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32 Religionen und Vernunft

I.

Vor der Entdeckung und Einführung von Schrift und Schrifttraditionen regierte
unter Menschen ein noch ausnahmslos schriftloses Verstehen von Gott und
Göttern, von Welt und Menschheit. In den Religionen der archaischen Kulturen
waren durch mündlich wie rituell tradierte Mythen und Magien, Totems und
Kulte die damals wahren Deutungen von Göttern und Menschheit, von Welt und
Unter- wie Oberwelten nicht „festgeschrieben,“ sondern gleichsam
„festgehandelt.“ Durchaus auch im Sinne eines festlichen Handelns, durch
Schamanen oder Magier geführte Feste, denen kein Mitglied des Stammes fern
blieb, kein Kannibale den Manen seines Totems nicht glaubte.

Nach der Einführung von Schrifttraditionen haben sich in der Geschichte des
Verstehens von Welt und Menschheit drei Grund-Paradigmen entwickelt.
Zunächst wurden heilige Texte als unmittelbare Anzeiger und Verkünder wahrer
Aussagen über Gott und Götter, über Welt und Menschheit betrachtet. Auf der
zweiten Stufe der Entwicklung wurden heilige Texte nicht sowohl als Anzeiger,
sondern vielmehr noch als Hinweiser auf und Andeuter von verborgenen
Wahrheiten, die durch wahre Deutung erst noch zu erdeuten wären, aufgefaßt.
Diesem Auftrag diente ein Arsenal an Methoden und professionellen Exegeten,
die einerseits durch Widersprüche in den Texten provoziert, andererseits durch
eine Vielzahl an Metaphern und Gleichnissen in den Texten zu neuer
Sinndeutung angeregt wurden. Darin bereitete sich das Paradigma der dritten
Stufe vor: Deuter und Deuten wurden sich selbstauffällig.

Man wurde nachdenklich über die Kriterien und Normen, nach denen man in
oder mehr noch hinter den Texten das eigentlich Gemeinte, die eigentliche
Wahrheit zu eruieren suchte. Darüber wurde Rechenschaft unausweichlich, –
und aus dem vormals dogmatischen entsprang ein nunmehr kritisches
Paradigma des Verstehens. Die Kriterien des Deutens wurden einem Wahrheits-
Check unterworfen, der seinerseits auf Kriterien und Normen von Vernunft und
Vernunftbegriffen gründen sollte. Mit der Konsequenz, daß der Stab des
Deutens weitergereicht wurde: Nicht mehr nur heilige, sondern nun auch die
Vernunfttexte der Philosophie wurden Pflicht derer, die Gott und Welt, Gottheit
und Menschheit verstehen wollten.

Doch hatte die Vernunft der Philosophie sogleich konkurrierende Vernunft-
Texte konkurrierender Philosophien anzubieten, deren Unterschiede und
Kontroversen kein Konzil und keine philosophische Evangelien-Redaktion zu
harmonisieren vermochte. Und außerdem verfügte die Philosophie als
Philosophie über kein primäres Pouvoir zur empirischen Erkenntnis von
natürlicher Welt und menschlicher Kultur und Geschichte.

Zwar versuchte das Prinzip des Protestantismus – sola scriptura – nochmals
gegenzulenken, den Sturmlauf der Vernunft oder Vernünfte aufzuhalten und
auch jede wissenschaftliche Erkenntnis von Welt und Menschheit als unnötig
und gottungefällig zu desavouieren. Doch schon Spinozas Vernunft behauptete
für möglich, allein durch Vernunft den Willen und die Gebote Gottes zu
erkennen.

Jenseits des tödlichen Streits der christlichen Konfessionen und Theologien
erschien eine Vernunft-Instanz, die diesen Streit zwar nicht entsorgen, aber auf
dessen Ruinen und über dessen Leichen eines nicht nur Dreißigjährigen
Religionskrieges einen Neuanfang setzen sollte. Rationale Philosophie sollte
sowohl als rationale Theologie wie vor allem als rationale Politik-Philosophie
eine friedliche Staatenwelt in Europa schaffen und ein rationales Verstehen von
Gott und Welt, von Vernunft und Menschheit auf den Weg bringen.

