28 Jihad-Weltkrieg
I. Wendejahr 2014
Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie kennt Analogien, Erinnerungen an
vergleichbare Entwicklungen in ihrer Vergangenheit und vor allem die
scheinbare Wiederkehr von Kollisionen zwischen Fortschritts- und
Rückschrittsmächten.1
Seit 2014 fragt sich die Erste Welt, mit welcher Strategie die „Islamfaschisten“
des „Islamischen Staates“, der sich vorläufig als Nachfolgeorganisation von Al-
Kaida durchgesetzt zu haben scheint, bekämpft und besiegt werden sollen.
Mit der historisch vergleichenden Benennung der neuen Rückschrittsmacht
erinnert die Erste Welt an ihre früheren Todfeinde, die gleichfalls bekämpft und
besiegt werden mußten. Auch gegen Nationalsozialismus und Faschismus,
ebenso gegen den sowjetischen Weltkommunismus mußten Strategien gesucht
und gefunden werden, um das weltgeschichtliche Fortschrittswerk
weiterzuführen. Das historische Erinnern und Analogisieren der strategischen
Falken von heute zweifelt nicht an seiner Legitimität: Der „mörderische Wahn“
der neuen Rückschrittsmacht sei jenem der säkularen Ideologien des 20.
Jahrhunderts vergleichbar.
Nach dem Ende des Kalten Krieges schien es undenkbar, daß wenige Jahrzehnte
später ein radikalisierter Islam der Ersten Welt (wie auch Rußland und China)
einen globalen Krieg erklären könnte. Teils tendierte die Zweite Welt noch in
Richtung Sowjetunion und adaptierte kommunistische Partei-Ideologien, teils
dominierten westliche Staatsformen in korrumpierter Gestalt (Monarchien und
Diktaturen in vormodernen Stammeskulturen), mit denen sich die ölreichen
Staaten via Ölproduktion und –bedarf gewinnbringend arrangiert hatten.
Eine Situation, die noch anhält, obwohl sie nun durch das Erstarken des
radikalisierten Islams wie der dadurch erfolgten Radikalisierung des islamischen
Schismas in Frage gestellt wird. Vor diesen Radikalisierungen fehlte der
1 Weil der Kontrapunkt zwischen Fortschritts- und Rückschrittsmächten als Motor der Geschichte
unhintergehbar ist, sind auch alle Redeweisen über richtige und falsche Seiten der Geschichte
unhintergehbar: legitim und rechtens. Diese Einsicht gilt unbedingt, auch wenn der jeweils
nächste Kontrapunkt der Geschichte in concreto unvorhersehbar ist.
islamischen Welt zum dauerhaften Glück im Status quo lediglich die Erfüllung
eines Wunsches: Das Verschwinden Israels von der Landkarte. Doch trotz
mehrmals gescheiterter Versuche der islamischen Welt, den „kolonialistisch-
zionistischen Dorn“ im islamischen Auge zu entfernen, stürzt nun auch der
bisherige Status quo der Zweiten Welt in sich zusammen.
Im Wendejahr 2014 wurde aus dem seit 2001 asymmetrisch geführten „war
against terror“ ein erstmals symmetrischer Krieg der Ersten Welt gegen
islamistische Kämpfer und „Märtyrer“, die sich großer Gebiete Syriens und des
Iraks bemächtigen konnten.2
Sie beseitigten die bisherige Grenze zwischen beiden Staaten, die nach dem
Ersten Weltkrieg von den europäischen Kolonialmächten England und
Frankreich durch das Sykes-Picot-Abkommen gezogen worden war. Die
eroberten Gebiete sollen als Territorium eines Islamischen Staates in der
Levante dienen. Ein Name, der keinen Zweifel offenlässt über die Absicht der
kühnen Staatsgründer.3 Die Grenzen ihres Staates von Allahs Gnaden sollen
nach Libanon und Jordanien, vielleicht auch in die Türkei ausgeweitet werden.
