56 Eine Kultur ohne Zentrum
Wechselnde Schwerpunkte
Nicht zufällig verfüge die moderne Demokratie über keine zentrale Hochkultur, denn ein Zentrum dieser vormodernen Art und Herkunft würde dem Prinzip Freiheit, dem der Geist der Demokratie verpflichtet sei, zutiefst widersprechen. Als der amerikanische Philosoph Richard Rorty diesen Gedanken in den 90-Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte, stand die philosophische Postmoderne Europas noch in prächtiger Blüte. Derrida und Gesinnungsgenossen hatten das Ende der Philosophie als gewissermaßen letzte noch mögliche Philosophie populär gemacht.
Wenn er zwischen Religion, Wissenschaft, Philosophie und Kunst wählen müßte, um ein Zentrum der demokratischen Kultur zu ausfindig zu machen, argumentierte Rorty, würde er am ehesten noch die Kunst wählen.
Aber diese nur deshalb, weil sie das vagste und unbestimmteste Phänomen unter den vier Kandidaten sei. Er dachte offenbar an das weite Feld der modernen Künste, das von Nichtkunst abzugrenzen, nicht einmal mehr die aktuellen Postmodernisten von heute interessiert.
Aber am liebsten wäre es ihm, gar nicht wählen zu müssen. Denn die beste Art von Kultur wäre doch jene, deren „Schwerpunkt ständig wechselte“, je nachdem gewisse „Personen oder Personengruppen etwas Anregendes, Originelles und Nützliches“ geleistet haben. Wer diesem Grundsatz folge, habe sich auch der besorgten Frage entledigt, ob die neuen Errungenschaften als „Kunst“ oder als „Philosophie“ zu gelten haben. (Richard Rorty, Eine Kultur ohne Zentrum. Stuttgart 1993)
Dreißig Jahre nach diesem antiphilosophischen Philosophen-Statement können wir bestätigen, daß wir bei den (schon damals verborgen anrückenden) Novitäten von Internet und Digitalkultur nicht mehr nach Kunst oder Philosophie fragen. Und ob die neue globale Kommunikations-Technologie, die alle Gesellschaftsbereiche der modernen Demokratie mittlerweile durchringt, auch die privaten und privatesten, bald wieder durch eine neue „nützliche Originalität“ ersetzt werden könnte, lassen wir fürs erst auf sich beruhen. Unser Kismet lautet: Internet und Digitalkultur sind das neue Kulturzentrum entweder schon, oder sie werden es noch werden.
- Christo und DJ Ötzi
Rorty hatte auch noch andere Sorgen, die uns mittlerweile fremd geworden sind. Nicht „irgendwer“ komme als „Personen und Personengruppen“ in Frage, wenn sich die Demokratie auf die Suche nach kulturnützlichen Innovationen begebe. Die potentiellen Innovativ-Kandidaten hätten entweder „gute Zeugnisse“ oder einen „gewissen Status“ vorzuweisen, ehe ihr aktuelles Angebot zu prüfen sei. Doch dieses Szenario von verbindlichem Angebot und verbindlicher Produktprüfung setze voraus, so Rorty, daß zwischen den verschiedenen Kulturbereichen „gewisse feststehende Beziehungen“ existieren, die „etwa denen zwischen den Fakultäten oder Fachbereichen einer altbackenen Universität gleichen.“
An diesem heiklen Punkt seiner Argumentation mußte er abbrechen: zwar teile er nicht seines Kollegen Foucault Hang zur Anarchie, aber dessen Mißtrauen gegen Autoritäten, die in einer (ihrer) Kultur „disziplinierende Strukturen“ aufnötigen, sei berechtigt: Nichts fördere und bestätige „die Vitalität und Freiheit einer Kultur oder Gesellschaft“ mehr, als die Infragestellung disziplinärer Strukturen und „aller Begriffe, die zur Aufspaltung der Kultur in Teilbereiche verwendet werden.“
Kein neuer „Streit der Fakultäten“ mehr, keine neuen „Preisfragen“ führender Fakultäten mehr, auch keine universitären Gremien mehr(Senate, Räte, Kommissionen usf.), die über die Befindlichkeit aller Fakultäten an den modernen Universitäten verbindlich befinden. Stattdessen? Freischwebende Innovation durch gewisse erneuerungsfreudige Personen und Personengruppen, die in allen Richtungen der demokratischen Kultur darauf warten, entdeckt zu werden.
