Administration in Syrien und Irak an die Macht gekommen, schon 2017 besiegt und womöglich sogar vertrieben werden, ergibt sich für Europa nicht nur das Problem eines langwierigen und unberechenbaren Guerilla-Krieges durch Rückkehrer und Gefährder. Schon die zaghafte und verunsicherte Wortwahl – „Rückkehrer und Gefährder“ – läßt erkennen, daß die Waffen der EU eher nur „Instrumente“ sind, über deren Einsatz Uneinigkeit walten wird. Und außerdem lösen Erfolge an der Front des Anti-Terrorkrieges nicht das Problem „Flüchtlingsursache“ in Syrien, weil die Schutzmächte den Massenmörder in Damaskus vor Strafe und Entsorgung bewahren.

Bei den zur Zeit (2017) stattfindenden „Friedensverhandlungen für Syrien (Astana, Zürich usf.) ist die EU nicht präsent, obwohl Millionen Flüchtlinge, die teils noch in Syrien ausharren, teils in den großen Lagern Jordaniens und des Libanon und der Türkei vegetieren, nach wie vor vom Magnet Europa und dem Supermagnet Deutschland „magisch“ angezogen werden. Wer ein „Willkommen“ nicht glaubhaft widerruft, kommt zwar als „„Mutter Theresa““ aller Flüchtlinge dieser Erde zu angesehenen Ehren und darf den moralischen Weltmeister spielen, aber das Echo des Willkommens hallt nach und weiter und torpediert alle Versuche, eine konsensfähige EU-Asylpolitik zu finden.

Leo Dorner, Jänner 2017