(Rückeroberung Jerusalems und Befreiung Palästinas vom zionistischen Joch
nicht ausgeschlossen.)4
Im Angesicht der den Westen offenbar überraschenden Katastrophe sucht nun
die Erste Welt unter der geschwächten Führung der USA nach neuen Strategien
und Allianzen, um der Eroberungswelle der islamistischen Staatengründer
Einhalt zu gebieten. Sie sollen zurückgedrängt und auf kurze oder lange Sicht
auch gänzlich entsorgt werden. Dazu freilich könnten „Luftschläge“ allein nicht
2 Die Eroberung eines potentiellen Staatsterritoriums, vorerst auf Syrien und Irak beschränkt,
wurde hauptsächlich durch schwerwiegende Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen der
Obama-Administration ermöglicht. Nun haben die US-Demokraten jenen „richtigen Krieg“, den
sie am Bush’s „Irakkrieg“ vermißten. Dieser sei ein „falscher Krieg“ gewesen: eine (irrende)
These, die eine sich selbst erfüllende Prophezeiung enthielt, wie sich nun zeigt.
3 Die in der Zweiten Welt gebräuchliche Benennung ISIL scheint realitätsnäher zu sein als der im
Westen gebräuchliche Name IS, auch wenn dieser auf den Großmachtwillen der Gründer
zurückgehen sollte.
4 Natürlich läßt sich trefflich streiten über die Frage, ob nicht schon der Krieg der westlichen
Koalition gegen die Taliban, 2014 zu einem vorläufigen Abschluss gebracht, als erster
symmetrischer Krieg des Westens gegen den Jihadismus anzusehen ist. – Die teilweise
symmetrischen Kriege der somalischen Shabaab-Milizen sowie von Al Kaida-Verbänden im
Jemen waren noch nicht direkt gegen westliche Mächte in der Zweiten Welt gerichtet. Ähnliches
gilt für die stets wachsende Front des Jihad in Afrika, mit fließenden Übergängen wie etwa in
Libyen.
ausreichen, wird die geschwächte USA allerorten belehrt und geradezu
gehänselt.
Bisher wurde stets die „Dummheit der überall einmarschierenden und
besetzenden USA“ weltweit gescholten, nun aber soll umgekehrt gelten: Nicht
mit Bodentruppen einzumarschieren, sei Dummheit und ein Nullkonzept,
dessen Folgen sich rächen würden.
Aber wäre es für die Erste Welt nicht besser und klüger, dem in Europa,
besonders in Deutschland grassierenden Nichteinmischungs-Dogma zu folgen?
Wäre es nicht besser, die Zweite Welt zweite Welt sein und bleiben zu lassen
und auf ein langes Nichtwiedersehen sich zu verabschieden?
Doch im Wendejahr 2014 wurde einsichtig, daß die Geschichte über diese
falsche Hypothese gleichfalls längst entschieden hat. Die Nachwirkung des
Scheiterns der Arabellion auf die Erste Welt läßt sich nicht länger ignorieren.5
Die erhoffte Zuschauerrolle Europas wurde als Illusion einsehbar.
Hunderttausende Flüchtlinge jährlich sind Beweis genug, daß Nichteinmischung
und Untätigbleiben immer schon ein Ding der Unmöglichkeit waren. Zudem ist
der globale Arm des Jihad längst in Europa angekommen, wie Anschläge in der
Ersten Welt (sowie in Rußland, China usf.) durch vernetzte Terror-Zellen und
„Rückkehrer“ aus den umkämpften Regionen der Zweiten Welt sowie „einsame
Wölfe“ überall zureichend belegen.
II. Krieg und Transformation
Die triviale Einsicht, daß im Kampf gegen den islamistischen Jihad die
militärische Option unausweichlich ist, gilt unbedingt sowohl für die Erste wie
für die Zweite Welt, – für alle (noch) machthabenden Staaten und Regierungen
der islamischen Welt.
Ebenso die politische Binsenweisheit, daß die militärische Option allein nicht
zureichen kann, weil letztlich eine gesamtgesellschaftliche Transformation der
Zweiten Welt – Entwicklung einer demokratiefähigen Zivilkultur – Ziel des
Kampfes sein muß.
5 Lediglich in Tunesien scheint, trotz chronischer Sicherheitsprobleme, eine demokratische
Entwicklung voranzukommen.
