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28 Jihad-Weltkrieg

I. Wendejahr 2014

 

Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie kennt Analogien, Erinnerungen an vergleichbare Entwicklungen in ihrer Vergangenheit und vor allem die scheinbare Wiederkehr von Kollisionen zwischen Fortschritts- und Rückschrittsmächten.[1]

Seit 2014 fragt sich die Erste Welt, mit welcher Strategie die „Islamfaschisten“ des „Islamischen Staates“, der sich vorläufig als Nachfolgeorganisation von Al Kaida durchgesetzt zu haben scheint, bekämpft und besiegt werden sollen.

Mit der historisch vergleichenden Benennung der neuen Rückschrittsmacht erinnert die Erste Welt an ihre früheren Todfeinde, die gleichfalls bekämpft und besiegt werden mußten. Auch gegen Nationalsozialismus und Faschismus, ebenso gegen den sowjetischen Weltkommunismus mußten Strategien gesucht und gefunden werden, um das weltgeschichtliche Fortschrittswerk weiterzuführen. Das historische Erinnern und Analogisieren der strategischen Falken von heute zweifelt nicht an seiner Legitimität: Der „mörderische Wahn“ der neuen Rückschrittsmacht sei jenem der säkularen Ideologien des 20. Jahrhunderts vergleichbar.

Nach dem Ende des Kalten Krieges schien es undenkbar, daß wenige Jahrzehnte später ein radikalisierter Islam der Ersten Welt (wie auch Rußland und China) einen globalen Krieg erklären könnte. Teils tendierte die Zweite Welt noch in Richtung Sowjetunion und adaptierte kommunistische Partei-Ideologien, teils dominierten westliche Staatsformen in korrumpierter Gestalt (Monarchien und Diktaturen in vormodernen Stammeskulturen), von denen sich die ölreichen Staaten mit dem Westen und der gesamten nicht-islamischen Welt via Ölproduktion und –bedarf gewinnbringend arrangiert hatten.

Eine Situation, die noch anhält, obwohl sie nun durch das Erstarken des radikalisierten Islams wie der dadurch erfolgten Radikalisierung des islamischen Schismas in Frage gestellt wird. Vor diesen Radikalisierungen fehlte der islamischen Welt zum dauerhaften Glück im status quo lediglich die Erfüllung eines Wunsches: Das Verschwinden Israels von der Landkarte. Doch trotz mehrmals gescheiterter Versuche der islamischen Welt, den „kolonialistisch-zionistischen Dorn“ im islamischen Auge zu entfernen, stürzt nun auch der bisherige status quo der Zweiten Welt in sich zusammen.

Im Wendejahr 2014 wurde aus dem seit 2001 asymmetrisch geführten „war against terror“ ein erstmals symmetrischer Krieg der Ersten Welt gegen islamistische Kämpfer und „Märtyrer“, die sich großer Gebiete Syriens und des Iraks bemächtigen konnten.[2]

Sie beseitigten die bisherige Grenze zwischen beiden Staaten, die nach dem Ersten Weltkrieg von den europäischen Kolonialmächten England und Frankreich durch das Sykes-Picot-Abkommen gezogen worden war. Die eroberten Gebiete sollen als Territorium eines Islamischen Staates in der Levante dienen. Ein Name, der keinen Zweifel offenläßt über die Absicht der kühnen Staatsgründer.[3] Die Grenzen ihres Staates von Allahs Gnaden sollen nach Libanon und Jordanien, vielleicht auch in die Türkei ausgeweitet werden. (Rückeroberung Jerusalems und Befreiung Palästinas vom zionistischen Joch nicht ausgeschlossen.)[4]

Im Angesicht der den Westen offenbar überraschenden Katastrophe sucht nun die Erste Welt unter der geschwächten Führung der USA nach neuen Strategien und Allianzen, um der Eroberungswelle der islamistischen Staatengründer Einhalt zu gebieten. Sie sollen zurückgedrängt und auf kurze oder lange Sicht auch gänzlich entsorgt werden. Dazu freilich könnten „Luftschläge“ allein nicht ausreichen, wird die geschwächte USA allerorten belehrt und geradezu gehänselt.

