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36 Die Weltheimat des neuen Weltbürgers

I.

 

Unter politischen Denkern und solchen, die sich dafür halten, wird das Wort Heimat nur noch unter Anführungszeichen geführt. Dies gilt analog für alle politischen Parteien, die sich dem Mainstream der Zeit verpflichtet wissen. Aus Heimat wurde „Heimat“, wobei die Anführungszeichen nicht ein tabuisiertes („politisch inkorrektes“) Wort markieren – wie Neger, Indianer, Eskimo und Zigeuner – sondern einen Begriffsinhalt, der nur noch unter der Alarmglocke Anführungszeichen verwendet werden soll.

Das neue Vorurteil grassiert flächendeckend: Die Sache Heimat ist keine mehr, daher darf ihr alt und komisch gewordener Name nur noch unter dem anprangernden Vorzeichen der Kritik, der Ironie, der zynischen Verlächerlichung und Aburteilung verwendet werden. Wer dieses Wort dennoch ohne Alarmzeichen verwendet und damit seinen Glauben an eine mögliche oder wirkliche Heimat bekennt, für den muß man sich fremdschämen.

Der bisherige Begriffsinhalt, wonach jedem Menschen eine, nämlich seine Heimat weder abgesprochen noch verdächtig gemacht wurde, etwa dem Schweizer die seines Landes und seiner Kultur, und innerhalb der Schweiz nochmals jedem Kantonisten seine wiederum eigene Heimat, sei unter den heutigen Umständen totaler und totalitärer Globalisierung hinfällig und obsolet geworden.

Obwohl das traditionelle Heimatleben und Heimatvertrauen immer noch in mehr oder weniger allen Staaten und Kulturen und nicht zuletzt Sprachen (immerhin noch 6000) der gegenwärtigen Menschheit zahlreiche Anhänger finde, habe es, wie das aktuelle politische Denken der globalistischen Elite verkündet, seine Daseinsberechtigung verloren und sei daher zu bekämpfen und schleunigst zu „entsorgen.“

Im zeitgemäßen Stummel-Jargon der Journaille von heute: Die alte Heimat war gestern, und die neue Heimat ist schon da, und nur Ewiggestrige haben weder dieses noch jenes erkannt. Das Wort „Heimaturlaub“, einst ein Wort der Vorfreude auf ein Wiedersehen mit der Heimat für alle, die in der Fremde leben und arbeiten mußten, hat seinen bisherigen Sinn umgekehrt. Nimm Urlaub von der alten Heimat, die neue Heimat ist überall.

Auch der angestammte Schweizer wird schon bald erkennen, daß seine Heimat nicht bei ihm daheim, sondern anderswo und überall zu finden ist. Der ganze Globus sei Deine neue Heimat, die ganze Erde ruft Dich verlockend und unwiderstehlich. Was bis jetzt nur eine Parole der Propaganda-Prospekte des globalen Tourismus war, soll ab sofort politisches Weltprogramm sein.

Jeder Mensch, er mag geboren und aufgewachsen sein wo auch immer, ist durch das neue Menschenrecht auf globale Heimat als Weltheimatbürger willkommen und anerkannt. Daß diese Utopie einen existierenden Weltstaat voraussetzt, scheint deren Vordenker und Durchsetzer nicht zu bekümmern. Man muß daher kein Prophet sein, um der wagemutig ausgerufenen neuen Menschheit heftige Geburtswehen vorherzusagen.

Es ist noch nicht lange her, daß das Projekt einer anderen neuen Menschheit an seinen Widersprüchen und am Widerstand der nicht folgewilligen „alten“ Welt und Menschheit scheiterte. Das Proletariat sollte das neue Subjekt der Weltgeschichte sein, die Vereinigung der Proletarier aller Länder sollte eine Weltgesellschaft gründen, die vielleicht auch die Gründung eines Weltstaates durch und für die neuen Arbeiter- und deren Parteieliten überflüssig machen könnte.