Das Dogma einer gesamtpolitischen Transformation ist schwerwiegend und
umstritten, sowohl in der Perspektive der Zweiten wie der Ersten Welt, wenn
auch unter gegensätzlichen Prämissen. – Denn mit dem Anspruch auf
Missionierung erhebt die Erste Welt einen Machtanspruch – an Wissen, an
Rationalität, an Zivilisationskultur -, der das Selbstverständnis und den Stolz der
Zweiten Welt – der islamischen Kultur insgesamt – außerordentlich verletzen
muß. Und die Erste Welt schwankt bisweilen irritiert über der Frage, wie sie
zwischen der Strategie der Missionierung universaler Vernunft und ihrer
toleranten Huld für das Andere und Fremde vermitteln könnte, um einen
vielleicht möglichen Mittelweg zu finden.
Die Entwicklung der Zweiten Welt sei gegenüber jener der Ersten Welt um etwa
200 Jahre zurückgeblieben – behaupten Pessimisten oder Realisten in beiden
Welten. Im hinkenden Vergleich: Die islamische Welt würde in der Epoche vor
den Jahren 1776 und 1789 verharren. Eine Behauptung, die in der Zweiten Welt
Zurückweisung und Zweifel, Hohn und Wut sowie heftiges Gegenbehaupten
erregen muß. Ein beleidigtes Zurückweisen, das der Ersten Welt beinahe schon
die Wahrheit ihrer Behauptung beweist. Und eine westliche Zusatzbehauptung
verstärkt: Die Zweite Welt könne die Prinzipien und historischen Prozesse, die
den Vorsprung der Ersten Welt ermöglichten, nicht adäquat verstehen.
Ein Phänomen, das der Ersten Welt aus ihrer eigenen Entwicklung und
Geschichte vertraut ist: Vor allem die katholische Konfession der christlichen
Religion stemmte sich länger als ein Jahrhundert gegen alle Revolutionen und
Evolutionen der Säkularisation durch die sich unübersehbar differenzierende
Rationalität der westlichen Moderne. Wiederum im Vergleich gesprochen: Als
hätte auch die islamische Welt einen Antimodernismus-Eid geschworen, obwohl
sie zugleich nicht umhin konnte, viele Errungenschaften der modernen
Wissenschaften und Technologien zu übernehmen. Eine äußerlich adaptierte
Moderne, welche die schon vorhandenen Widersprüche in der Zweiten Welt
verstärken und radikalisieren mußte – jedenfalls nicht mit den angestammten
Prinzipien des Status quo aus der Epoche des Kalten Krieges zu lösen sind.6
III. Dialog und Diskurs
6 Dies zeigte sich paradigmatisch bereits bei der Verteilung der Konkursmasse des Osmanischen
Imperiums. Trotz und wegen des fabelhaften Orientalismus-Glaubens vieler Europäer an die
„edlen Araber“, war es unmöglich, diese auf die Stufe selbständiger Staatenbildung durch
demokratische Prozeduren zu erheben.
In der Perspektive der islamischen Welt präsentiert sich die Erste Welt als
Usurpator einer universalen Vernunft, die sich als einzig zukunftweisende
Gestalt von Rationalität – als religionsneutral säkulare – geoffenbart habe.
Daraus folge, daß die islamische Kultur auf nicht rationalen Prinzipien
rückständiger Unfreiheit basiere, – wie überhaupt eine noch durch Religion
begründete Kultur historisch überholt sei. Deren menschenrechts- und
freiheitsfeindliche Dogmen gefährdeten sowohl ihre eigene wie alle anderen
Kulturen der gegenwärtigen Menschheit. Und unter diesem säkularen Dogma
erkaufe sich der Westen einen von der Weltöffentlichkeit abgesegneten
Missionierungsauftrag: Nimmer endende interventionistische Kriege und
„Besatzungen“ in der islamischen Welt. (Sofern er nicht ohnehin nur auf das
berühmte Öl der Zweiten Welt erpicht war und ist, wogegen der törichte Ruf
aller westlichen Pazifisten bis heute erschallt: „Kein Blut für Öl.“)
Deutungen dieser Art, die bruchlos ins Fabelreich der Verschwörungsmärchen
übergehen, sind in der islamischen (sunnitischen wie schiitischen) Welt so
zahlreich und alltäglich wie der Sand an den Küsten des arabischen Meeres. An
ihnen läßt sich die Stolz-Verletzung der islamischen Kultur durch die westliche
wie an einem politischen Mentalitätsbarometer ablesen. Wer sich als wahre
Zivilisationskultur interpretiere, könne der islamischen nur den Status einer
Irrationalitätskultur gewähren, deren Zeit abgelaufen sei.