Bisher wurde stets die „Dummheit der überall einmarschierenden und besetzenden USA“ weltweit gescholten, nun aber soll umgekehrt gelten: Nicht mit Bodentruppen einzumarschieren, sei Dummheit und ein Nullkonzept, dessen Folgen sich rächen würden.

Aber wäre es für die Erste Welt nicht besser und klüger, dem in Europa, besonders in Deutschland grassierenden Nichteinmischungs-Dogma zu folgen? Wäre es nicht besser, die Zweite Welt zweite Welt sein und bleiben zu lassen und auf ein langes Nichtwiedersehen sich zu verabschieden?

Doch im Wendejahr 2014 wurde einsichtig, daß die Geschichte über diese falsche Hypothese gleichfalls längst entschieden hat. Die Nachwirkung des Scheiterns der Arabellion auf die Erste Welt läßt sich nicht länger ignorieren.[5] Die erhoffte Zuschauerrolle Europas wurde als Illusion einsehbar. Hunderttausende Flüchtlinge jährlich sind Beweis genug, daß Nichteinmischung und Untätigbleiben immer schon ein Ding der Unmöglichkeit waren. Zudem ist der globale Arm des Jihad längst in Europa angekommen, wie Anschläge in der Ersten Welt (sowie in Rußland, China usf.) durch  vernetzte Terror-Zellen und „Rückkehrer“ aus den umkämpften Regionen der Zweiten Welt sowie „einsame Wölfe“ überall zureichend belegen.

 

II. Krieg und Transformation

 

Die triviale Einsicht, daß im Kampf gegen den islamistischen Jihad die militärische Option unausweichlich ist, gilt unbedingt sowohl für die Erste wie für die Zweite Welt, – für alle (noch) machthabenden Staaten und Regierungen der islamischen Welt.

Ebenso die politische Binsenweisheit, daß die militärische Option allein nicht zureichen kann, weil letztlich eine gesamtgesellschaftliche Transformation der Zweiten Welt – Entwicklung einer demokratiefähigen Zivilkultur –  Ziel des Kampfes sein muß.

Das Dogma einer gesamtpolitischen Transformation ist schwerwiegend und umstritten, sowohl in der Perspektive der Zweiten wie der Ersten Welt, wenn auch unter gegensätzlichen Prämissen. – Denn mit dem Anspruch auf Missionierung erhebt die Erste Welt einen Machtanspruch – an Wissen, an Rationalität, an Zivilisationskultur -, der das Selbstverständnis und den Stolz der Zweiten Welt – der islamischen Kultur insgesamt – außerordentlich verletzen muß. Und die Erste Welt schwankt bisweilen irritiert über der Frage, wie sie zwischen der Strategie der Missionierung universaler Vernunft und ihrer toleranten Huld für das Andere und Fremde vermitteln könnte, um einen vielleicht möglichen Mittelweg zu finden.

Die Entwicklung der Zweiten Welt sei gegenüber jener der Ersten Welt um etwa 200 Jahre zurückgeblieben – behaupten Pessimisten oder Realisten in beiden Welten. Im hinkenden Vergleich: Die islamische Welt würde in der Epoche vor den Jahren 1776 und 1789 verharren. Eine Behauptung, die in der Zweiten Welt Zurückweisung und Zweifel, Hohn und Wut sowie heftiges Gegenbehaupten erregen muß. Ein beleidigtes Zurückweisen, das der Ersten Welt beinahe schon die Wahrheit ihrer Behauptung beweist. Und eine westliche Zusatzbehauptung verstärkt: Die Zweite Welt könne die Prinzipien und historischen Prozesse, die den Vorsprung der Ersten Welt ermöglichten, nicht adäquat verstehen.

Ein Phänomen, das der Ersten Welt aus ihrer eigenen Entwicklung und Geschichte vertraut ist: Vor allem die katholische Konfession der christlichen Religion stemmte sich länger als ein Jahrhundert gegen alle Revolutionen und Evolutionen der Säkularisation durch die sich unübersehbar differenzierende Rationalität der westlichen Moderne. Wiederum im Vergleich gesprochen: Als hätte auch die islamische Welt einen Antimodernismus-Eid geschworen, obwohl sie zugleich nicht umhin konnte, viele Errungenschaften der modernen Wissenschaften und Technologien zu übernehmen. Eine äußerlich adaptierte Moderne, welche die schon vorhandenen Widersprüche in der Zweiten Welt verstärken und radikalisieren mußte –  jedenfalls nicht mit den angestammten Prinzipien des status quo aus der Epoche des Kalten Krieges zu lösen sind.[6]

 

III. Dialog und Diskurs

 

In der Perspektive der islamischen Welt präsentiert sich die Erste Welt als Usurpator einer universalen Vernunft, die sich als einzig zukunftweisende Gestalt von Rationalität  – als religionsneutral säkulare – geoffenbart habe.

