Categories Menu

4 Zur Enddefintion von Musik als Kunst

A.

Die ästhetische Moderne war und ist überzeugt, daß Musik als große religiöse und große autonome Kunst jederzeit möglich ist; mehr noch: daß Musik in der Moderne, also seit dem 20. Jahrhundert, größere Kunst denn je hervorbringen kann, weil die Bedingungen ihrer Existenz, die Voraussetzungen ihres Schaffens erstmals vollkommen freie geworden sind.

Die Gegenmeinung dieser Meinung folgt einer logischen Negation in der Sache: diese meint, das vollkommen Unabhängige mache eben das unmöglich, was die moderne Meinung als möglich behauptet. Zwei entgegengesetzte Deutungen, deren Gegensatz nicht „umstrittener“ sein könnte, und der dennoch kein öffentliches Interesse erregt, weil in der Moderne evident zu sein scheint, daß ohnehin jede Epoche und Gesellschaft jeweils neu und jeweils für sich selbst zu definieren habe, was Größe in und durch Kunst sein kann und sein soll.

Auf den philosophischen Punkt gebracht, lautet das Problem: entweder ist das Kunst-Ideal der Musik ein grenzenlos offenes und zu steter Erneuerung und Fortentwicklung befähigtes und berufenes, oder das Kunst-Ideal der Musik ist eben dies genau nicht – seine geschichtliche Entwicklungsgröße wäre begrenzt und endlich. Ein Epochenthema mithin, das gleichwohl nur selten die Bühne der Öffentlichkeit moderner Gesellschaft erreicht, weil mittlerweile bereits das ökonomische Existieren von Musik als unabhängiger Kunst in die Krise geraten ist. Wer mag hier noch über die Größe der Größe, über die Bedeutung der Bedeutung von Musik als Kunst für die moderne Gesellschaft plaudern?

In der modernen Gesellschaft herrscht Konsens über die Unverzichtbarkeit von Kunst, solange nicht die Verarmung von Staat und Gesellschaft durch das Versiegen der Wohlfahrtsquellen dazu zwingt, zuerst auf die Kulturgüter auch der Kunst und Kunstbetriebe zu verzichten, weil zuerst die Luxusgüter über Bord zu werfen sind, wenn das Schiff unter der Last seiner Bürden zu sinken droht.

Tritt dieser dramatische Fall ein, scheint sich plötzlich herauszustellen, daß allein die Künstler ihrer Kunst von der Größe und Bedeutung ihres Tuns und Schaffens eine Größe und Bedeutung erwarten, die für das Leben und Gedeihen der modernen Gesellschaft unverzichtbar sei. Ihr Weinen und Klagen läßt jedoch alle anderen kalt und ungerührt, als erwarte niemand sonst ein Großes und Bedeutendes, ein Unverzichtbares und Unersetzbares, das aus dem Leben der Kunst in das eigene Leben zu importieren wäre.

Angesichts dieser ambivalenten Situation: auf der einen Seite Konsens, auf der anderen Seite Gleichgültigkeit und Überlebenskampf, kommt dem Durchdenken der Gegenmeinung, die Größe von Musik als Kunst könnte eine längst erschöpfte, weil geschichtlich begrenzte Größe sein, lediglich der Rang eines spielerischen Durchspielens einer möglichen Möglichkeit zu. Die Selbstgewißheit der ästhetischen Moderne, ihre Gegenmeinung nur als Spiel gewähren zu lassen, kann freilich ihre Angst vor diesem Spiel nie ganz überdecken. Wer selbst sein Posthistoire ausgerufen hat, ist nicht mehr so vermessen wie in den Jahren seiner heroischen Jugendlichkeit.

 

B.