Indessen gilt in der Perspektive des Islams: Gegen die absolute Religion, die
letzte, weil unüberbietbar vollendete (die islamische), könne keine säkulare
Vernunft bestehen; diese mag temporär Vorteile und „Vorsprünge“ gewinnen,
doch wird sich Allah zur rechten Zeit der Seinen erinnern, um ihnen erneut zu
großer, vielleicht zur Weltherrschaft zu verhelfen. Nach einer langen Epoche von
Strafe und Zerfall, Niedergang und Rückstand werde die Epoche einer
glorreichen Wiedererneuerung demnächst beginnen.
Unnötig zu erwähnen, daß diese Überzeugung keineswegs nur die der
Jihadisten an der Front des globalen Religionskrieges ist. Was diese „durch das
Schwert“ erstreben, erhoffen jene – die „schweigende Mehrheit“ der
moslemischen Massen und die Eliten ihrer auch politisch einflussreichen
Geistlichkeit – durch die Macht und List Allahs auf anderen Wegen zu erreichen.7
7 Vor allem die demographische Option wird angedacht: Die überlegene Geburtenrate der
Moslems in der westlichen Welt, werde die politische Macht in den modernen Demokratien auf
Das religiöse und kulturelle Überlegenheitsgefühl des – von westlichen Lehren
noch nicht unterwanderten – Islams ist ungebrochen, weil eine Religion des
unüberbietbaren Gehorsams zugleich die eines unüberbietbaren Stolzes sein
muß. Wer sich der vollkommenen Macht vollkommen unterwirft, partizipiert an
deren Allmacht.
Dies ergibt eine asymmetrische Beurteilungslage von kaum zu überbietender
Widersprüchlichkeit: Das Beste und Höchste, des Gottes eigene Religion und
Kultur soll zugleich eine zurückgebliebene und unhaltbare geworden sein, eine,
die durch eine säkulare, von Ungläubigen angeführte Kultur nach deren
Prinzipien „transformiert“ werden soll.8
Über diesen Gegensatz zwischen Erster und Zweiter Welt pflegen sich die
„Dialoge“ islamischer und christlicher Religionsführer bekanntlich wenig zu
erregen. Sie setzen auf „Frieden“, in der Hoffnung, auf beiden Seiten würden die
„Moderaten“ über die „Falken“ und Jihadisten obsiegen. Ein Verhalten und ein
Hoffen, das dem Vorwurf der Realitätsverweigerung durch litaneihaftes
Wiederholen friedlicher Dialog-Argumente zu begegnen pflegt. Wobei der
wahre (durch westliche Einflüsse noch ungebrochene) Islam um die Ohnmacht
des Christentums in der Ersten Welt und auch um den Wert des global-
religiösen Dialogwesens Bescheid weiß.
Mögen sich die Religionsführer der monotheistischen Religionen („Dialoge“
zwischen jüdischen und islamischen Oberen sind riskante Ausnahmen) auch
„auf Augenhöhe“ begegnen, in schönster Toleranz gegenseitiger
Respektbezeugung, mehr als ein unverbindlicher Austausch von
Freundlichkeiten kann „Dialog“ nicht sein.9 Mit diesem honorigen Spiel der
oberen Zehntausend der drei monotheistischen Religionen und ihrer nicht
gänzlich „demokratischen“ Wegen erobern. Aber auch geopolitische Erwägungen werden kaum
verdeckt ins Spiel gebracht, wie sich etwa an der herausfordernden Außenpolitik des Irans seit
Khomeinis Machtübernahme belegen läßt.
8 Eine asymmetrische Lage, die an jene des jüdischen Volkes im Kampf gegen das römische
Imperium erinnert. Die Kriege und Aufstände der Auserwählten Jehovas samt tragischen
Konsequenzen (mit Millionen Opfern) sind aus den historischen Quellen und Berichten fast
lückenlos rekonstruierbar. Die Zerstörung des Tempels durch Titus (70 n. Chr.), des
Allerheiligsten des Judentums, war das Fanal einer grausamen Diaspora- Zukunft, der das
Judentum bekanntlich erst nach jahrhundertelanger Verfolgung mit dem Holocaust als
historischer Klimax entrinnen konnte. Eine „biblische“ Dimension, die mit dem gegenwärtigem
Welt(en)konflikt und seinem Potential zu einem neuen Fanal, untrennbar verknüpft ist. Als
müßten sich die drei monotheistischen Religionen vor dem Richtstuhl einer göttlichen Vernunft
verantworten, deren moralische Absolutheit sie zugleich bestreiten.