Auch diese „philosophischen“ Naivitäten haben wir heute weit hinter uns gelassen. Öffentliche Meinungsmacher (neuerdings: „Medien“) bestimmen über „Zeugnisse und Status“ derer, die unsere vielfältig aufgespaltene Kulturmaschine anheizen und antreiben. Der neue mediale Markt sprang ein, als Vater Staat und Mutter Universität ihre Führungsrolle in Sachen Kulturentwicklung an der Garderobe der (politischen) Geschichte ablegten.
Den Verpackungskünstler Christo nach seiner Reputation zu befragen, wäre vermessen. Wer die Schleppe des Weltruhms hinter sich her zieht, muß sich um rote Teppiche nicht bekümmern, und sei es in einer Profession, in der nur einer ihr Herr und Meister sein kann.
Einen DJ (Ötzi) begrüßen die Journalisten vieler Zeitungen als begehrten Lebensberater, und sei es nur in der Frage, wie sich der selbstverschuldete Tinnitus besiegen läßt. Mit einem Wort: in der Kultur der modernen Demokratie stehen viele Supertalente in der Warteschlange, um nach der Palme eines medialen Promitums zu greifen, ohne die niemand in die engere Auswahl potentieller „zentraler“ Innovatoren der Demokratie gelangt.
- Wer übernimmt die Rolle von Religion und Kirche?
War es dieser Zustand von Demokratiekultur oder Kulturdemokratie, den Rorty erträumte? Hätte er sich gefreut, wenn er in der Sparte Religion von einem marxistischen Klimapapst via Internet über den einzigen vielleicht noch offenen Weg in eine vielleicht noch mögliche Zukunft der Menschheit belehrt worden wäre?
Mit halb verschämter Nostalgie erinnert sich Rorty: Noch im 17. und 18. Jahrhundert standen Kirche und Religion im Zentrum der Kultur. Doch schon seit dem späteren 19. Jahrhundert mußten sich Künstler nicht mehr fragen, ob ihr Tun, ihr Verhalten und ihr Denken mit den Lehren und Praxen von Kirche und Religion nochmals überstimmen könnten. Damals starteten die Wissenschaften einen nächsten Versuch, die Rolle von Religion und Kirche zu übernehmen, – auch dieser war vergeblich. Welche Wissenschaft hätte sich die demokratiewürdige Zentrumspalme aufsetzen sollen oder können? Vielleicht die Soziologie Comtes? Und warum nicht die Philosophie Hegels, die noch bis zur Mitte des Jahrhunderts neue christliche Theologien erwecken konnte?
Und geradezu erwartungsgemäß konnte sich auch eine Wissenschaft, die sich als libertäre Wissenschaftstheorie zu installieren versuchte (Carnap, Reichenbach, Popper und andere) nicht durchsetzen. Ein naturwissenschaftliches Falsifikationsprinzip und das politisch praktizierbare Prinzip totaler Toleranz: Seid offen für alles und je fremder das „Alles“, umso „offener“, – segnet zwar den totalen Dezentralismus und dessen universales Laissez-faire als neue Heilsreligion ab, ist aber wehrlos den Früchten ihres Relativismus ausgeliefert.