II.
Die beiden Mängel des philosophischen Neuanfangs in der nicht zufällig als
Neuzeit betitelten Epoche wurden bereits erwähnt: Konkurrierende und nicht
harmonisierbare Vernunft-Philosophien einerseits und kein philosophisch
legitimierbarer Anspruch auf empirische Erkenntnis von Welt und Menschheit.
Folglich wurde auch Spinozas Faden einer göttlichen Vernunfterkenntnis, mit
der die Menschheit Gottes Selbsterkenntnis durch dessen Vernunft hätte
nachvollziehen können, nur von Hegel und Nachfolgern, nicht von Cusanus,
noch weniger von Kant aufgenommen. Und nachvollziehbarer Weise schon gar
nicht von den Theologien der monotheistischen Religionen.

Die außergewöhnliche Schwächung der christlichen Theologien im Vollzug von
Neuzeit, Aufklärung und Moderne ist mittlerweile offenkundig. Beliebige
Austausch- und Ersetzbarkeit von Worten und Begriffen, grenzenlose „Vielfalt“
in Denken und Reden, in Erkennen und Predigen lassen den Wunsch nach einer
neuen Fundamentalisierung des Christentums verständlich erscheinen. Kirche
und Theologie sollten und könnten doch wieder zum ersten Paradigma
zurückkehren: Das Wort Gottes habe zur Menschheit gesprochen und daher sei
zum Wortlaut des authentischen Sprechens zurückzukehren. Und bei neuer,
nicht mehr den Pfaden vermeintlicher Vernunft folgender Deutung der Heiligen
Texte, ließen sich aus diesen die neuzeitlichen und modernen Errungenschaften
der Ersten Welt neu und anders begründen, – säkularer Religionsfriede im
Christentum beispielsweise, Grundlegung der Menschenrechte schon durch das
islamische Wort Gottes, und auch die Unterschiede zwischen den drei Versionen
des monotheistischen Gottes wären keine wirklichen, Allah und jüdischer wie
christlicher Gott wären identisch.

Weil aber dieser Tendenz zur Refundamentalisierung der theologischen Inhalte
die Gegentendenz zur Säkularisierung derselben Inhalte radikal widerspricht, ist
Denken und Glauben in den monotheistischen Religionen zum Zerreißen
gespannt. Einerseits soll das erste Paradigma gelten: die Unmittelbarkeit des
Wortlauts als erster Fels und letzter Anker, andererseits erzwingen die
Errungenschaften der neuzeitlichen und modernen Säkularisierung – mit den
Menschenrechten an der Spitze – eine Anpassung aller religiösen Inhalte bis hin
zu ihrer weltlichen Selbstaufgabe, am Ende als globale Nächstenliebe „ohne
Obergrenze.“

Der brisanten Entwicklung auf der Tiefenebene des Verstehens von Gott und
Mensch entspricht eine nicht weniger brisante Entwicklung der Weltgeschichte.
Führt an der Afrikanisierung und Islamisierung Europas kein Weg vorbei, sind
auch die Konzepte des bisherigen Verstehens von Welt und Menschheit in Frage
gestellt. Kollidiert die islamische Welt mit der Ersten Welt, – eine rigid
vormoderne Kultur und Religion mit einer rasant vorwärtsstürmenden
modernen Welt und Kultur, kollidieren auch alle fundamentalistischen mit allen
kritischen und modernen, philosophischen und wissenschaftlichen
Erklärungsweisen von Gott und Welt, von Politik und Kultur, und Menschheit
und Geschichte.

Daher haben die Paradigmen des Verstehens von Gott, Welt und Mensch
unmittelbare Konsequenzen für das politische Handeln der allmählich
zusammenwachsenden, aber keineswegs schon wirklich vereinigten
Menschheit. Die aktuellen Fragen der Beherrschbarkeit von modernen
Völkerwanderungen, die Frage der Gefahr neuer, nicht nur klimatischer
Weltkatastrophen, berühren immer auch Fragen des grundlegenden
Selbstverständnisses der Menschheit. Welches Unheil eine in Europa verspätete
Nation nicht nur in Europa angerichtet hat, ist bekannt; welches Unheil eine
verfrühte, noch nicht vereinigte Menschheit in Europa anrichten könnte, ist
noch unbekannt.

