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3 Das Proprium unseres Von-Sich-Wissens

A.

 

Ein lebenslanges Von-Sich-Wissen sein zu müssen, unterscheidet jeden Menschen von allen anderen Wesen dieser Welt. Ausgenommen sind lediglich Menschen, denen dieses innerste Proprium des Menschseins durch schwere Krankheit genommen wurde. Und weil dieses Von-Sich-Wissen-Sein nicht durch und als empirisches Faktum beweisbar ist, müssen wir jedem vertrauen, der behauptet, es von sich zu wissen. Wir schließen dabei von unserer Ich- Gewißheit auf die mitgeteilte anderer Menschen, und dieser Schluß ist uns Beweis genug, obwohl auch dieser im Stromkreis des Von-Sich-Wissens verbleibt, das alle teilen, die in ihm leben dürfen und leben müssen.

Woher kam, woher kommt dieses Von-Sich-Wissen in unseren Lebensbestand und Lebensvollzug? Wann und wie kam und kommt es über und in uns? Diese Frage kann versuchsweise durch Wissenschaft erörtert werden, nie aber kann sie wissenschaftlich beantwortet werden. Dies sollte uns erstaunen.

Denn wissenschaftlich forschen und denken heißt heutzutage „evolutionär“ denken und forschen, und dies meint: irgendwann und irgendwie muß alles, was ist, entstanden und geworden sein. Irgendwann also waren wir noch nicht ein Von-Sich-Wissen, und irgendwann wurden wir eines, – durch Prozeduren und Mechanismen, die unsere Wissenschaften zu erforschen haben. Ihnen sei das Rätsel nicht nur des Lebens, auch das des Bewußtseins und Geistes zu überantworten.

Die Antwort aktueller Philosophien: durch einen Sprung oder einen Wurf werde der Mensch mit dem Status von Selbstbewußtsein ausgestattet, ist weder eine philosophische noch eine wissenschaftliche, denn Metaphern dieser Art entstammen und verbleiben gleichfalls im Stromkreis des Vertrauens und Versicherns derer, die in ihm leben.

Aber was wüßten wir, wenn wir wüßten, wann und wo und wie es geschehen sei? Kein Zweifel: ein dergestalt enträtselbarer Zeitpunkt X würde uns zu gefährlich Mächtigen über unsere Spezies machen, – über alle Menschen, die noch ungeboren sind und hinkünftig geboren werden.

Doch ist die Frage: ab wann ist ein Mensch ein Mensch?, bereits eine wissenschaftlich gestellte und verstellte Frage, und dem Stromkreis dieses Fragens und Scheinantwortens ist nicht durch wissenschaftliches Fragen und Antworten zu entrinnen. Nicht nur muß Wissenschaft darauf dringen, schlußendlich doch noch empirische Fakta und Prozesse als Beweise für das Entstehen von Bewußtsein und Leben zu entdecken, sie muß auch unmittelbar trachten, dieses ihr möglich erscheinende Wissen in wirkliche Macht umzumünzen, um über das Leben von Menschen am Zeitpunkt X zu verfügen. Res facta zu werden ist das Telos alles empirischen Wissens.

 

B.

 

Metaphern des Sprunges oder des Wurfes möchten quasinatürlich deutlich machen, daß freie Bewegungen Freiheit des Springenden und Werfenden voraussetzen, und daß daher der lebenslange Akt des Von-Sich-Wissens eine Grundbedingung von und für Freiheit enthält und manifestiert, ermöglicht und verwirklicht. Ist aber Selbst-Bewußtheit ohne Freiheit nicht denkbar, ist es peinlich, wenn unser Denken und Forschen seinen eigenen Existenz-Grund nicht begreifen und nicht begründen soll können. Wenn es ihn lediglich auf Treu und Glauben soll hinnehmen müssen.

Während somit das empirische Wissen und Ermächtigen der Wissenschaften immer schon im Sinne einer Selbsterschaffung und einer ebenso möglichen Um- und Abschaffung des Menschen denkt, denkt unser nichtempirisches Ahnungswissen über den Status unseres Von-Sich-Wissens metaphorisch: im Dunkel des Aktes von Freiheit springe das Ich aus der natürlichen Welt in die seine, entweder in jedem Augenblick neu oder ein für allemal. Aber dieses „Einmal“, weil im nichtempirischen Denken nicht als empirisches Faktum denkbar, ist auch nicht als empirischer Anstoß einer Entstehung des Menschseins in der Zeit definierbar und erforschbar.

Weil kein reduktiver Rückgang auf natürliche Substanzen und Prozesse den Sprung aus der Natur über diese hinaus zu rekonstruieren vermag, ist das immer schon ichhaft präsente Von-Sich-Wissen nur durch einen Rückgang in dieses selbst, in den Begriff seines Wissens zu rekonstruieren. Dies der einzige Weg zu einem Versuch von Begründung und Begreifung, ein Versuch im Rang einer notwendigen und unausweichlichen Versuchung. Und dagegen sind alle wissenschaftlichen harmlos, weil sie keine sind.