 

Die Gegenmeinung unterstellt als Fazit ihrer Submeinungen, daß Musik, die als große religiöse und schließlich autonome Kunstmusik möglich war, dahin gegangen ist, weil die absoluten Inhalte und das System ihrer Manifestationsweisen prinzipiell erschöpft und ausgeschöpft seien. Zwar könnten diese Inhalte und Weisen ihres Erscheinens stets noch weitere Interpretationen – musikpraktisch und musiktheoretisch – erfahren, eine sekundäre, weil nachschöpferische Manifestationsgeschichte, die gleichwohl den Rang einer primären – weil vom ursprünglichen Bedürfen der Entstehungszeit befreiten – Wirkungsgeschichte besitzt, aber die Inhalte und die Formen des Idealwesens wären zur Gänze erschienen, weil Musik als Kunst geleistet habe, was sie leisten konnte und sollte.

Somit stünde die Enddefinition von Musik als Kunst bereits ungeschrieben fest, und wir hätten sie nur noch aufzufinden und aufzuschreiben. Wir hätten die gängigen Definitionen nur ein klein wenig und doch ums Ganze umzuschreiben, um jene Letztdefinition zu gewinnen, die alle Gestalten der Musik als Kunst: ihre Epochen und deren Stile, ihre Komponisten und deren Werke als offenbarte Manifestation des universalen Ideals erkennte und definierte. Und erst in der Perspektive dieser Definition könnten wir auch erkennen, welche Aufgaben der Musik als moderner Kunst zukommen können und sollen; ebenso: welche Grenzen die scheinbar grenzenlos entgrenzte umstellen.

Das Oratorium Händels, die Passion Bachs, die Oper Mozarts, die Sinfonie Beethovens, um nur diese Ikonen der Manifestationsgeschichte anzudeuten, sind bereitwillig verfügbar, noch unzähligen Interpretationen neue Seiten ihres Schatzes zu eröffnen; dennoch können sie die Sinnstelle ihres absoluten Gewordenseins im Sinnkontinuum von Musik, die einmal auch freie Kunst werden sollte, nicht tauschen, nicht wechseln und auch nicht verändern.

Wäre der kontingente Blick auf sie wirklich sinnvoll – und nicht bloß unterhaltsam – möglich, den unsere modernen Konzertprogramme unterstellen, indem sie jedes nur mögliche und unmögliche Zusammenstellungs-Arrangement der Werke Abend für Abend erwürfeln, wäre das Kontinuum der Musik als Kunst-Geschichte so gebrochen wie unser Blick auf es. Es wäre nicht der ordo einer irreversiblen Chronologie, nicht eine vom Wesen des Ideals gesetzte Chronologie.

Daß jede Stufe der absoluten Chronologie empirisch aus der sozialen und kulturellen Substanz einer Epoche, ihrer Kollektive und Individuen hervorgehen muß, konkret: aus der Verschworenheit ihrer Eliten mit jener ihrer Künstler, muß nicht geleugnet werden, im Gegenteil: gerade das Herauswachsen einer absolut stimmigen Kunstmusik erfolgt unabdingbar aus ihrer anfänglich religiösen Bestimmtheit und Berufung. Schon in Liturgie und Gottesdienst sollte eine stets bessere Musik Statthalterin des je gegenwärtigen Glaubens der Gemeinde sein.

Weil die Chronologie am doppelten Faden ihrer Verwirklichung hängt: am relativen der Zeiten und am absoluten des Ideals, ist dieses Kernstück jeder Enddefinition von Musik als Kunst unhintergehbar. Sie konnte nur einmal werden und daher nur einmal sein.

Der Komponist X und seine Zeit: das absolute Paradigma der Musikhistorik; das Werk Y des Komponisten X und meine Interpretation: das absolute Paradigma jedes Interpreten von heute und morgen; doch beide Paradigmen relativieren sich im absoluten des erkannten Ideals: letzte und erste Wirklichkeit von Musik als Kunst.

 

C.

 

Folglich sind auch die Kriterien der Rationalität jener Mehrstimmigkeit, die im Hochmittelalter einsetzte, nicht allein relative, sondern absolute gewesen; sie waren nur dem Christentum gegönnt, nur ihm eine Musik möglich als Ausgestaltung von religiöser Liebe zu musikalisch adäquater. Nur ihm eine permanente universale Selbstkorrektur in Form und Material, in Inhalt und Ausdruck der Musik möglich, die zugleich den Gang der Musik zu ihrer Befreiung als Kunst konstituierte und lenkte.