Die Erste Welt ist zwar prinzipiell überzeugt, daß die „globalisierte Menschheit“
der Zukunft nur nach den Prinzipien menschenrechtlich fundierter Vernunft und
Politik zu organisieren sei. Eine Überzeugung, der die Religionen auch
nachreden, ohne doch die Schwierigkeiten zureichend zu bedenken, die mit
dieser Durchsetzung verbunden sind. Schon weil vernünftiges Denken auf der
Grundlage vernünftiger Kategorien und Organisationprinzipien nicht
hauseigene Sache der Religionen sein kann. Und weil eine unübersehbare
Vielfalt an Religionen und Kulturen alle vernünftigen Einheitsprinzipien, die zur
einheitlichen Organisation und Geburt einer Menschheit unerläßlich sind,
verdunkeln und ersticken könnte. Vielfalt allein ist kein taugliches Prinzip für
Mächte, die die künftige Einheit der Menschheit organisieren und stabilisieren
sollen. Und ein tolerantes Minimal-Ethos zwischen den verschiedenen Kulturen
ist eine zu dürftige Mitte, ist kein wirklich regierendes und regierbares Zentrum.

III.

Kollidieren verschiedene Kulturen mit sehr unterschiedlichen Religionen und
deren „Weltanschauungen“, ereignet sich nicht nur ein Clash of Civilizations,
sondern zugleich auch eine Kollision im Innersten des unterschiedlichen
Verstehens von „Gott und Welt.“ Eine Tiefenkollision aller differenten Begriffe,
mit deren Anspruch und Reichweite unterschiedliche Kulturen sich selbst zu
definieren und zu verstehen pflegen. Teils mit, teils ohne ausdrückliche
Reflexion über die Grundlagen ihres Verstehens von „Gott und Welt.“

Und ärger noch: mit zugleich auch verschiedenen Methoden und Strategien
„ausdrücklicher Reflexion“ über diese ihre Grundlagen. Schon die Kategorie
„Wort Gottes“ ist daher keine einfache, sondern eine durch das Perspektiv der je
eigenen Religion und Kultur gebrochene Kategorie. Vom scheinbar identischen
Buchstabeninhalt der Worte kann nicht auf einen identischen Sinninhalt
derselben Worte geschlossen werden.

Und die Frage: ob diese und andere Grundkategorien Wahrheit und welche
Wahrheit bergen, scheint immer nur zu verschiedenen Antworten, zu
verschiedenen Begriffen von Wahrheit, beispielsweise zu unterschiedlichen
wahren „Worten Gottes“ führen zu können. Diese Verschiedenheit auf sich
beruhen zu lassen, darüber Dialoge mit toleranten Reden zu führen, ist
zweifellos nützlich im Sinne eines allgemeinen Religionsfriedens. Doch ist nicht
unbekannt, daß auch die Worte „Frieden und Religionsfrieden“ perspektivisch
gebrochen sind, weil jede Kultur gemäß ihren Definitionen von Frieden über
Frieden und Religion urteilt und ihre Art von Religions- und Weltfrieden
realisieren möchte.

Unter diesen Auspizien anzunehmen, daß unter den Kulturen
Gleichberechtigung bezüglich des Verstehens von „Gott und Welt“ herrschen
solle, führt zur interessanten Kategorie des „Multikulturalismus“, – nicht zufällig
eine Schöpfung der Ersten Welt und Kultur, eine säkulare Kategorie. Sie scheint
eine Vernunft anzunehmen, die im Mittelpunkt eines Kreises steht, an dessen
Peripherie die Kulturen gleichberechtigt lagern, somit in gleicher Ferne oder
gleicher Nähe zum Mittelpunkt. Und daher sei die multikulturelle Vernunft
berufen, von ihrem toleranten Mittelpunkt aus alle Kulturen in gleicher Weise
anzusprechen und an den großen Runden Tisch zu rufen. Mit dieser Fliege hofft
die multikulturelle Vernunft der Ersten Welt noch eine zweite Fliege zu
erledigen: Die längst überfällig gewordene Schuld des Eurozentrismus, der nur
zu Kolonialismus, Bevormundung und Ausbeutung, – zu globaler
Ungerechtigkeit geführt habe.

Unterschlagen wird dabei, daß die Erste Welt, schon seit ihren Anfängen als
noch christliches Abendland, um den Begriff der Wahrheit und den des
Verstehens, somit um den Begriff des wahren Verstehen einen langen
Diskurskampf, teils theologisch, teils philosophisch, geführt hat und immer
noch führt. Offenbar in der Überzeugung, durch und mit den Mitteln
menschlicher Vernunft lasse sich ein erhellendes Licht in das Dunkel des
unübersehbar vielfältigen Meinens und Glaubens an und über Wahrheit und
Verstehen bringen. Aus diesen Auspizien folgt jedoch eine universalistische,
nicht eine multikulturalistische Maxime: Die philosophische Kultur der Ersten
Welt, sei befugt und verpflichtet, die Lehrmeisterin der anderen Kulturen zu
machen, ohne sich deshalb als Vormund für angeblich Unmündige aufspielen
zu müssen.