Wo Honig und Wein fließen und die humanste Solidarität, die je in der Weltgeschichte erblickt wurde, lückenlos praktiziert wird, ist ein Staat, und sei es ein Weltstaat, eine altgewordene bürgerliche Idee, eine ewiggestrige Zwangsvorstellung, nichts als ein ideologisches Produkt des unbelehrbaren Weltkapitalismus. Ein erfolgreich und „nachhaltig“ existierender Weltkommunismus sollte schaffen können, was alle vorkommunistischen Kulturen und Gesellschaften nicht schaffen konnten.

 

II.

 

Da diese Strömung und Mentalität der altgewordenen Linken immer noch nicht ausgestorben ist – „anti-globalisation“ ist das Herz ihrer Ideologie – hat sie mit ihren Freunden von der „neuen Linken“, wie man die Träger und Führer des neuen Menschheits-Projektes provisorisch nennen könnte, einen ungelösten Streitfall anhängend. Diese umgekehrt auch mit jener: Altlinke versus Neulinke zeigt eine Bruchstelle der Weltgeschichte an, die je nach Deutung entweder die Geburt einer neu vereinten Linken oder doch nur das genaue Gegenteil einer Geburtswehe anzeigt: die gesteigerte Erosion einer ehemaligen Menschheitsideologie durch unaufhaltsam fortgesetzte Spaltung und Verwerfung.

Zwar läßt sich der aktuelle Weltflüchtling über den Daumen ganz leicht als neuer Weltproletarier behaupten und zuordnen. Aber in diesem (Deutungs)Fall wären die berüchtigten „Fluchtursachen“, um deren Beseitigung Europa vorschützt, sich ganz besonders zu bemühen, selbstverständlich nur eine einzige: der westliche Kapitalismus und sein Kolonialismus – und nicht die erodierende Kultur der islamischen und afrikanischen Staatenwelt.

Deren Erosionsprozeß wäre ein vernachlässigbarer Nebenschauplatz der Geschichte, eine sekundäre Front, nicht die primäre, die dringend gebietet, zuerst den Kapitalismus zu beseitigen, weil alles Weitere dann wie von selbst erfolgen und fallen wird: Zuerst die USA, um die erloschene Stafette ihrer hinfälligen Pax americana durch eine neu befeuerte Friedens-Stafette der Weltretter-EU zu ersetzen. Und rückt in naher oder nächster Zukunft der tausendjährige Weltfrieden in greifbare Nähe, kann auch das neue Menschheitsprojekt in Ruhe und Frieden zu Ende geführt werden.

Ist das Illusionäre der altlinken Ideologie verhaltensauffällig, ist das Dogmatische der neulinken Gegenideologie, die das No-Border-Prinzip weltweit durchzusetzen versucht, mit jugendlicher Frische gesegnet. Ihre Anhänger sind global „vernetzt“, man kommuniziert bevorzugt in den „social media“ der digitalen Welt, der neuen Jugend gehört die neue Welt. Wozu noch Nationalstaaten in dieser schönen neuen Welt? Die Dresdner Stadtmusikanten haben bewiesen, daß man eine Mauer zwischen den USA und Mexiko musikalisch zum Einsturz bringen kann. Daß diese Mauer noch nicht existiert, verursacht in der digitalen Welt kein Realitätsproblem.

Wer Mauern und Grenzen errichtet, ist bei dieser neuen Jugend „unten durch.“ Ein Europa, das nicht bereit oder willens ist, die mittlerweile durch einige Nationalstaaten (lückenhaft) geschlossene „Balkan-Route“ der Migrationsströme wieder zu öffnen, ebenso Nationalstaaten, die an ihren Grenzen Polizeikontrollen durchführen, um die globale Schleppermafia zu bekämpfen, erregen den Zorn und entschlossenen Widerstand der neuen Jugend des neuen Europa.

Die Unmenschlichkeit der existierenden Nationalstaaten schreie zum Himmel der neuen kommenden Welt und ihrer grenzenlosen Freiheiten. Und deren Kommen ist selbstverständlich unaufhaltbar, – wieder einmal hält ein zwingend erkanntes Gesetz der Geschichte ihre Gläubigen in Bann und Euphorie. Wer diesen Zug jetzt nicht besteigt, wird bald zu den Zuspätgekommenen der Geschichte zählen.