Anfangs schien das Christentum mit seine vergleichsweise statuarischen Chorälen lediglich berufen, das unselbständige Musizieren aller außereuropäischen Kulturen nachzubilden. Und erst am Ende des erfüllten Chronos der Musik ist jene Gleichberechtigung aller Musik-Kulturen eingetreten, die unausweichlich mit einem Ende aller universalen Rationalitätskriterien für Musik als mehrstimmigkeitsfähiger Kunst einhergehen mußte.

Der Versuch der heroischen Moderne einer neuen Musik am Beginn des 20. Jahrhunderts, die Rationalitätskriterien des Musikalischen, auf eine nochmals höhere Ebene von Mehrstimmigkeit zu heben und auf eine nochmals tiefere zu gründen, mußten scheitern, weil man nicht haben kann, was nicht zu haben ist.

Ist aber in den Grundformen und Grundmaterialien kein neuer Logos für eine neue Musik als neue Kunst zu entdecken, dann ist eben dies ihr Begriff und ihr neues Wesen, nicht mehr als vielstimmige möglich zu ein. Der musikgeschichtliche Beweis für das Ende des zu Ende definierten Wesens von Musik als universaler Kunst. Sie ist nun Kunst, vollends befreite, aber wesentlich wesenlos; ihre Nominalität ist universal geworden, ihre irratio deren ureigene ratio.

Diese sich permanent widersprechende Definitionsweise entspricht einer sich selbst permanent widersprechenden Sache. Deren unwidersprüchliches Wesen hingegen ist ein wesentlich vergangenes geworden und nur mehr als vergangenes vergegenwärtigbar. Wir sind Erben von Verstorbenen, nicht mehr aufgerufen, Tradition als primär schaffende weiterzuführen.

Jede historische Interpretation, die meint, sie könne vergangene Musik als unmittelbare Gegenwärtigkeit der Vergangenheit wiederbringen, übersieht, daß alle unsere Unmittelbarkeiten durch den Bruch des Endes vermittelt sind. Wir würden das Vergangene nicht erinnern und wiederaufführen müssen, wenn es nicht vergangen wäre.

Der Endbruch im Gang der Musikgeschichte zeugt daher von einem letzten Differenzbruch im Begriff der Musik selbst; ihr Kunstcharakter ist absolut freigesetzt, und diese Freiheit hat den Musikcharakter der Musik gleichsam überholt. Als wohne sie ihrem eigenen Begräbnis bei, ist ihr zumute, wenn sie vom unterhaltsamen Ton in den radikal modernen wechselt, wenn wir von einem Popkonzert mit Grönemeyer in ein modern art concert mit Lachenmann wechseln.

 

D.

 

Wie sich die Zukunft zur irreversiblen Chronologie der Musik als Kunst stellen wird, muß nicht unsere Sorge sein; ebenso nicht, ob sie überhaupt nochmals zu erkennen das Bedürfnis haben wird, daß die absoluten Entwicklungsstufen fortschreitende Selbstdefinitionen ihres Ideal-Wesens waren und sind. Unzählig die modernen Versuchungen, Stücke aus dem Gang herauszubrechen und für eigenen Zwecke von heute und morgen zu verbrauchen.

Solange das Ideal die Beziehungen von Form und Material und dieser beiden zu den Inhalten zusammenhielt und regiert, war hoher und affirmativer Ausdruck möglich: objektives Pathos in freier Unschuld und scheinbar unverschleißbarem Verschleiß der Mittel.

Weder das Material als solches, noch die Form als solche, noch auch individuell partikulare Inhalte waren das treibende Movens der Entwicklung, denn immer schon hatte das Ideal die speziellen Entwicklungen ebenso angefacht wie zusammengehalten: in jeder Gattung waren Vollendungen möglich, die auf nichtpartikularen Inhalts-Kriterien beruhten.