9 Würde ein islamischer Führer beispielsweise dem antijüdischen Haß und Vernichtungswillen in
der islamischen Welt öffentlich abschwören, er wäre Führer und Ansager gewesen.
wenigen Konfessionen ist daher wenig gewonnen, – kaum mehr als eine
(schein)heilige Galgenfrist.
Ersichtlich schon daran, daß der wahre Islam zu den säkularen Eliten und
Mächtigen der Ersten Welt eine andere, eine ultimative Sprache spricht:
Solange die Erste Welt nicht anerkenne, daß auch der Islam auf Vernunft und
deren Rationalität(en) beruhe, sei friedliche Gleichberechtigung der Kulturen
unmöglich, der aktuelle Kulturkrieg zwischen Erster und Zweiter Welt nicht zu
beenden und nicht zu befrieden. Eine ultimative Position, die nicht wenige
Repräsentanten der christlichen Konfessionen teilen. Sie bewundern die
ungebrochene Lebendigkeit des religiösen Lebens der islamischen Welt und
möchten sich oft lieber mit dieser als mit der (speziell in Europa) agnostisch und
atheistisch gewordenen westlichen Kultur vereinigen.
Daraus ergibt sich für beide Seiten ein je eigenes Dilemma. Wie soll die
(menschenrechtlich verankerte) Vernunft der Ersten Welt mit der
(offenbarungsdogmatisch verankerten) Vernunft der Zweiten Welt, und wie
sollen die Mächtigen Allahs mit Ungläubigen kommunizieren können? Wie kann
unter diesen Prämissen aus Dialog jemals Diskussion werden? Ein Austausch
von Argumenten, deren Vernunftanspruch in Prinzip und Detail diskutiert
werden muß, wenn zwei Welten direkt und unmittelbar kollidieren.10
Jene, die versuchen, die Kollision zu leugnen, sollten sich an dem Faktum, daß in
beiden Welten je zwei Fraktionen über der Frage des Vernunftanspruchs brüten,
eines Besseren belehren. In der Ersten Welt haben wir einerseits die
vernunftweiche Position der multikulturellen Fraktion, andererseits die
vernunftharte Position der globalen Vernunftmoral universaler
Menschenrechte. Die weiche Fraktion ist oft geneigt, den Anspruch der Ersten
Welt zu relativieren, die harte Fraktion ist ungeneigt, die toleranten Spiele der
Relativierung des eigenen Vernunftanspruchs mitzuspielen. Offensichtlich
deuten beide Fraktionen die durch die politisch-rechtliche Moderne erlangte
Religionsfreiheit, positive wie negative, ungleich. Und spiegelgleich existieren
auch in der Zweiten Welt zwei Fraktionen, die den durch die Kollision der
Kulturen bewirkten Bruch der eigenen Kultur bestätigen: Einerseits der
fundamental-wahre Islam, andererseits der durch die säkularen Denkweisen
der Ersten Welt angebröckelte Islam.11
10 Ein Minimalkonsens zwischen gegensätzlichen Kulturen kann nicht mehr als eine Art
„Überbrückungskredit“ und Interregnum, keine globale Lösung des Konfliktes sein.
11 Das skurrilste Placebo-Argument der multikulturellen Fraktion lautet bekanntlich: Weder
könne noch müsse man mit dem Islam diskutieren, weil es nur unzählige Richtungen und Arten,
Wenn daher die multikulturelle Fraktion westlicher Provenienz einen
multikulturellen Weltfrieden ausruft und vorspielt, vom gemeinsamen
Trommeln bis zum gemeinsamen Gebet, kann die fundamentale Fraktion des
Islams daran nur teilnehmen, indem sie von ihrem wahren Selbstverständnis
temporär abstrahiert und sich verstellt. Die säkulare oder halb-säkulare
(„angebröckelte“) Fraktion des Islams hingegen kann ohne Verstellung und
Selbstverleugnung teilnehmen, weil sie schon des neuen Geistes halbes Kind zu
sein wähnt. Beide Fraktionen harmonieren prächtig und eilen an der Front der
Überwindung von „Fremdenhaß“ und „Islamophobie“ von Erfolg zu Erfolg. Ein
religiöser Kulturkrieg zwischen Erster und Zweiter Welt scheint nur (mehr) in
den Meldungen der Medien zu existieren; und er scheint von islamophoben
Geistern des Westens herbeiberichtet zu werden.