Von einer Inszenierung als Vormund ist schon angesichts de
hyperdimensionalen Probleme, Menschheitsprobleme sans phrase, abzuraten.
Und doch ist die Forderung nach einer Aufklärung beispielsweise für die
islamische Welt, die somit deren eigene Aufklärung und zugleich doch auch eine
wirkliche Aufklärung sein müßte, unumgänglich geworden. Eine Aufklärung sui
generis für jede Kultur, eine stets nur kultureigene Aufklärung würde den
Hauptfaktor von Aufklärung, einer identischen Vernunft der Menschheit zu
entstammen und von deren Zielen sich leiten zu lassen, widersprechen. Mit
Normen der Vernunft läßt sich nicht multikulturell spielen, wenn es sich um
wirkliche Vernunftnormen handelt.

IV.
Ein Vernunftbegriff von Verstehen weiß, daß Normen des Verstehens auf
Prämissen beruhen, die ihrerseits als vernünftig einsehbar sein müssen, um
einen universalen Begriff zu Verstehen zu ermöglichen. Die Frage, wie man
wahre von falschen Vorurteilen trennen könne, setzt die bejahte Antwort auf die
Frage, ob Vorurteile notwendig sind, bereits voraus. Und man darf annehmen,
daß die religiösen Bejahungen je nach Religion erfolgen, der die Befragten und
Antwortenden angehören. Die je eigenen Vorurteile sind die zu bewahrenden,
sie allein führen in das Land der Wahrheit.

Daß aber Vernunft, vor dieselbe Frage gestellt, nur auf sich und ihre Geschichte
verweisen kann, auf die Kultur ihrer eigenen Traditionskette, ist gleichfalls ein
Vorurteil, das Vernunft nicht aufgeben kann. Erscheint Wahrheit als Resultat
und Leistung einer methodisch kontrollierten Vernunft, somit nicht als Wirkung
und Deutung religiöser Inhalte und Denkweisen, scheinen beide, Vernunft und
Religion, zwar getrennte Wege gehen zu können. Aber dieser Schein und dessen
Berechtigung fallen gleichfalls unter das Gebot befragender Aufklärung: Auch
die religiösen Wahrheiten werden daher, früher oder später, in das Perspektiv
der prüfenden Vernunft geraten.

Dagegen wehren sich in jeder Religion (samt Konfessionen) deren traditionelle
und fundamentalistische Eliten, weil sie eine Verdampfung der religiösen
Inhalte befürchten, letztlich das säkulare Verschwinden ihrer Religion in den
Abgründen des modernen Atheismus und Agnostizismus.

Die Vernunft der Aufklärung erscheint als tödlicher Feind der Religion(en), die
die Substanz der Religionen untergrabe und als leeren Mythos entlarve. Und
daß die geistlichen Eliten der Religionen und Konfessionen zugleich den
Schwund ihrer Macht über die von ihnen geführten Gläubigen befürchten, ist
verständlich.

V.
Nun enthält jede Religion erstens Normen des innerreligiösen und des
außerreligiösen Sozialverhaltens von Menschen. Zweitens gewisse Hoffnungen
und Versprechungen über den Tod der Menschen hinaus, zudem Aussagen
über das Woher, Wozu und Wohin des Menschen. Und drittens auch noch
Erklärungen über das Woher, Wozu und Wohin der Welt und der Menschheit
insgesamt. Diese letztgenannten Aussagen wurden als erste von der säkularen
Furie des Verschwindens erfaßt, weil sie zumeist archaischen oder
halbmythischen Epochen und Kulturen der Menschheit entstammen. Aussagen
über paradiesische Anfänge und apokalyptische Endgerichte beispielsweise
genießen in der Ersten Welt weithin nur mehr den Status interessanter Mythen,
die man als Symbole für vernünftige Begriffe, als Hinweise auf Grundsätze der
Vernunft zu lesen habe. Welcher Vernunft, ob der moralischen oder einer
anderen, ist dabei verständlicherweise von entscheidender Bedeutung.