Verlassen dessen faulende Würmer ihr schützendes Gehäuse, legen sie sich wie Fallstricke um die Toleranten, wie um ihnen zu zeigen, daß Vielfalt allein weder ein Prinzip oder eine Heilsbotschaft ist. Wissenschaft dieser autistischen Art taugt nicht als verbindliches Organisationsprinzip einer Kultur, die nochmals als einheitliche gegen inneren Zerfall und äußeren Angriff gefeit sein möchte. Siegt aber Foucaults Anarchie auf ganzer Kulturfront, ist guter Rat teuer: der Markt der Märkte muß nur noch einsammeln, was von den Früchten dieses Baums auf die flache Erde fällt: DJ Ötzi als medial herumgereichter Lebensberater und Christo als zeitgemäßer Michelangelo.
- Dezentrisches Philosophieren beim Zerstückeln altbackener Substanzen
Oder übertreiben wir, und es ist lediglich die berühmt-berüchtigte „Ausdifferenzierung“ der modernen Kultur und Gesellschaft? Wohl nicht zufällig sieht man neuerdings „Kompetenzzentren“ auch in mittleren und kleineren Ortschaften wie „Eierschwammerl“ aus dem „betonversiegelten Boden“ wachsen.
Wenn aber die Dezentrierung der (Demokratie-)Kultur erfolgreich in Gang gebracht wurde, warum sollte dieser Erfolg nicht auch beim guten alten Träger dieser Kultur durchführbar sein? Wir erinnern uns: Es war der gute alte Mensch, es waren und sind doch „die Menschen“, die in der Rhetorik der politischen Parteien (derselben Demokratie) noch heute als „zentrale Ansprechpartner ins Spiel des Meinungen-Dschungels geworfen werden.
Ansprechpartner, bei denen es sich, wenigstens nach altbackener philosophischer Ansicht, um freie Wesen handelt, die ihre Freiheit um einen unverwüstlichen Ichkern organisieren, weil sie als vernünftige und zurechnungsfähige Wesen, und nicht jeden Tag der Woche als ein anderes ihrer „vielen Iche“ angesprochen werden wollen.
Ein nach neuester (post)philosophischer Lehre beklagenswerter Zustand: Warum verleugnen wir, was zwischen mobilem Multi-Tasking, Multi-Chatting und grenzenlosem Netflixing längst Faktum geworden ist? Weil unser gutes altes Zentrum aus einer gefährlich nachhaltigen Synthese von Germ und Teig gebacken wurde?
Und die neue Philosophie hätte dagegen kein Heilmittel gefunden? Mitnichten.
Vom Vorurteil, unserem Ich liege eine personale Identität zugrunde, die uns in allen Wechselfällen des Lebens nicht nur begleitet, sondern auch ein individuell zuschreibbares Schicksal ermöglicht, könne man sich durch ein einfaches Verfahren heilen: Wenn wir unser Ich als „narrativen Schwerpunkt“ vorstellen, der sich einmal dieses, ein anderes Mal jenes über sich erzählt, haben wir uns von den lästigen Identitätsvorstellungen zurückgebliebener Philosophen und Theologen glücklich verabschiedet.
Als Daniell Denett, ein führender Vertreter der amerikanischen „Philosophie des Geistes“, dieses Credo von sich gab, wußte er wohl nicht mehr, daß das Rezept „Selbst-Neubeschreibung“ bei Sartre noch rigid existential gemeint war. Weshalb sich der französische Existentialismus auch berufen fühlte, gegen die Versklavung der Menschheit durch unfreie Gesellschaften, die uns der Weltkapitalismus eingebrockt habe, agitatorisch ins Feld zu ziehen. (Und sei es nur mit der kulturell gezeugten Frontfrau Simone de Beauvoir). In den seligen Achtundsechziger-Jahren des vorigen Jahrhunderts eine beliebte Wahnvorstellung, denen mittlerweile noch andere von ganz anderem Kaliber gefolgt sind.
Denn heute könnte man argumentieren: der „Klimawandel“ beherrscht doch alles, und dennoch versuchen sich einige Menschen immer noch als wandellose Ich-Kerne zu behaupten, als wären sie unverwüstliche Äpfel oder Zwetschken. (Sie wissen noch nicht, daß sie neuerdings auch ihr Geschlecht unter aktuell 68 Neuangeboten wählen können.)