Daraus folge, daß die islamische Kultur auf nicht rationalen Prinzipien rückständiger Unfreiheit basiere, – wie überhaupt eine noch durch Religion begründete Kultur historisch überholt sei. Deren menschenrechts- und freiheitsfeindliche Dogmen gefährdeten sowohl ihre eigene wie alle anderen Kulturen der gegenwärtigen Menschheit. Und unter diesem säkularen Dogma erkaufe sich der Westen einen von der Weltöffentlichkeit abgesegneten Missionierungsauftrag: Nimmer endende interventionistische Kriege und „Besatzungen“ in der islamischen Welt. (Sofern er nicht ohnehin nur auf das berühmte Öl der Zweiten Welt erpicht war und ist, wogegen der törichte Ruf aller westlichen Pazifisten bis heute erschallt: „Kein Blut für Öl.“)

Deutungen dieser Art, die bruchlos ins Fabelreich der Verschwörungsmärchen übergehen,  sind in der islamischen (sunnitischen wie schiitischen) Welt so zahlreich und alltäglich wie der Sand an den Küsten des arabischen Meeres. An ihnen läßt sich die Stolz-Verletzung der islamischen Kultur durch die westliche wie an einem politischen Mentalitätsbarometer ablesen. Wer sich als wahre Zivilisationskultur interpretiere, könne der islamischen nur den Status einer Irrationalitätskultur attestieren, deren Zeit abgelaufen sei.

Indessen gilt in Perspektive des Islams: Gegen die absolute Religion, die letzte, weil unüberbietbar vollendete (die islamische),  könne keine säkulare Vernunft bestehen; diese mag temporär Vorteile und „Vorsprünge“ gewinnen, doch wird sich Allah zur rechten Zeit der Seinen erinnern, um ihnen erneut zu großer, vielleicht zur Weltherrschaft  zu verhelfen. Nach einer langen Epoche von Strafe und Zerfall, Niedergang und Rückstand werde die Epoche einer glorreichen Wiedererneuerung demnächst beginnen.

Unnötig zu erwähnen, daß diese Überzeugung keineswegs nur die der Jihadisten an der Front des globalen Religionskrieges ist. Was diese „durch das Schwert“ erstreben, erhoffen jene –  die schweigende Mehrheit der moslemischen Massen und die Eliten ihrer auch politisch einflußreichen Geistlichkeit – durch die Macht und List Allahs auf anderen Wegen zu erreichen.[7]

Das religiöse und kulturelle Überlegenheitsgefühl des – von westlichen Lehren noch nicht unterwanderten – Islams ist ungebrochen, weil eine Religion des unüberbietbaren Gehorsams zugleich die eines unüberbietbaren Stolzes sein muß. Wer sich der vollkommenen Macht vollkommen unterwirft, partizipiert an deren Allmacht.

Dies ergibt eine asymmetrische Beurteilungslage von kaum zu überbietender Widersprüchlichkeit: Das Beste und Höchste, des Gottes eigene Religion und Kultur soll zugleich eine zurückgebliebene und unhaltbare geworden sein, eine, die durch eine säkulare, von Ungläubigen angeführte Kultur nach deren Prinzipien „transformiert“ werden soll.[8]

Über diesen Gegensatz zwischen Erster und Zweiter Welt pflegen sich die „Dialoge“ islamischer und christlicher Religionsführer bekanntlich wenig zu erregen. Sie setzen auf „Frieden“ in der Hoffnung, auf beiden Seiten würden die „Moderaten“ über die „Falken“ und Jihadisten obsiegen. Ein Verhalten und ein Hoffen, das dem Vorwurf der Realitätsverweigerung nur durch litaneihaftes Wiederholen friedlicher Dialog-Argumente zu begegnen pflegt. Wobei der wahre (durch westliche Einflüsse noch ungebrochene)Islam um die Ohnmacht des Christentums in der Ersten Welt und auch um den Wert des global-religiösen Dialogwesens Bescheid weiß.