Schon als die damalige Regierung der USA auf die Anschläge vom 11. September 2001 mit der Gründung einer „Homeland Security“ reagierte, wurde dies in Europas Medien fast durchwegs verurteilt. War Europa insgeheim bereit, den Jihadisten von Al Kaida ein europäisches „Asylrecht“ zu gewähren? Nach alter nationalstaatlicher Logik ist das Gegenteil vernunftgeboten: Ein Staat, der auf wirksame Kontrollmaßnahmen verzichtet, gibt zu erkennen, daß er entweder gefahrenblind oder/und als politischer Selbstmörder agiert.

Aber wie steht es eigentlich um die anderen, die nicht-europäischen Nationalstaaten? Gewiß hat die neue Jugend des neuen Europa auch auf diese Staaten ein globales Auge geworfen. Mag die Unmenschlichkeit der europäischen Nationalstaaten zum Himmel der kommenden Menschheit schreien, und daher selbstverständlich auch die des Großen Bruders überm großen Teich, der noch dazu den Weltpolizisten zu spielen wagt(e). Aber wie steht es um die „Menschlichkeit“ der anderen Nationalstaaten in den anderen Kontinenten und Kulturzonen?

 

III.

 

Stolze 193 Mitgliedstaaten haben die Charten der höchsten Institution der gegenwärtigen Menschheit unterschrieben, und deren Hüter achten streng darauf, daß Teilstaaten, die abtrünnig wurden (Kosovo) oder unter dem „Patronat“ Rußlands (Abchasien, Südossetien usf.), der Türkei (Nordzypern) oder anderer mächtiger Mächte (China) stehen, nicht als Nationalstaaten anerkannt werden. Und daß ein religiöser Staat, sei es das Kalifat des Islams in Irak und Syrien, sei es der Vatikan in Rom, keiner Anerkennung als Nationalstaat bedarf, ist evident: Gottesstaaten folgen eigenen Regeln von Begründung und Anerkennung.

Angesichts der 193er-Liste wird schon manchem No-Border-Aktivisten mulmig zumute geworden sein. Doch wird er zugleich seiner Weltrevolution vertrauen und alle Zweifel spontan beiseiteschieben: Hat das neue Europa nicht die ehrenvolle Aufgabe, den anderen Kontinenten voranzugehen? Als Avantgarde der künftigen Menschheit, als Vorreiter und Weltrevolutionär, als leuchtendes Vorbild bei der Ausdünnung und Abschaffung aller Nationalstaaten? Und wird er bei seinen Aktivitäten nicht auch vom UNO-Flüchtlingshilfswerk und vielen NGOs unterstützt und anerkannt?

Millionen Menschen hoffen in den Flüchtlingslagern im Nahen Osten und in Asien sowie in Afrika (Kenia, Libyen), und dazu kommen noch weitere Millionen und Abermillionen, die in den Slums und Dörfern der Dritten Welt als „Wirtschaftsflüchtlinge“ auf Überfahrt nach Europa warten. Das UNO-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) wird nicht müde, zu einer „gerechten Verteilung“ und „gelingenden Integration“ aller Flüchtlinge aufzurufen.

Und obwohl die Appelle der UNO vordringlich an die (noch) zuständigen Nationalstaaten gehen, wissen sich die No-Border-Aktivisten einer utopischen Weltgemeinschaft verpflichtet, die alle Grenzen der Nationalstaaten „eigentlich“ schon hinter sich gelassen hat. Wer jetzt noch nationale Grenzen schützt, ist von gestern und hat den Zug in die alternativlose Zukunft verpaßt.

Dieser Justament-Imperativ der neuen welterlösenden Ideologie muß bei den weit über hundert nationalstaatlichen Grenzkonflikten in der gegenwärtigen Welt zu erheblichen Widersprüchen führen. Da ihre Ideologie kein Tribunal zur Entscheidung der Konflikte (Kurdistan, Kaschmir, Timor, Kosovo, Nordirland, neuerdings Katalonien usf. usw.) sein kann, könnte sie immer nur behaupten, sie wisse, wer in jedem Konfliktfall der Klügere zu sein und nachzugeben habe.