Blasphemie etwa kann unter Vernunftbegriffen von Gott, die teils die
Nichterkennbarkeit seines Wesens, teils dessen Erkennbarkeit behaupten, – ein
zentrales Schisma aufklärender Vernunft – kein mögliches Verhalten sein.
Religionen und Religiöse sind jederzeit beleidigbar und können diesen
Tatbestand auch einklagen, aber Gott, unter Vernunftbegriffen gedacht, ist kein
Wesen, das beleidigt werden könnte. Beschimpfungen Gottes können ihr Ziel
nicht erreichen. Keine Vernunft haftet für widervernünftiges Verhalten. Wer
2+2=5 rechnet, hat das Kleine Einmaleins verfehlt, er muß vor keinem Gericht
erscheinen, er ist schon gerichtet, seine Tat war nur Untat.

Religiöses Denken kann zwar auch fragen, ob seine Religion ein bloßes
Konstrukt seines religiösen Denkens ist, aber erst die Vernunft muß methodisch
fragen, ob Vernunft mehr ist als ein bloßes Konstrukt nur vermeintlicher
Vernunft. Denn es könnte doch sein, daß erst jenseits der Grenze der Vernunft,
möglicherweise bei den naturalistischen oder anthropologischen Nachbarn und
Vorläufern der Vernunft die wirkliche Wahrheit auch der Vernunft zu finden
wäre.

(Die Norm des Kleinen Einmaleins und überhaupt jede mathematische Norm
wären ein Produkt der physischen oder/und menschlichen Evolution. Wobei der
Vernunftunterschied von Genese und Geltung unhintergehbar ist: Jede Norm
muß entdeckt, entwickelt und durchgesetzt werden; aber kein Norminhalt
empfängt die Wahrheit seiner Normativität den Prozeduren seiner Genese.)

Gerade weil die moderne Welt, im Nachvollzug der aufklärerischen Vernunft,
eine auch vernunftfeindliche Wissenschaftswelt (und eine vernunftfreie
Kunstwelt) hervorgebracht hat, ist sie befugt und verpflichtet, ihr Projekt nicht
zu verwerfen und den noch vor-vernünftigen, durch Religionen dominierten
Kulturen wie auch der postmodernen Spektakel-Kultur des Westens Paroli zu
bieten.

VI.
Denn welche andere Instanz könnte im Gedränge und Chaos der unübersehbar
vielen vormodernen Vor-Vernünfte und den kaum geringeren postmodernen
Nach-Vernünften befugt und verpflichtet sein, universale Normen zu finden, die
das Zusammen- und Überleben einer Menschheit, die noch für geraume Zeit in
Gestalt verschiedener Menschheiten existieren wird, gewährleisten?

Nun könnte man von Seite der Religionen einwenden, daß die Vernunft, sofern
sie (in einer ihrer Grund-Varianten) doch selbst zugesteht, den unergründlichen
Abgrund der Gottheit nicht erfassen zu können, folglich auch das Alpha und
Omega gewesener und künftiger Welten niemals zur Gänze wird begreifen
können, doch auch bereit sein müsse, die Möglichkeit einer neuen Religion nicht
für unmöglich zu erklären.

In naher oder ferner Zukunft könnte und sollte daher ein neuer Heiliger Text
erscheinen, den neue heilige Redakteure und Redakteurinnen aus neuen
heiligen Ereignissen und Zeugnissen destillieren könnten. Die Menschheit wäre
mit einer neuen Weltreligion beschenkt worden, der alle existierenden
Religionen nicht nur, sondern auch die „Religionen“ von Atheismus und
Agnostik zustimmen könnten. Dieses gewünschte Wunder müßte, um
Wirklichkeit werden zu können, die Schranke einer unhintergehbaren
Voraussetzung überwunden haben: Über die Vernunftanteile der neuen
Offenbarung müßte vollständiger Konsens aller Kulturen erreicht worden sein.
Ein globales Unternehmen, das sich nicht ohne erfolgreich durchgeführte
Vernunftmission verwirklichen ließe.

Mit dieser Vision oder Utopie, je nach Geschmack darf gewählt werden, hängt
untrennbar die Einsicht zusammen, daß beim vernünftigen Deuten religiöser
Inhalte entscheidet, ob deren Normen oder normative Kerne als zeitlos wahre
Normen Bestand haben oder im Prozeß des (wissenschaftlich) aufgeklärten
Verstehens verschwinden müssen. Nicht die Religionen selbst, sondern nur eine
bestimmte Art aufklärender Vernunft könnte die religiösen (Selbst)Deutungen
der Kulturen davor bewahren, ihre normativen Kerne gänzlich den
relativierenden Laugen und Säuren der modernen szientifischen Vernunft zu
überantworten. Moderner Historismus, Anthropologismus und Naturalismus
würden die Kleider der geopferten Religion(en) unter sich aufteilen.