Mögen sich die Religionsführer der monotheistischen Religionen („Dialoge“ zwischen jüdischen und islamischen Oberen sind riskante Ausnahmen) auch „auf Augenhöhe“ begegnen, in schönster Toleranz gegenseitiger Respektbezeugung, mehr als ein unverbindlicher Austausch von Freundlichkeiten kann „Dialog“ nicht sein.[9] Mit diesem honorigen Spiel der oberen Zehntausend der drei monotheistischen Religionen und ihrer nicht wenigen Konfessionen ist daher wenig gewonnen, – kaum mehr als eine (schein)heilige Galgenfrist.

Ersichtlich schon daran, daß der wahre Islam zu den säkularen Eliten und Mächtigen der Ersten Welt eine andere, eine ultimative Sprache spricht:  Solange die Erste Welt nicht anerkenne, daß auch der Islam auf Vernunft und deren Rationalität(en) beruhe, sei friedliche Gleichberechtigung der Kulturen unmöglich, der aktuelle Kulturkrieg zwischen Erster und Zweiter Welt nicht zu beenden und nicht zu befrieden. Eine ultimative Position, die nicht wenige Repräsentanten der christlichen Konfessionen teilen. Sie bewundern die ungebrochene Lebendigkeit des religiösen Lebens der islamischen Welt und möchten sich oft lieber mit dieser als mit der (speziell in Europa) agnostisch und atheistisch gewordenen westlichen Kultur vereinigen.

Daraus ergibt sich für beide Seiten ein je eigenes Dilemma. Wie soll die (menschenrechtlich verankerte) Vernunft der Ersten Welt mit der (offenbarungsdogmatisch verankerten) Vernunft der Zweiten Welt, und wie sollen die Mächtigen Allahs mit Ungläubigen kommunizieren können? Wie kann unter diesen Prämissen aus Dialog jemals Diskussion werden? Ein Austausch von Argumenten, deren Vernunftanspruch in Prinzip und Detail diskutiert werden muß, wenn zwei Welten direkt und unmittelbar kollidieren.[10]

Jene, die versuchen, die Kollision zu leugnen, sollten sich an dem Faktum, daß in beiden Welten je zwei Fraktionen über der Frage des Vernunftanspruchs brüten, eines Besseren belehren.  In der Ersten Welt haben wir einerseits die vernunftweiche Position der multikulturellen Fraktion, andererseits die vernunftharte Position der globalen Vernunftmoral universaler Menschenrechte. Die weiche Fraktion ist oft geneigt, den Anspruch der Ersten Welt zu relativieren, die harte Fraktion ist ungeneigt, die toleranten Spiele der Relativierung des eigenen Vernunftanspruchs mitzuspielen. Offensichtlich deuten beide Fraktionen die durch die politisch-rechtliche Moderne erlangte Religionsfreiheit, positive wie negative, ungleich. Und spiegelgleich existieren auch in der Zweiten Welt zwei Fraktionen, die den durch die Kollision der Kulturen bewirkten Bruch der eigenen Kultur bestätigen: Einerseits der fundamental-wahre Islam, andererseits der durch die säkularen Denkweisen der Ersten Welt angebröckelte Islam.[11]

Wenn daher die multikulturelle Fraktion westlicher Provenienz einen multikulturellen Weltfrieden ausruft und vorspielt, vom gemeinsamen Trommeln bis zum gemeinsamen Gebet, kann die fundamentale Fraktion des Islams daran nur teilnehmen, indem sie von ihrem wahren Selbstverständnis temporär abstrahiert und sich verstellt. Die säkulare oder halb-säkulare („angebröckelte“) Fraktion des Islams hingegen kann ohne Verstellung und Selbstverleugnung teilnehmen, weil sie schon des neuen Geistes halbes Kind zu sein wähnt. Beide Fraktionen harmonieren prächtig und eilen an der Front der Überwindung von „Fremdenhaß“ und „Islamophobie“ von Erfolg zu Erfolg. Ein religiöser Kulturkrieg zwischen Erster und Zweiter Welt scheint nur (mehr) in den Meldungen der Medien zu existieren; und er scheint von islamophoben Geistern des Westens herbeiberichtet zu werden.