Wäre die No-Border-Logik universal, müßten deren Vordenker und Aktivisten im Konfliktfalle Israel-Palästina beispielsweise einen Einheits-Staat oder besser noch einen Über-Staat oder auch ein internationales (UNO)Protektorat anstreben. Stattdessen wird mit unschöner Regelmäßigkeit das Mantra eines Rechtes der Palästinenser auf einen Heimatstaat unterstützt, während dasselbe Recht dem historischen und aktuellen „Zionismus“ verweigert wird. Aus Gründen deren Dürftigkeit zum Himmel schreit. Die Brille der neuen Ideologie ist dicht und undurchlässig für Widersprüche und Alternativen. Picot und Sykes waren gestern, NGO und No Border sind heute und die Zukunft von morgen.

Aber vielleicht gilt die No-Border-Logik wenigstens für die Inselstaaten unseres Planeten? Diese scheinen von der ewiggestrigen Not territorialer Abgrenzung befreit zu sein. Australien und Neuseeland, auch Madagaskar, Sri Lanka und großteils Japan und Kuba und erfreuen sich sogenannter natürlicher Meeresgrenzen. Als ob die angrenzenden Meere nicht gleichfalls streng nach nationalen und internationalen Gewässern geordnet wären. „Offene Meere“ scheinen auch für die sogenannten Inselstaaten keine vernünftige Alternative zu sein.

Die Weltrettungsinitiative made in europe steht offensichtlich auch nicht auf dem Programm der arabischen Welt, obwohl doch der überwiegende Anteil der Migranten der näheren und weiteren Heimat des Propheten entstammen. Um sie endgültig zu verlassen, oder um sie zu erweitern? Dieses alarmierende Spiegelbild ihrer eigenen No-Border-Politik sollte den Aktivisten zu denken geben. Jihadisten und Muslimbrüder sind in der Regel humorlos und nicht Teil einer globalen Spaßkultur. Unter islamistischen Vorzeichen geschieht eine ganz andere „Weltrettungsmission.“

Mit einem Satz: der Abgrund, der die Realität einer Welt aus vielen Nationalstaaten von einer Welt trennt, die „eigentlich“ schon ohne Nationalstaaten, somit als Menschlichkeitsstaat vulgo Weltstaat Realität sei, ist tief und groß: Eine gefährliche Grube, die nach Falle aussieht, – gestellt und gegraben von den beiden großen Unberechenbaren: Mutter und Vater Geschichte.

 

IV.

 

Besonders in Deutschland hat „Heimat“ eine traumatische, nicht nur politische Begriffsgeschichte hinter sich. Verständlich, daß vor allem deutsche politische Denker und Mentalitäten die Ausgrenzung oder Einhegung, auf jeden Fall aber Verdammung des grundsätzlich „faschistischen“ Begriffes „Heimat“ propagieren.

Von der Philosophie und nicht von der Politik forderte Martin Heidegger – schon vor seiner Aufnahme in die Nationalsozialistische Partei – „den Menschen von heute“ eine „existentielle Heimat” zu geben. Ein neues Existenzdenken sollte den modernen Menschen, zunächst in Deutschland, von seiner „metaphysischen“ oder „transzendentalen“ Obdachlosigkeit erlösen. Eine moderne Heimat für modern existierende Menschen schien möglich, Nietzsches Ausfälle und Ressentiments gegen den deutschen Spießer waren vergessen und vergeben. Ein Führungsanspruch der deutschen (Existenz)Philosophie somit, der dann durch den Führungsanspruch der siegreichen Partei und des siegreichen Deutschlands ab 1939 auch weltweit („global“) sollte verwirklicht werden.

Wer aber heute noch mit Heideggers Existenzdenken auf gutem heimischen Fuß lebt, muß sich den Vorwurf gefallen lassen, immer nur zur mythischen Schwarzwaldhütte unterwegs zu sein, um entweder über das “Geviert” zwischen Himmel und Erde oder über die geheimnisvolle Beziehung von „Wohnen und Bauen“ nachzusinnen.