Und jener Geist, der die Momente von Material, Formensetzung und darzustellenden Inhalten per principium individuationis absolut zusammenhielt, hielt auch die Agenten der Durchführung zusammen: Komponist, Musizierende, Hörgemeinde. Eine quasinatürliche Gemeinde, der Musik als ihre eigene Natur erschien, in die gleichsam geschichtslos hineinkomponiert und hineingehorcht wurde, indes doch nur spontan in die Zukunft weiterkomponiert wurde, weil die je aktuelle Musik nicht nur als einzig zeitgemäße, sondern auch als die beste aller bisherigen erfahrbar war.

Eine sich von Stufe zu Stufe erweiternde Natur der Musik – die daher den Kampf der antiqui gegen die moderni nach objektiv erfolgreichen Kriterien auszutragen hatte, weil das Moderne stets der neuen Stimme des Ideals folgte – bedingte, daß in der je aktuellen Musik die vergangenen aufgehoben und verschwunden waren – ein Überbietungsprogramm, das den Kult an vergangene Musik, der erst mit Beethovens Tod fulminant einsetzte, verbot und jenseits des Horizontes der Zukunft hielt.

Ist aber alle Natur durch Kunst herausgesetzt, ist sie als gesetzte Natur durchschaubar und durchhörbar geworden, erst mit diesem Vollendungs- Ende der Musik als Kunst beginnt ihr universales auch als Musik. Größere Freiheit war in Musik nicht möglich, und weil sie dennoch wirklich wird, büßt die moderne Musik diesen Sündenfall mit der Zerbrechung ihrer universalen Substanz und Sprachfähigkeit.

Erst jetzt ist es endgültig vorbei mit der Möglichkeit, Musikgeschichte als sich ausdifferenzierende und sich aussprechende ars scientia zu gestalten und zu begreifen. Musik definiert sich gleichsam nicht mehr selbst, weil ihr universales Selbst teils individualistisch zerfallen, teils massenhedonistisch verdorben ist; neue universale Verfahrensweise in Stil- und Werkebildung, die unwillkürlich als richtige und notwendige Setzungen eines unschuldigen Pathos und einer affirmativen Katharsis erfahrbar wären, sind unmöglich geworden.

Der Zersprung im Wesen der Musik kulminiert im musikgeschichtlichen Sprung des vormodernen in das moderne Ideal von Musik, das schon den unmittelbar verständigen Wortsinn des Wortes „Ideal“ unter Anführungszeichen setzen muß. Ist aber kein Ideal mehr, ist doch keines mehr da: die Absenz ist zum Ideal geworden, und diese ist omnipräsent.

Der Auseinanderbruch der wirklichen Einheit erfolgt im 20. Jahrhundert auch augen- und ohrenscheinlich – nach zügiger Vorbereitung durch das 19. Jahrhundert. Denn die Selbsttrennung der Musik in Musiken von A-, E- U- Musik ist unaufhebbar geworden, jedes Cross-Over der Trennungsarten bestätigt nur deren frei-getrennte Existenz. In der Mitte der modernen Gesellschaft hat sich weltweit das Imperium der U-Genres festgesetzt, an den Rändern die zerbrochene Kampfeinheit von antiqui und moderni: beider Marginalität steht extrem ungleich zu den Bedürfnissen der modernen Eliten nach Musik als Kunst.

Alle drei sind unausweichlich und einander scheinfriedlich gesellt: die Erinnerung an gewesene, die Schaffung von neuer, die Dauerpräsenz von unterhaltender Musik. Einzig die als museal verschrieene Wiederaufführungsgeschichte des vormodernen Ideals bringt das zu Ende geführte Ideal von Musik als Kunst in das Pantheon einer sich museal wissenden Gegenwart zurück.

Aber unter den Bedingungen extremer Moderne ist auch das Museale das Gegenteil seiner selbst, nur möglich als dieses Gegenteil: als letztes absolutes Leben letzter absoluter Kunst. Und Gralshüter werden sich stets wieder finden lassen.