Besetzen Irrtümer dieser Art die politische, gar die weltpolitische Bühne, sind gefährliche Irrwege unvermeidbar. In Sicht der unter Erdogan beinahe schon reislamisierten Türkei verdankt sich der islamistische Terror und die Gründung eines Gottesstaates in der Levante einer verfehlten Politik des Westens. Invasionen, Besetzungen und beleidigende Vorurteile und Unterstellungen hätten böse Früchte gezeitigt, wie sich nicht zuletzt an der Beseitigung der ägyptischen Muslimbrüder von den Hebeln der politischen Macht erwiesen habe. Auch verweigere der Westen dem „gerechten Kampf“ der Hamas gegen den „Terrorstaat“ Israel jene Unterstützung, die nötig sei, um das Übel des zionistischen Imperialismus ein für allemal aus der Welt zu schaffen.

Kündigt aber die Türkei die ihr zugedachte Vermittlerrolle zwischen Erster und Zweiter Welt, steht kein regionaler Ersatz zur Verfügung. Die Türkei des Jahres 2014, noch vor Kurzem als säkular-islamische Modelldemokratie für die Zweite Welt angedacht, droht die Früchte der Atatürk-Revolution – die einzige, die im 20. Jahrhundert in Europa zu glücken verdiente –  wieder zu verspielen und zu vernichten.[12]

 

IV. Zur Vorgeschichte des politischen Jihad

 

Die Versuche der sunnitischen Jihadisten unserer Tage, Gottesstaaten ausschließlich islamischer Fundamentierung zu schaffen, überschreiten den Versuch der status-quo-Despoten von einst und heute, unterm Banner der panarabischen Idee einen Universalstaat aller Araber zu gründen. Eine Überschreitung in verkehrter, in  Richtung fundamentalistisch verklärter Vergangenheit, weil nunmehr ganz ohne moderne politische Prinzipien das große Ziel einer universalen Vereinigung aller wahren Sunniten erreicht werden soll. Deren Quasi-Diaspora, verursacht durch die Konkursmasse-Verteilung des Osmanischen Imperiums durch westliche Kolonialmächte, sei nun glücklich zu überwinden und zu beenden. Und wie die Juden nach Israel heimkehren durften, entsprechend auch die Araber, – allerdings mit Jerusalem als gemeinsamer Hauptstadt aller Araber, realisierbar nach Beseitigung des Staates Israels.[13]

Denn auch die Gründung des Staates Israel sei als Folge jener Fehlverteilung der osmanischen Konkursmasse einsichtig, die Rückkehr der Juden in ihr vermeintliches Heimatland ein Werk des Teufels, wie schon die Vertreibung der Palästinenser aus ihrem arabischen Stammland bewiesen habe. Kurzum: Jerusalem als Zentrum eines globalen sunnitischen Kalifats, um an die Geschichte der glorreichen Kalifate von Anno dazumal anzuknüpfen. Obsolet die noch vor Kurzem fanatisch propagierten Ideen der parakommunistischen Baath-Parteien, obsolet alle zaghaften Ansätze zu einer demokratischen Zivilisationskultur in der islamischen Welt.

Diese Ideologie scheint überzeugend und daher ausführbar, stimmig und daher selbstbegründend, und eben dieser Schein ist zugleich ihr Verhängnis und Schicksal. Auch wenn ihr Dauer beschieden wäre, entweder in Scharia-Enklaven in einigen sunnitischen Staaten oder gar in einem grenzüberschreitenden Staat in der Levante oder in Afrika oder Asien, – das Ende des befristeten Dauerns ist absehbar, weil die verdunkelten Selbstwidersprüche der nur scheinbar kohärenten Ideologie nach und nach ans Licht treten müssen.