Deutschland mußte bekanntlich bis 1871 ohne territoriale und politische Heimat auskommen. Der Westfälische Friede, der erstmals ein säkulares Europa von Nationalstaaten jenseits von Konfessionen und Konfessionskriegen konzipierte, hinterließ für die Konkursmasse des „Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation“ lediglich ein Trümmerfeld unzähliger Fürstentümer und machtbestimmender Reichsstände. Folglich mußte sich die deutsche Nation verspäten und der Strafe der Geschichte für alle, die in ihr zu spät kommen, anheimfallen. (Analog bezog sich Gorbatschows Bestrafungsthese auf die verspätete Reform seines Staates: Hätte die Sowjetunion ihren Kommunismus rechtzeitig reformiert, wäre der Weltkommunismus imstande gewesen, siegreich zu überleben und den kommenden kommunistischen Weltstaat friedlich vorzubereiten.)

1871 wurde das endlich vereinte Deutschland als Erfüllung eines mehr als zweihundertjährigen Heimatwunsches gefeiert und triumphal begrüßt. In Deutschland versteht sich, nicht im übrigen Europa. Eine Nation ohne gemeinsames Territorium bis ins späte 19. Jahrhundert mußte ganz besondere Heimatwünsche entwickeln, leidenschaftliche und fanatische, um das große Ziel ihrer territorialen und politischen Vereinigung zu erreichen.

Was im Mittelalter schon einmal existiert habe, das sei in der glorreichen Gegenwart als „Zweites Kaiserreich“ wiederauferstanden. Folglich wurde in großdeutscher Perspektive der Westfälische Friede als Schmach und Schmähung Deutschland gedeutet, – der Erbfeind Frankreich habe das Heilige Römische Reich deutscher Nation zu Fall gebracht. Eine Geschichtsklitterung, die noch die Begeisterung der deutschen Nation beim Eintritt in den Ersten Weltkrieg und später die antifranzösische Propaganda des Nationalsozialismus befeuerte.

 

V.

 

Die heutige „Heimatfrage“ der zu spätgekommenen Nation lautet bekanntlich: Soll Deutschland zur Weltheimat aller Flüchtlinge aller Flüchtlingsklassen dieses Planeten werden, und mit Deutschland zugleich halb oder ganz Europa? Wird eine „globale“ multikulturelle Zuwanderung mit anschließender multikultureller „Integration“ die erwünschte postnationale, die gesuchte „globale“ Weltheimat realisieren?

Soll demnach der Nationalstaat Deutschland, sollen alle Nationalstaaten Europas das Zeitliche so früh und so rasch wie möglich segnen, um die „abgehängte“ Zweite und Dritte Welt zu retten? Durch ein Asyl für Millionen, die als anerkannte Zuwanderer auch nicht mehr um eine neue Staatsbürgerschaft nachsuchen müßten, weil es keine mehr gäbe? Soll man sich an der Spitze der globalistischen Avantgarde an der großen Menschheitsrettung beteiligen und bewähren?

In welcher Schublade oder auf welcher Datenbank liegen die Entwürfe für eine „EU-Staatsbürgerschaft“? In keiner und auf keiner, könnten die EU-Behörden antworten, denn schon der Vertrag von Maastricht (1992) sah vor, was der Vertrag von Lissabon (2007) für alle EU-Bürger in den Rang einer Grundrechte-Charta erhob: Freie Bewegung im ganzen EU-Raum und aktives wie passives Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament sowie bei Kommunalwahlen am Ort des (je neuen) Wohnsitzes.

Ideologiefrei und realistisch gedacht weiß niemand, was auf dem Programm der künftigen Geschichte steht: Eine Erweiterung der nationalen Schneckenhäuser durch deren Zertrümmerung oder ein friedliches Ineinanderfließen vieler und aller Nationen, Kulturen und Religionen in den alt und morsch gewordenen Häusern der Völker der Vaterländer, von deren Vereinigung die schon lange verstorbenen Großväter Europas, Churchill und de Gaulle, einst träumten?