Wenn wir den „narrativen Schwerpunkt“ unserer Person verändern, dann ändern wir natürlicherweise auch den moralischen Schwerpunkt derselben Person, bekräftigte auch Richard Rorty, und dies mit „unmittelbar überzeugenden“ Beispielen, die von Protagoras und Sophisten-Kollegen des antiken Athen könnten zusammengestellt worden sein. Nach einer „neuen Ehe, nach einem Krieg, nach einer Psychoanalyse, oder nach einer Lebensphase als politischer Aktivist“ sei man doch ein jeweils „ganz anderer“ (geworden).
Man könnte frohlocken: die postmoderne Emanzipationsphilosophie hat endlich den mühsamen Klassenkampf um die endgültig befreite (klassenlose) Gesellschaft aufgegeben, – wenn sie nicht stattdessen einen tödlichen Kampf gegen die Vernunftidentität des Menschen eröffnet hätte. Doch sie wäscht ihre Hände in Unschuld: Von den Massenmordideologien des 20. Jahrhunderts sei keine Philosophie entfernter als die des kommenden 21. Jahrhunderts.
Unser Menschenbild wird sich radikal ändern und mit ihr die liebe Justiz, deren Recht und ewig rechthabende Richterei: Wer sich bisher als Dieb „erzählen“ mußte, weil er Einschlägiges „ausgefressen“ hatte, darf sich nun durch Umerzählen seiner Identität völlig neu „aufstellen“. Eine Errungenschaft, die auch den staatlichen Behörden der Justiz große Erleichterung verschaffen wird: Keine überfüllten Gefängnisse mehr, weil unschuldsvermutete Verbrecher in Umerzählungsanstalten überführt werden, um uns nach erfolgreicher Genesung als strahlende Anhänger ihrer New-Life-Religion zu begrüßen.
Auch die Frage nach Lüge und Wahrheit wird bei Menschen, die mit wechselndem „moralischen Schwerpunkten“ über sich und ihre Absichten erzählen, hinfällig. Das totale Vielleicht-Prinzip löst das biblisch altbackene Ja-Ja/ Nein-Nein-Prinzip ab.
Aber warum beim Ich aufhören – wenn die Dezentralisierung an allen Fronten erfolgreich voranschreitet? Rorty forderte daher, nicht nur die „Ichs“, auch alle Dinge sollten nur mehr als „Schwerpunkte von Beschreibungen“ gelten, sie ändern sich doch entschieden, sobald sie verschieden beschrieben werden.
(Unsere Astronomen lachen immer noch schallend.) Sie sollten zu lachen aufhören, könnte Rorty heute entgegnen, wenn er über den Rand seines postphilosophischen Tellers hinausschauen könnte. Nur ein Universum? Wie altbacken! Fortschrittliche Astronomen und Kosmologen finden mittlerweile beim Abzählen ihrer frei konstruierten Pluriversen kein Ende mehr.
Als Derrida und Genossen den „herkömmlichen Unterschied“ zwischen „realen“ und „intentionalen Gegenständen den Garaus bereiten wollten, bemerkten sie nicht, daß sie auch den Ast, auf dem sie selbst in ihren Studier- und Seminarräumen hockten, abzusägen begonnen hatten. Manche Geräusche der Außenwelt hören manche Philosophen nicht mehr, wenn sie der Flow des nichtidentischen Denkens in ihrer Innenwelt in neue Tiefen und Höhen hinwegführt.