Es ist verständlich, daß vor allem Europa auf die Karte Säkularisierung setzt. Auf die Hoffnung, der Islam werde die Epoche der Vernunft-Aufklärung nachholen, langer Dialogtropfen werde auch den tausendjährigen Stein dieser Religion höhlen und beseitigen. Aus Dialog werde realer Diskurs zwischen Erster und Zweiter Welt werden, und am Ende nicht mehr nur für halbsäkularisierte Moslems, die die Vorzüge ihrer Emigrationsländer zu schätzen wissen, sondern auch in den Stammländern, sogar einschließlich Saudi-Arabiens und ähnlich fundamentalistisch organisierter Staaten der Zweiten Welt.

Die Weltgeschichte werde auf Kurs Weltrepublik bleiben und jede Kursabweichung Richtung Gottesstaat (und postkommunistischer Autoritätsstaaten wie China, Rußland, Nordkorea, Kuba und vergleichbare) rechtzeitig korrigieren. Und auch die schiitische Variante des islamischen Gottesreiches auf Erden werde eines Tages an den Freiheits-Klippen des voranschreitenden Weltgeistes zerschellen.

In Europa ist die Erinnerung an seine menschenverachtenden Religionskriege (in Mittelalter und Neuzeit) unvergessen und präsent. Verständlich, daß es nicht nochmals in religiöse Weltbürgerkriege hineingezogen werden möchte. Weder zuhause noch in fremden, aber benachbarten Häusern.

Diese Prophetie aus Hoffnung enthält eine unausweichliche Einsicht: Auch die multikulturelle (weiche) Vernunft des Westens kann sich letztlich nicht der Frage entziehen, ob die Grundprämissen des Islams mit den Grundprämissen der modernen rechtsstaatlichen Demokratie konsensfähig sind. Die moderne Religionsfreiheit muß negativ-affirmativ gedeutet werden: nur über den Differenzen der Religionen sowohl untereinander wie auch mit dem modernen Demokratiestaat, der Religion und Politik getrennt hat, ist dauerhafter Friede und globale Stabilität zu erreichen.

Ein multikultureller Staat, eine multikulturelle Kultur, die einzig einen unerschöpflich vervielfältigbaren Reichtum ihrer Vielheit zum gemeinsamen Kern hätten, wären eo ipso ohne gemeinsamen Kern, ohne gemeinsame Grundlage. Mag dieser auch im Denken aller Religionen als bloß menschlicher und gottloser bzw. zivilreligiöser denunzierbar sein, ist er doch die einzige Garantie, daß bei religiösen Kollisionen die Köpfe derer, die ihren Feinden vor die Füße rollen sollen, rechtzeitig zu retten sind.[14]

Doch spricht gegen den Kurs Weltrepublik, daß in den Augen der islamischen Welt die Erste Welt schon seit langem im Niedergang begriffen ist, ohne dies zu bemerken. Zum Beweis werden ritualisiert Verweise auf die beiden europäischen Massenmord-Ideologien sowie zwei Weltkriege mit Millionen Toten vorgebracht. Barbarische Rückschritte der Menschheits-Entwicklung, die sich der islamischen Welt in der modernen Geschichte nicht vorwerfen lassen, es sei denn, der Genozid an den Armeniern wäre vergleichbar anzuführen. Der fast unvermittelte Sprung vom letzten Sultanat in einen (halb)modernen Nationalstaat bewahrte die Türkei nicht vor den Barbaritäten eines säkularen Nationalstolzes, der bis heute im politischen Leben des Landes verstörend nachwirkt.

Die Unfähigkeit der islamischen Welt, Geschichte und Entwicklung der Ersten Welt zu verstehen, ist verständlich. Eine Kultur, die weder historisch-kritische Methoden in ihre Theologie aufnehmen noch ein Verständnis der neuen Staatstheorien nach dem Westfälischen Frieden entwickeln konnte, kann nur versuchen, Defizite und Katastrophen in der Geschichte der Ersten Welt als Beweis für deren Niedergang zu interpretieren. Ein ideologisches Fehlinterpretieren, das vom eigenen Niedergang ablenken und vor den eigenen Defiziten und vor allem vom Entwicklungsrückstand der islamischen Welt die Augen verschließen helfen soll.