Daß der Weg zu seiner Selbstbegreifung so eng ist, sollte dem modernen Menschen, der sich mitunter einer unbegrenzten Freiheit rühmt, zu denken geben. Zum einen könnte die vermeintliche Unbegrenztheit lediglich das Spiel einer selbstinszenierten Beliebigkeit und Entgrenzung sein: zum anderen könnte sich – im genauen Gegenzug dazu – im Akt des Von-Sich-Wissens ein ganz anderer Geist immer schon entäußert und gegenwärtig gemacht haben, ein Geist, durch den nicht nur das Ich, sondern auch alles Weitere: Welt, Menschen, Geschichte und auch Gut und Böse sowie Wahr und Falsch vorbestimmt wird.

Allerdings scheint unser alltägliches Leben auf einen gelebten Bezug zu unserer dunklen Herkunft die allermeiste Zeit verzichten zu können und auch verzichten zu müssen. Das Nächstliegende muß getan werden, das Zurückliegende muß abgetan werden, – wer könnte es leugnen? Dennoch bleibt die grundierende Stimme des verborgenen Grundes, das grundierende Wissen und Schaffen, das uns in unser Von-Sich-Wissen geworfen hat, (wie einen Säugling der Natur in die Lüfte gefährlicher Welten) mitgehend und gegenwärtig; auch wenn sich das Individuum und ganze Gesellschaften dagegen taub und stumm zu machen versuchen, indem sie vorgeben, zufrieden damit zu sein, über einem grundlosen Grund ihrer Freiheit leben zu können.

Und je gründlicher diese Grundlosigkeit geglaubt wird, umso anfälliger wird deren grundlose Freiheit für jene wissenschaftlichen Ideologien, die Freiheit und Sinn des Menschen entweder als Abkömmlinge natürlicher Substanzen und Mechanismen oder als Konstrukte unseres freischaltenden Willens und Denkens zu erklären versuchen.

 

C.

 

Was auch immer durch welche Wissenschaften auch immer angeführt und „bewiesen“ wird als Grund und Ursache der Menschwerdung des Menschen aus sei es physisch-natürlichen, sei es geschichtlich-sozialen Pfründen, es handelt sich dabei immer nur um Bedingungen und Mittel, niemals um den zureichenden und sich final verwirklichenden Grund des Sprunges. Es sind jene Bedingungen und Mittel, die sich der absolute Grund voraussetzt und zur Durchführung seines Programmes auch durchsetzt.

Widrigenfalls geschieht uns, was Freuds Denken und Von-Sich-Wissen geschah: mit der Entstehung von Bewußtsein aus zellulären oder neuronalen Prozessen würden wir im Leben der Zellen und Neuronen das Eigentliche und Anzustrebende des Menschen erblicken. (Der moderne wissenschaftliche Mensch, sich frei erschwebend und konstruierend, möchte sich am Ende und Anfang doch lieber als glaubwürdiges Tier begegnen. Eine luzide Art, sich als Gott zugleich zu erheben und zu erniedrigen: eine gar nicht luzide Fortsetzung des wissenschaftlichen Aberglaubens des Mutterjahrhunderts 19. Jahrhundert: die Natur sei erste und letzte, höchste und tiefste Instanz von allem und jedem).

Entdeckte ein Gehirnforscher an seinem Forschungsobjekt jenes Gen, das ihm das Erzeugnis von Bewußtsein verbürgte, um sich von Generation zu Generation als Illusion von Geist fortzuerben, so wäre er als ein „forschendes Bewußtsein“ über das Absolute seines erforschten Empirikums immer schon hinausgesprungen, ohne diesen Sprung bemerkt zu haben und ohne ihm in seinen empirischen Gründen und Abgründen begegnen zu können.

Stellt moderne Philosophie, die noch nicht dem naturwissenschaftlich determinierenden Szientismus auf den Leim gegangen ist, fest, daß jener Sprung aus und über die Natur ein unbekanntes X ist, das hingenommen und geglaubt werden müsse, weil es wissenschaftlich nicht beweisbar sei, streicht sie sich lediglich jenen Leim an ihre Füße, über den sie sich metaphorisch erhoben dünkt.

Und da sie den Sprung aller Sprünge zugleich nicht mehr als Anwesendsein eines empirisch nicht einholbaren Wesensaktes denken möchte, gerät sie bestenfalls in die Abgründe eines deus absconditus, der zwar nicht erscheine, vor dem aber doch das Nichts unserer Existenz erscheine.

So bleibt ihr letztlich nichts als die Unverbindlichkeit der vornehmen Resignation: weder darf sie den Reduktionismen der modernen Wissenschaften und deren Versuchen, sich zur Instanz einer universalen Welterklärung zu erheben, zustimmen; noch darf sie die empirischen Erfolge ebendieser Wissenschaften in Zweifel ziehen; weder darf sie auf Gründung einer neuen Religion durch ein neues Denken hoffen, noch darf sie sich der altgewordenen Religion nicht nur des Christentums an die Brust werfen. Wie aber soll sie unter diesen peinlichen Umständen jene Instanz für universale Orientierung sein, die zu ihrem innersten Auftrag und Proprium, zu ihrem universalen Von-Sich- Wissen gehört wie die Strömung zum Strom?