Treuherzig wittgensteingläubig versicherte Rorty, daß auch die Naturwissenschaften ihren Glauben an sich selbst, der ihnen einrede, sie könnten jemals Reales („Felsen und Atome“) sachadäquat erkennen, fahren lassen sollten. Wer noch an ein inneres Wesen der Naturdinge glaube, das Wissenschaften „zutreffend wiedergeben“ könnten, habe schon die „nichtrepräsentationalistische Auffassung der Funktionen der deskriptiven Sprache“ bei Wittgenstein nicht verstanden. Für Leser, die mit Philosophiechinesisch nicht vertraut sind: Normalsterbliche glauben, daß ihre Worte und Sätze Reales aussagen, sie „repräsentieren“ die Realität, wie immer dieser geheimnisvolle Vorgang auch beschaffen sein mag. Die Philosophen des Wiener Kreises hatten sich von diesem Vorurteil aller verblendeten Normalmenschen befreit. Denn Wittgenstein, der „weltberühmte“, war dahintergekommen, mit welchen Taschenspielertricks unser Sprachgebrauch arbeitet, um uns glauben(d) zu machen, Sprache sei mehr als ein Sprachspiel.
Rorty, mit den Zeugnissen weltberühmter Autoritäten (von Wittgenstein bis Derrida) im Gepäck, war voller Zuversicht, eine neue Revolution der „Denkungsart“ in unseren Köpfen heimisch machen zu können: „Denk dir alles so, als sei es durch seine Beziehungen zu allem übrigen konstituiert. Hör‘ auf zu fragen, was dasjenige ist, das da in diesen Beziehungen steht und in allem Wandel konstant bleibt, versuch‘ keinen Unterschied zu machen zwischen den inneren zentralen Kern-Eigenschaften eines Gegenstandes, und seinen „bloß“ akzidentellen, relationalen Eigenschaften.“
Und Rorty war überzeugt: wenn das Prinzip dieser völlig politikfreien Philosophiegedanken erfolgreich durchführbar sei, (offensichtlich auch an den Universitäten der westlichen Demokratie-Kulturen) „können wir endgültig sicher sein, daß die Wissenschaft nicht im Zentrum der Kultur stehen kann.“ Endlich könnten wir uns auch von einer bis die Antike zurückreichenden Idee verabschieden: Wissenschaften seien berufen und fähig, „das Wesen der Wirklichkeit“ zu begreifen. Dieses ominöse Wesen, das Kollege (Nelson) Goodman allerdings als „Soseinsweise der Welt“ titulierte, sei prinzipiell nicht „in den Griff zu bekommen.“ Astronomen, Geologen, aber auch Biologen und Medizinwissenschaftler können sich ihre Masken, weise Wissende zu sein, abschminken. Und noch ein erfreuliches Ergebnis werde sich einstellen: Prominente philosophische Wahnvorstellungen wie eine erkennbare „Struktur des menschlichen Geistes“ oder eine erdenkbare „Fundamentalontologie des Daseins“ werden behandelbar und heilbar sein.
(Viel)mehr noch: Die noch bis heute im altgewordenen Abendland überlebende Vorstellung, „es gebe etwas, das uns allen gemeinsam ist, und sich entdecken ließe,“ dieser Wahn der alten Griechen, dessen Leitspruch (Erkenne Dich selbst) noch Hegel glaubte, seiner Geistesphilosophie als Motto voranstellen zu müssen, mag noch einige Alteuropäer-Touristen am zuständigen Tempel in Delphi ergötzen. Dann aber wird Schluß gemacht mit dem alten Europa und seinen Trabanten jenseits der beiden großen Teiche, und eine neue Menschheit wird berufen sein, nicht mehr zu erben, sondern nur noch zu verscherbeln.
Die Vermutung legt sich nahe, die radikal dezentrische Philosophie der westlichen Welt könnte in der Zwischenepoche nach 1990 auf einen langsamen Tod der Ersten Welt gesetzt haben, dem sie als (nur noch schwurbelig denkender) Leitstern vorangehen wollte. Just in jener Zwischenepoche, in der verblendete Historiker das Ende der Geschichte ausriefen, weil die Demokratie über den Weltkommunismus und in aller Welt gesiegt habe.
Später wurde dieses Triumphkonzept abgemildert: die Erste Welt sei kraft ihres Demokratie-Schatzes immerhin noch zur Missionierung der Zweiten (islamischen) und Dritten Welt berufen und befähigt. Ein Konzept, dem dann Obama einen ersten Todesstoß versetzte.