Es ist nicht die Schuld der Ersten Welt, daß die Staaten der Zweiten Welt in der Beurteilung nach (allerdings westlichen) politischen Qualitätskriterien  – Friedensindex, Menschenrechte, Verteilung von Reichtum und Einkommen, Kulturproduktion, Patente, technische Entwicklung und Lebensqualität – seit langem das hinterste Ende der internationalen Skala belegen. Die erfolgreiche Entwicklungsgeschichte des vormodernen Staates a  là Hobbes über die Revolutionen von 1776 und 1789 zur modernen rechtsstaatlichen Demokratie ist nicht durch die Einbrüche und „Rückfälle“ von Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus wie Postkommunismus desavouierbar.

Und wer verweigert, auf Koran, Scharia und Sunna die schon von den Mutaziliten im Hochmittelalter praktizierte Vernunftdeutung (wieder) zuzulassen, kann keinen Zugang zu den säkularen Verfassungen moderner Staaten finden.[15]

Ein politisches Problem, daß nicht nur in der Zweiten Welt, sondern vor allem auch in der Ersten Welt, besonders in Europa, wirkmächtig werden wird. Wenn europäische Moslems die moderne Demokratie zwar „respektieren“, weil und solange sie nach eigenem Eingeständnis noch in der Minderheit sind, haben sie sich noch nicht als demokratiepolitisches Problem erkannt. Noch weniger, wenn der erste nicht-mehr-säkulare türkische Präsident nach Atatürk 1997 verkündet: „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette sind unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“ Woran evident wird, daß die Neue Türkei geneigt ist, den Untergang des Osmanischen Imperiums als größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts zu deuten, was offensichtlich an eine ähnliche (Katastrophen)Deutung bezüglich des Sowjetimperiums  und seines Endes anknüpft.

Ein „anderer Plan Allahs“ und eine Eurasische Union neuer/alter Unrechtsstaaten in Europa und Asien werden gegen den Kurs Weltrepublik auf den historischen Plan gerufen. Ein Menetekel an der Wand der Zukunft, das mehr als nur zu denken und zu beobachten gibt. Neue Bündnisse, vor Kurzem noch für unmöglich gehalten, kündigen sich an.  Und dennoch kann kein Staat der Zweiten und auch nicht der postkommunistischen Welt vermeiden, Zugänge  – des Verstehens und der politischen Praxis Richtung rechtstaatlicher Demokratie – zu suchen und zu finden. Wer sich auf der falschen Seite der Geschichte glaubt lagern zu können, wird über diese Fehlbeurteilung und Fehlentscheidung in naher oder ferner Zukunft eines Besseren belehrt werden.

 

(Leo Dorner, Januar 2015)

 

[1] Weil der Kontrapunkt zwischen Fortschritts- und Rückschrittsmächten als Motor der Geschichte unhintergehbar ist, sind auch alle Redeweisen über richtige und falsche Seiten der Geschichte unhintergehbar: legitim und rechtens. Diese Einsicht gilt unbedingt, auch wenn der jeweils nächste Kontrapunkt der Geschichte in concreto unvorhersehbar ist.

[2] Die Eroberung eines potentiellen Staatsterritoriums, vorerst auf Syrien und Irak beschränkt, wurde hauptsächlich durch schwerwiegende Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen der Obama-Administration ermöglicht. Nun haben die US-Demokraten jenen „richtigen Krieg“, den sie am Bush’s „Irakkrieg“ vermißten. Dieser sei ein „falscher Krieg“ gewesen: eine (irrende) These, die eine sich selbst erfüllende Prophezeiung enthielt, wie sich nun zeigt.

[3] Die in der Zweiten Welt gebräuchliche Benennung ISIL scheint realitätsnäher zu sein als der im Westen gebräuchliche Name IS, auch wenn dieser auf den Großmachtwillen der Gründer zurückgehen sollte.

[4] Natürlich läßt sich trefflich streiten über die Frage, ob nicht schon der Krieg der westlichen Koalition gegen die Taliban, 2014 zu einem vorläufigen Abschluß gebracht, als erster symmetrischer Krieg des Westens gegen den Jihadismus anzusehen ist. – Die teilweise symmetrischen Kriege der somalischen Shabaab-Milizen sowie von Al Kaida-Verbänden im Jemen waren noch nicht direkt gegen westliche Mächte in der Zweiten Welt gerichtet. Ähnliches gilt für die stets wachsende Front des Jihad in Afrika, mit fließenden Übergängen wie etwa in Libyen.