Skeptiker sehen den Untergang Europas voraus, Weltverbesserer und Weltretter naturgemäß das genaue Gegenteil. Im Auge dieser liegt weder eine Alternative noch ein unlösbares Problem vor: es genügt, das bisherige (nationale) Natalitätsrecht durch ein neues (globales) Natalitätsrecht zu ersetzen. Bislang wird aus dem Land der Geburt und der Familienzugehörigkeit der Neugeborenen deren Anspruch auf politische Rechte, beginnend mit einem Recht auf Leben bis hin zur vollständigen Staatsbürgerschaft begründet.

Die im „Heimatland“ Geborenen dünken sich daher zu authentischen Heimatgefühlen auserwählt. Ist diese Art der Auserwählung durch die nächste und letzte ersetzt, denn eine höhere, etwa eine galaktische, ist angesichts der Entfernungen in unserer Galaxie unwahrscheinlich, ist wahr geworden, wovon Komponisten und Päpste träumten und träumen: alle Menschen Brüder, jede Nächstenliebe für alle Menschen. Sind alle Menschen inkludiert, ist keiner mehr exkludiert. Der Familienstatus der Menschheit ist wieder erreicht. Ein Stamm, ein Land, eine Erde. Jetzt müssen wir nur noch das „Weltklima“ retten.

Als Hannah Arendt in ihrem Buch über “Human Condition” (1958) den Begriff der „Natalität“ einführte, stand sie teils noch unter dem Eindruck der Menschheitskatastrophen Weltkrieg und Holocaust, teils aber auch schon eines vorweggenommenen Blickes auf die Erde aus dem Weltall: Die ersten künstlichen Erdtrabanten umrundeten die Erde, genug für eine Gründungslegende im Geist der Prophetie: Im vorgestellten „Blick von oben“ auf Erde und Menschheit waren alle Grenzen verschwunden, keine trennenden nationalstaatlichen Binnengrenzen sichtbar, stattdessen nur noch eine gemeinsame Außengrenze: die des Planeten Erde.

Die Stunde der Neugeburt einer vereinten Menschheit habe geschlagen, die neue planetarische Heimat bedürfe nur noch der politischen Verwirklichung. Dann sei auch das heilige Prinzip „Nie wieder Krieg“ und „ewiger Friede auf Erden“ vom Himmel der Utopie auf die Erde der realen Menschheitsgeschichte niedergekommen. Daß die heutigen globalistischen Eliten im Dunstkreis dieser Utopie denken, beweist ihre globalistische Umdeutung der Menschenrechte: Da dem Prinzip „Natalität“ (letztlich: Weltbürger) bis heute keine verbindlichen Gesetze folgten, die es mit konkretem Inhalt und durchsetzungsfähiger Form hätten erfüllen können, könnte ein grenzenloses Gastrecht für jeden Menschen dieser Erde eine geeignete Vor- und Übergangsphase sein. Jedenfalls sei man dem anvisierten Ziel: eine Erde für eine Menschheit noch nie so nahe gewesen.

Zwar existierten immer noch „restriktive Maßnahmen hinsichtlich der Freizügigkeit des Wohnens und Bleibens“ in allen Staaten dieser Erde. Aber das „Recht aller Menschen“, jeden Ort auf dem Planeten als Heimat zu erleben und zu ihrer Heimat zu machen“, sei unaufhaltbar – ein „weltweiter Fortschritt.“ Und auch wenn die Realisierung des neuen Rechtes mit einer „Fülle, vielleicht sogar einer nicht zu bewältigenden Fülle von praktischen Problemen verbunden wäre“, ist Natalität – das „territorial nicht beschränkten Geburtsrecht“, der vorerst noch utopische Rahmen einer „neuen Form von Gerechtigkeit.“

(Hans Ulrich Gumbrecht: „Was „Heimat“ heute heißen könnte.“ FAZ, 23.9.2017. http://blogs.faz.net/digital/2017/09/23/was-heimat-heute-heissen-koennte-1343/)

Nichts rechtfertige die „Ausgrenzung von Migranten“, nichts rechtfertige die Existenz kontrollierter Staatsgrenzen, wurde nicht erst 2015 in der (noch) heißen Phase der Willkommenskultur Deutschlands verkündet.