Die dezentrische Philosophie hatte andere Sorgen und Ziele, sie wollte einer anderen, einer utopischen Art von Demokratie zum Durchbruch verhelfen. Das Prinzip der totalen dezentrischen Demokratie sei letztlich und erstlich, erklärte Rorty, eine „Säkularisierung unserer Vorstellung des göttlichen Willens“.
Als habe er die Gott-ist-tot-Ideologie Nietzsches in die falsche Kehle bekommen, folgert er aus seiner „Säkularisierung“ eine neue Kultur, die gänzlich ohne Zentren, ohne Autoritäten und ohne verbindliche Kanons und Normen sich entwickeln werde. Die verblichenen vier Kandidaten von ehedem: (Religion, Philosophie, Wissenschaft und Kunst) werden nur noch als Werkzeuge und Hilfsmittel“ zur Neubeschreibung des Ichs und seiner kulturellen „Umwelt“ fungieren.
Wir wohnen somit einem Jahrtausendspektakel bei, dessen Vorname Freiheit, dessen Nachnahme Ende (freies Ende) lautet, (scheinbar)positiv gewendet: der Anfang einer utopischen Demokratiekultur die als „Verlängerung der biologischen Evolution des Menschen“ ebenso unvorhersehbar wie diese sein wird. Nicht mehr wird Wahrheit als Befreiung von Unwissenheit das Telos der Kultur, sondern Freiheit ohne Wahrheitsansprüche werde des Regulativ derer sein, die in der Schaltzentrale der kommenden Menschheit deren Führung leiten. Wobei Freiheit(nach Rorty) „ungefähr besagt: Bedingungen, unter denen sich kulturelle Entwicklungen so rasch ausbreiten, wie es mit der gemeinschaftlichen Solidarität und staatsbürgerliche Ordnung vereinbar ist.“
Woher unter diesen Evolutionsbedingungen „Solidarität und Ordnung“ rechtzeitig unter Menschen eintreffen werden, wird nicht (mehr) erörtert. Wozu auch, wenn feststeht, daß wir einer als „wahr“ erkannten Utopie von Demokratie entgegen eilen? – Diese habe übrigens schon John Dewey, einer der Väter des amerikanischen Pragmatismus anvisiert, teilt uns Rorty freimütig mit. Schon Dewey habe erkannt: „Die Demokratie sei weder eine Regierungsform noch ein sozialer Notbehelf, sondern eine Metaphysik der Beziehung des Menschen zur Natur und seiner Naturerfahrung.“ Lediglich das Wort „Metaphysik“ hätte er vermeiden sollen, aber das sei ein „Schönheitsfehler,“ kommentierte Rorty.
Wohin das vernunftfreie Geschwurbel älterer und neuerer Philosophie(n) führt, sehen wir an den neuesten pragmatischen Umdeutungen von Demokratie in den USA und in Europa. Jetzt geht es um das rasche An- und Einlernen der richtigen „Haltungen“, deren selbstevidente Ziele durch den engagierten Kampf gegen alle Arten und Unarten von „Weltuntergang“ und „Gerechtigkeitslücken“ vorgegeben seien. „Krisen als Chancen“ zu erkennen und ähnlicher Unfug dominieren das „Philosophieren“ der aktuellen „Intellektuellen-Moderne“.
Auf zur neuen Demokratie ruft die Parole, die sich noch nicht als todsichere Vorstufe zur nächsten Diktatur in der Tradition der Großideologien des 20. Jahrhunderts wissen kann. Es wird keine Rückkehr des Faschismus, auch keine des Weltkommunismus sein, sondern die Einkehr eines Dritten, das heute noch mit utopischen Chiffren zur Menschheit spricht. Und ob dieses Dritte ärger sein wird als seine beiden Vorgänger, werden künftige Generationen entscheiden, wenn sie das nächste „Nie-Wieder-Lied“ anstimmen.
Leo Dorner