Besetzen Irrtümer dieser Art die politische, gar die weltpolitische Bühne, sind
gefährliche Irrwege unvermeidbar. In Sicht der unter Erdogan beinahe schon
reislamisierten Türkei verdankt sich der islamistische Terror und die Gründung
eines Gottesstaates in der Levante einer verfehlten Politik des Westens.
Invasionen, Besetzungen und beleidigende Vorurteile und Unterstellungen
hätten böse Früchte gezeitigt, wie sich nicht zuletzt an der Beseitigung der
ägyptischen Muslimbrüder von den Hebeln der politischen Macht erwiesen
habe. Auch verweigere der Westen dem „gerechten Kampf“ der Hamas gegen
den „Terrorstaat“ Israel jene Unterstützung, die nötig sei, um das Übel des
zionistischen Imperialismus ein für allemal aus der Welt zu schaffen.
Kündigt aber die Türkei die ihr zugedachte Vermittlerrolle zwischen Erster und
Zweiter Welt, steht kein regionaler Ersatz zur Verfügung. Die Türkei des Jahres
2014, noch vor Kurzem als säkular-islamische Modelldemokratie für die Zweite
Welt angedacht, droht die Früchte der Atatürk-Revolution – die einzige, die
Europa im 20. Jahrhundert zu gelingen schien – wieder zu verspielen und zu
vernichten.12
nicht aber eine gemeinsame Gattung, keinen real existierenden Begriff des Islams gäbe.
12 Den erschreckenden Dilettantismus der neoislamischen Polit-Elite der Türkei lassen deren
Äußerungen über zentrale Errungenschaften der moralischen Vernunftmoderne erkennen. Die
moderne Gleichstellung von Mann und Frau beispielswese sei ein widervernünftiger Grundsatz,
der die natürliche Ungleichheit von Mann und Frau unterminiere. Eine Aussage, die
offensichtlich kein gewollt provokantes Mißverstehen, sondern ein wirkliches Urteils-
Unvermögen ausdrückt. Es widerspricht dem fundamental-islamischen Codex, Mann und Frau
identische Freiheitsrechte zuzudenken; der moderne Codex lehrt dagegen, daß es sich um zwei
menschliche Wesen von gleicher Freiheits- und Vernunftausstattung handelt, ungeachtet ihrer
sexuellen und sozialen Differenz.
IV. Zur Vorgeschichte des politischen Jihad.
Die Versuche der sunnitischen Jihadisten unserer Tage, Gottesstaaten
ausschließlich islamischer Fundamentierung zu schaffen, überschreiten den
Versuch der status-quo-Despoten von einst und heute, unterm Banner der
panarabischen Idee einen Universalstaat aller Araber zu gründen. Eine
Überschreitung in verkehrter, in Richtung fundamentalistisch verklärter
Vergangenheit, weil nunmehr ganz ohne moderne politische Prinzipien das
große Ziel einer universalen Vereinigung aller wahren Sunniten erreicht werden
soll. Deren Quasi-Diaspora, verursacht durch die Konkursmasse-Verteilung des
Osmanischen Imperiums durch westliche Kolonialmächte, sei nun glücklich zu
überwinden und zu beenden. Und wie die Juden nach Israel heimkehren
durften, entsprechend auch die Araber, – allerdings mit Jerusalem als
gemeinsamer Hauptstadt aller Araber, realisierbar nach Beseitigung des Staates
Israels.13
Denn auch die Gründung des Staates Israel sei als Folge jener Fehlverteilung
der osmanischen Konkursmasse einsichtig, die Rückkehr der Juden in ihr
vermeintliches Heimatland ein Werk des Teufels, wie schon die Vertreibung der
Palästinenser aus ihrem „arabischen Stammland“ bewiesen habe. Kurzum:
Jerusalem als Zentrum eines globalen sunnitischen Kalifats, um an die
Geschichte der glorreichen Kalifate von Anno dazumal anzuknüpfen. Obsolet die
noch vor Kurzem fanatisch propagierten Ideen der parakommunistischen
Baath-Parteien, obsolet alle zaghaften Ansätze zu einer demokratischen
Zivilisationskultur in der islamischen Welt.