Schon 2013 hatte der kanadische Politikwissenschaftler Joseph H. Carens in seinem „Plädoyer für offene Grenzen“ herausgefunden, daß die Grenzen aller Staaten dieser Erde „prinzipiell offen“ sein sollten, weil es freien Menschen zustehe, ihren „Heimatstaat“ zu verlassen, um einen anderen als neue Heimat zu wählen. Von diesem Heimatwechsler fehlt nur noch ein kleiner Schritt zum neuen Globetrotter als neuem Weltbürger.

Nach dem Weltproletariat der Weltglobetrotter: Warum sollte er nicht auch die neue Heimat zugunsten einer wieder anderen verlassen dürfen? Jedes Neue altert rasch und ein anderes Neues lockt verlockender. Wer jetzt nicht wandert, baut sich kein Haus mehr im Strom der neuen Völkerwanderung. Wie der Tourist aus allen Ländern als globaler Welttourist in alle Staaten und Kulturen einreist und als nomadischer Genießer kurz bewohnt, ähnlich und doch existentieller auch der neue Weltheimatmensch, – der endlich von den lästigen Grenzen unerträglich beengender Nationalstaaten befreite Weltbürger.

Die Rechtfertigung des Weltpolitik-Experten war schlicht und ergreifend: Gegen alle altgewordenen „Ausgrenzer“ (Staaten, Staatsregierungen, Staatsparteien) dieser Menschheit wurde die ebenso einfache wie klare Botschaft verkündet: „Wer für die Freiheit ist, muß konsequenterweise auch gegen jegliche Beschränkung der Freiheit, somit für offene Grenzen sein.“ Entgrenzte Grenzen lösen, was bisher unlösbar schien: Freiheit und Gerechtigkeit für alle und überall.

Offensichtlich ist die Menschheit zu allen Zeiten, besonders aber in Zeiten großer Krisen, Veränderungen und Entscheidungen für kollektive Dummheiten anfällig. Die je nächste Ideologie steht immer bereit, die nächste große Bauernfängerei zu organisieren und deren begeisterte Opfer als gehorsame Mitläufer zu versammeln. Die jeweils neue Menschheits-Ideologie erfaßt alle Schichten, sie durchquert und umfaßt den Planeten wie die seismischen Wellen eines globalen Erdbebens.

Vor 1917 wurde in ganz Europa, nicht nur im vorrevolutionären Rußland, die neue Botschaft, Privateigentum sei ein Verbrechen gegen die neue klassenlose Menschlichkeit, von einschlägigen Experten und Vordenkern verkündet und als schon bewiesen behauptet. Wer jetzt noch an das altbürgerliche Unwesen Privateigentum glaube, der sei ausgeschlossen aus der Partei des Fortschritts der Menschheit. Das Neue muß einfach und vielversprechend sein: Endlich eine neue Lehre unter der Sonne, der man sich wieder anvertrauen kann. Kein Privateigentum, – das war einfach und ganz neu; – keine Grenzen, das ist einfach und ganz neu.

„No-Border“ lautet 2013 die neue Botschaft der neuen Menschheitsrevolution. Und wer sich dagegen stellt, sei aus dem Bunde der edlen Brüder und Schwestern ausgeschlossen. Die globalistische Umdeutung der Menschenrechte ist in der Perspektive ihrer Anhänger eine gerechtfertigte, weil zu globaler Gerechtigkeit führende Erweiterung der Menschenrechte; in der Perspektive ihrer Kritiker ein neuerliches Schiffbruchunternehmen, das schon heute auf die Klippe unlösbarer Konflikte zusteuert und morgen in den Abgrund einer Katastrophe stürzen wird.