[5] Lediglich in Tunesien scheint, trotz chronischer Sicherheitsprobleme, eine demokratische Entwicklung voranzukommen.

[6] Dies zeigte sich paradigmatisch bereits bei der Verteilung der Konkursmasse des Osmanischen Imperiums. Trotz und wegen des fabelhaften Orientalismus-Glaubens vieler Europäer an die „edlen Araber“, war es unmöglich, diese auf die Stufe selbständiger Staatenbildung durch demokratische Prozeduren zu erheben.

[7] Vor allem die demographische Option wird angedacht: Die überlegene Geburtenrate der Moslems in der westlichen Welt, werde die politische Macht in den modernen Demokratien auf gänzlich „demokratischen“ Wegen erobern. Aber auch geopolitische Erwägungen werden kaum verdeckt ins Spiel gebracht, wie sich etwa an der herausfordernden Außenpolitik des Irans seit Khomeinis Machtübernahme belegen läßt.

[8] Eine asymmetrische Lage, die an jene des jüdischen Volkes im Kampf gegen das römische Imperium erinnert. Die Kriege und Aufstände der Auserwählten Jehovas samt tragischen Konsequenzen (mit Millionen Opfern) sind aus den historischen Quellen und Berichten fast lückenlos rekonstruierbar. Die Zerstörung des Tempels durch Titus (70 n. Chr.), des Allerheiligsten des Judentums, war das Fanal einer grausamen Diaspora- Zukunft, der das Judentum bekanntlich erst nach jahrhundertelanger Verfolgung mit dem Holocaust als historischer Klimax entrinnen konnte. Eine „biblische“ Dimension, die mit dem gegenwärtigem Welt(en)konflikt und seinem Potential zu einem neuen Fanal, untrennbar verknüpft ist. Als müßten sich die drei monotheistischen Religionen vor dem Richtstuhl einer göttlichen Vernunft verantworten, deren moralische Absolutheit sie zugleich bestreiten.

[9] Würde ein islamischer Führer beispielsweise dem antijüdischen Haß und Vernichtungswillen in der islamischen Welt öffentlich abschwören, er wäre Führer und Ansager gewesen.

[10] Ein Minimalkonsens zwischen gegensätzlichen Kulturen kann nicht mehr als eine Art „Überbrückungskredit“ und Interregnum, keine globale Lösung des Konfliktes sein.

[11] Das skurrilste Placebo-Argument der multikulturellen Fraktion lautet bekanntlich: Weder könne noch müsse man mit dem Islam diskutieren, weil es nur unzählige Richtungen und Arten, nicht aber eine gemeinsame Gattung, keinen real existierenden Begriff des Islams gäbe.

[12] Den erschreckenden Dilettantismus der neoislamischen Polit-Elite der Türkei lassen deren Äußerungen über zentrale Errungenschaften der moralischen Vernunftmoderne erkennen. Die moderne Gleichstellung von Mann und Frau beispielswese sei ein widervernünftiger Grundsatz, der die natürliche Ungleichheit von Mann und Frau unterminiere. Eine Aussage, die offensichtlich kein gewollt provokantes Mißverstehen, sondern ein wirkliches Urteils-Unvermögen ausdrückt. Es widerspricht dem fundamental-islamischen Codex, Mann und Frau identische Freiheitsrechte zuzudenken; der moderne Codex lehrt dagegen, daß es sich um zwei menschliche Wesen von gleicher Freiheits- und Vernunftausstattung handelt, ungeachtet ihrer sexuellen und sozialen Differenz.

 

[13] Wohlgemerkt: unter Präsenz vieler anderer Religionsangehöriger, darunter zehn Millionen Christen allein in Ägypten.

[14] Daher unhintergehbar die stete Neujustierung des für die Erste Welt und deren demokratische Welt unverzichtbaren Kernbestandes an Normen. Paradigmatisch am Konflikt von Meinungsfreiheit und Religionsbeleidigung erfahrbar.

[15] Umgekehrt ist es für die Erste Welt, da mit Freiheits- und Rechtsphilosophien reichlich versorgt, kein unüberwindbares Kulturschrankenproblem, die Geschichte und Schwächen wie auch das Absterben der Mutazilitischen Aufklärung durch die orthodox islamischen Rechtsschulen adäquat zu deuten und zu verstehen.