Diese Ideologie scheint überzeugend und daher ausführbar, stimmig und daher
selbstbegründend, und eben dieser Schein ist zugleich ihr Verhängnis und
Schicksal. Auch wenn ihr Dauer beschieden wäre, entweder in Scharia-Enklaven
in einigen sunnitischen Staaten oder gar in einem grenzüberschreitenden Staat
in der Levante oder in Afrika oder Asien, – das Ende des befristeten Dauerns ist
absehbar, weil die verdunkelten Selbstwidersprüche der nur scheinbar
kohärenten Ideologie nach und nach ans Licht treten müssen.
Es ist verständlich, daß vor allem Europa auf die Karte Säkularisierung setzt. Auf
die Hoffnung, der Islam werde die Epoche der Vernunft-Aufklärung nachholen,
13 Wohlgemerkt: unter Präsenz vieler anderer Religionsangehöriger, darunter zehn Millionen
Christen allein in Ägypten.
langer Dialogtropfen werde auch den tausendjährigen Stein dieser Religion
höhlen und beseitigen. Aus Dialog werde realer Diskurs zwischen Erster und
Zweiter Welt werden, und am Ende nicht mehr nur für halbsäkularisierte
Moslems, die die Vorzüge ihrer Emigrationsländer zu schätzen wissen, sondern
auch in den Stammländern, sogar einschließlich Saudi-Arabiens und ähnlich
fundamentalistisch organisierter Staaten der Zweiten Welt.
Die Weltgeschichte werde auf Kurs Weltrepublik bleiben und jede
Kursabweichung Richtung Gottesstaat (und postkommunistischer
Autoritätsstaaten wie China, Rußland, Nordkorea, Kuba und vergleichbare)
rechtzeitig korrigieren. Und auch die schiitische Variante des islamischen
Gottesreiches auf Erden werde eines Tages an den Freiheits-Klippen des
voranschreitenden Weltgeistes zerschellen.
In Europa ist die Erinnerung an seine menschenverachtenden Religionskriege
(in Mittelalter und Neuzeit) unvergessen und präsent. Verständlich, daß es nicht
nochmals in religiöse Weltbürgerkriege hineingezogen werden möchte. Weder
zuhause noch in fremden, aber benachbarten Häusern.
Diese Prophetie aus Hoffnung enthält eine unausweichliche Einsicht: Auch die
multikulturelle (weiche) Vernunft des Westens kann sich letztlich nicht der Frage
entziehen, ob die Grundprämissen des Islams mit den Grundprämissen der
modernen rechtsstaatlichen Demokratie konsensfähig sind. Die moderne
Religionsfreiheit muß negativ-affirmativ gedeutet werden: nur über den
Differenzen der Religionen sowohl untereinander wie auch mit dem modernen
Demokratiestaat, der Religion und Politik getrennt hat, ist dauerhafter Friede
und globale Stabilität zu erreichen.
Ein multikultureller Staat, eine multikulturelle Kultur, die einzig einen
unerschöpflich vervielfältigbaren Reichtum ihrer Vielheit zum gemeinsamen
Kern hätten, wären eo ipso ohne gemeinsamen Kern, ohne gemeinsame
Grundlage. Mag dieser auch im Denken aller Religionen als bloß menschlicher
und gottloser bzw. zivilreligiöser denunzierbar sein, ist er doch die einzige
Garantie, daß bei religiösen Kollisionen die Köpfe derer, die ihren Feinden vor
die Füße rollen sollen, rechtzeitig zu retten sind.14
14 Daher unhintergehbar die stete Neujustierung des für die Erste Welt und deren
demokratische Welt unverzichtbaren Kernbestandes an Normen. Paradigmatisch am Konflikt
von Meinungsfreiheit und Religionsbeleidigung erfahrbar.
Doch spricht gegen den Kurs Weltrepublik, daß in den Augen der islamischen
Welt die Erste Welt schon seit langem im Niedergang begriffen ist, ohne dies zu
bemerken. Zum Beweis werden ritualisiert Verweise auf die beiden
europäischen Massenmord-Ideologien sowie zwei Weltkriege mit Millionen
Toten vorgebracht. Barbarische Rückschritte der Menschheits-Entwicklung, die
sich der islamischen Welt in der modernen Geschichte nicht vorwerfen lassen,
es sei denn, der Genozid an den Armeniern wäre vergleichbar anzuführen. Der
fast unvermittelte Sprung vom letzten Sultanat in einen (halb)modernen
Nationalstaat bewahrte die Türkei nicht vor den Barbaritäten eines säkularen
Nationalstolzes, der bis heute im politischen Leben des Landes verstörend
nachwirkt.