In der heutigen Realität werden beide Suppen, die verschiedener nicht schmecken könnten, vorerst nur gekocht. Weder die offene noch die geschlossene Lehre kann sich als allein entscheidende durchsetzen. Folglich resultiert eine schlingernde Resultante, die verzweifelt nach einer dritten, nach einem gangbaren Mittelweg sucht: „Asyl“ für alle, aber nur nach Auswahl und Kontrolle; Hotspots in Afrika und irgendwie überall außerhalb der Erste-Welt-Zielländer der globalen Migration; zwischen wirklichen und nichtwirklichen „Kriegsflüchtlingen“, zwischen sicheren und nichtsicheren Abschiebestaaten darf unterschieden werden.

Die EU verspricht, ihre Außengrenzen zu schützen; ein gemeinsames Asylrecht zu finden; überdies zwischen legalen und illegalen Migranten zu unterscheiden und sogar für Abschiebungen von Asylsuchenden werden Genehmigungen erteilt. Unwillig, aber gezwungen, sieht man den nationalen Grenzkontrollen zu, die viele Staaten im grenzbefreiten Schengenraum wieder eingerichtet haben, um der internationalen Flüchtlings-Schleppermafia Herr zu werden.

Maßnahmen über Maßnahmen, die allesamt dem Grundsatz „No-Border“ zutiefst widersprechen. Ein Widersprechen, das die Kämpfer und Dogmatiker der offenen Lehre teils hinnehmen, teils zu umgehen versuchen. Auch wenn die aktuelle „Weltgemeinschaft“ offensichtlich noch nicht bereit ist, ins Lager der neuen Menschheits-Ideologie zu wechseln, wird das Dogma festgehalten und die globalistische Umdeutung der Menschenrechte nicht in Frage gestellt. Denn ihre Vor- und Nachdenker sind sich gewiß: das Gesetz der Geschichte ist mit ihnen, eines Tages werden ohnehin NGOs die Regierungen der herkömmlichen Staatenwelt ablösen.

Früher lautete das erkannte Entwicklungsgesetz der Geschichte: die gesicherte Zukunft der klassenlosen Gesellschaft zieht die Bewegung der Geschichte seit dem 19. Jahrhundert wie ein Magnet hinter sich her. Heute lautet das neue Gesetz: die gewisse Zukunft der staatenlosen Menschheit hat uns ihren Auftrag erteilt, die Revolution hat begonnen. Beim Erreichen des klassenlosen Zieles sollte zugleich der Urkommunismus der frühen Menschheit wiederhergestellt sein. Ist die staatenlose Gesellschaft ein Nachfolger oder ein Blindgänger der klassenlosen Gesellschaft? Beide ermuntert(e) ein eschatologischer Glaube: der Wille zur Weltrevolution führt nur das erkannte Gesetz der Geschichte aus.

Seit den nationalen Staatsgrenzen der moralische Teppich unter den Füßen weggezogen wurde, stünden sie nun sinnlos in der Weite des Raumes und schützen und fördern nur noch jene, die ihr Land ungerechtfertigt geerbt haben. Schamlos nutzen sie ihre Erbschaft für ein besseres Leben zuungunsten der Ausgebeuteten und Unterdrückten dieser Erde.

Eine Ungerechtigkeit, die dem Prinzip der demokratischen Revolution offener Grenzen widerspricht, wonach alle Menschen gleiche Chancen haben, früher unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit, jetzt unabhängig von ihrer zufälligen Heimatzugehörigkeit.

Staatsgrenzen sind die letzten Enkel feudaler Klassenprivilegien, verkündet der kanadische Politikwissenschaftler, sie entbehren jeder moralischen Rechtfertigung und dienen nur noch illegitimen Erben. Sie sind antidemokratisch und unfrei, illiberal und selbstverständlich extrem „populistisch.“ Sie sind die letzte Bastion der ausbeuterischen Ausgrenzer, aber auch diese Bastille wird bald fallen und gründlich geschliffen.

Wenn alle Menschen gleichen moralischen Wert haben, müssen sie auch auf gleiche Lebenschancen Anspruch haben, unabhängig vom Zufall, durch den sie in falschen Ländern geboren wurden. Oder wie ein deutscher Politiker im Geist deutscher Gründlichkeit verkündete: „Kein Mensch ist illegal.“

 

Leo Dorner, November 2017