Die Unfähigkeit der islamischen Welt, Geschichte und Entwicklung der Ersten
Welt zu verstehen, ist verständlich. Eine Kultur, die weder historisch-kritische
Methoden in ihre Theologie aufnehmen noch ein Verständnis der neuen
Staatstheorien nach dem Westfälischen Frieden entwickeln konnte, kann nur
versuchen, Defizite und Katastrophen in der Geschichte der Ersten Welt als
Beweis für deren Niedergang zu interpretieren. Ein ideologisches
Fehlinterpretieren, das vom eigenen Niedergang ablenken und vor den eigenen
Defiziten und vor allem vom Entwicklungsrückstand der islamischen Welt die
Augen verschließen helfen soll.
Es ist nicht die Schuld der Ersten Welt, daß die Staaten der Zweiten Welt in der
Beurteilung nach (allerdings westlichen) politischen Qualitätskriterien –
Friedensindex, Menschenrechte, Verteilung von Reichtum und Einkommen,
Kulturproduktion, Patente, technische Entwicklung und Lebensqualität – seit
langem das hinterste Ende der internationalen Skala belegen. Die erfolgreiche
Entwicklungsgeschichte des vormodernen Staates a là Hobbes über die
Revolutionen von 1776 und 1789 zur modernen rechtsstaatlichen Demokratie ist
nicht durch die Einbrüche und „Rückfälle“ von Faschismus, Nationalsozialismus
und Kommunismus wie Postkommunismus disqualifizierbar.
Und wer verweigert, auf Koran, Scharia und Sunna die schon von den
Mutaziliten im Hochmittelalter praktizierte Vernunftdeutung (wieder)
zuzulassen, kann keinen Zugang zu den säkularen Verfassungen moderner
Staaten finden.15
15 Umgekehrt ist es für die Erste Welt, da mit Freiheits- und Rechtsphilosophien reichlich
versorgt, kein unüberwindbares Kulturschrankenproblem, die Geschichte und Schwächen wie
auch das Absterben der Mutazilitischen Aufklärung durch die orthodox islamischen
Rechtsschulen adäquat zu deuten und zu verstehen.
Ein politisches Problem, daß nicht nur in der Zweiten Welt, sondern vor allem
auch in der Ersten Welt, besonders in Europa, wirkmächtig werden wird. Wenn
europäische Moslems die moderne Demokratie zwar „respektieren“, weil und
solange sie nach eigenem Eingeständnis noch in der Minderheit sind, haben sie
sich noch nicht als demokratiepolitisches Problem erkannt. Noch weniger, wenn
der erste nicht-mehr-säkulare türkische Präsident nach Atatürk 1997 verkündet:
„Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die
Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette sind unsere Bajonette, die
Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“ Woran evident
wird, daß die Neue Türkei geneigt ist, den Untergang des Osmanischen
Imperiums als größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts zu deuten, was
offensichtlich an eine ähnliche (Katastrophen)Deutung bezüglich des
Sowjetimperiums und seines Endes anknüpft.
Ein „anderer Plan Allahs“ und eine Eurasische Union neuer/alter
Unrechtsstaaten in Europa und Asien werden gegen den Kurs Weltrepublik auf
den historischen Plan gerufen. Ein Menetekel an der Wand der Zukunft, das
mehr als nur zu denken und zu beobachten gibt. Neue Bündnisse, vor Kurzem
noch für unmöglich gehalten, kündigen sich an. Und dennoch kann kein Staat
der Zweiten und auch nicht der postkommunistischen Welt vermeiden, Zugänge
– des Verstehens und der politischen Praxis Richtung rechtstaatlicher
Demokratie – zu suchen und zu finden. Wer sich auf der falschen Seite der
Geschichte glaubt lagern zu können, wird über diese Fehlbeurteilung und
Fehlentscheidung in naher oder ferner Zukunft eines Besseren belehrt werden.
(Leo Dorner, Januar 2015)