12 Dürer, Selbstbildnis 1500
Erstmals in ihrer Geschichte porträtiert die Kunst des Tafelbildes das Selbstbild
eines Künstlers als Bildnis eines ästhetischen Christus alterius. Als wäre Gott als
schönes Mannsbild nochmals und besser Mensch geworden. Hundert Jahre vor
ihrer philosophischen Begründung durch Descartes betritt die Neuzeit als
säkulare Kunstreligion den Boden der Weltgeschichte. Und solange originär-
unschuldige Kunstschönheit welt- und kunstgeschichtlich möglich war,
gewährte die kunstbeseligte Selbstanschauung menschlicher Schönheit eine
ästhetische Versöhnung, die mit der religiös-christlichen noch nicht brechen
musste. Weil dieser Bruch unausweichlich war, antizipierte bereits das erste
religiös-auratische Selbstbild sein letztes im 19. Jahrhundert – Van Goghs
Verzweiflungsselbstbilder.
Dies nötigt zur Frage, ob im Auge der bildschauenden Kunst bereits vor der
kommenden Reformation das Ende der europäischen Christenheit prophetisch
erschien. Was bedeutet es sowohl für die Geschichte der Künste wie auch der
Religion, daß das Christentum als Anschein schöner Kunstreligion einmal möglich
war?
Zum ersten, daß Kunst, nicht nur die bildende, und christliche Religion in der
Moderne nur mehr extern verbindbar sind; zum zweiten, daß eine künftig zu
organisierende, affirmativ-versöhnte Wiedervereinigung der Getrennten nicht
nur unnötig, sondern auch unmöglich wäre; zum dritten, daß schon der Gedanke
an eine Renaissance der vormaligen inneren Einheit von religiösem Glauben und
künstlerischer Sinnlichkeit widersinnig geworden ist, seitdem die Künste im 19.
Jahrhundert ihrer vollständigen Ästhetisierung und ebenso die christlichen
Konfessionen ihrer autonomen Theologisierung überantwortet wurden.
Eine Kunstreligion aber, in deren Zentrum nicht mehr das Inbild von
menschlicher Schönheit steht, ist ein Selbstwiderspruch; nur als Scheinreligion
daher die der modernen Kunst möglich; ebenso aber ist auch jede
kollektivierbare Religion ohne schöne Universalsinnlichkeit ein
Selbstwiderspruch, daher nur mehr als scheinkunstfähige die einer wirklich
modernen Kirche möglich.
Wäre die Schönheit der vormodernen Künste durch die moderne Kunst
überbietbar gewesen, dann allerdings hätte ein rein ästhetischer Kunstkultus an
die Stelle des religiösen Kultus treten können. Ein autonomer Kult ästhetischer
Verklärung hätte den eschatologischen ersetzt, die kunstgeborene die
christgeborene Auferstehung.
Das neuzeitliche Reich der schönen Kunst wollte ein ewiges sein: zugleich von
und zugleich nicht von dieser Welt; ganz irdisch und ganz himmlisch, ganz
geschichtlich und ganz übergeschichtlich; und der Preis für diese
Vermessenheit, Schuld und Unvernunft war in der Geschichte der Künste nicht
mehr zu begleichen. Denn nur was wirklich nicht von dieser Welt, kann als
unerschöpfliches Verheißen in der Geschichte der Menschheit erscheinen.
Hätte Dürer das Ende der Verheißung seiner Kunst erblickt – als das schöne
Kunstbild im 19. Jahrhundert seinen auratischen Dienst kündigte, just als
Nietzsche verkündete, das Leben sei erträglich nur mehr als ästhetisches, – er
hätte die Wut vieler Reformatoren gegen den Geist der bildgewordenen
Schönheit als Kultmittel der eschatologischen Kirche verstanden.
B.
Die Schuld ihrer vollendeten Selbstbefreiung bezahlt das autonomisierte
Kunstschöne seit hundertfünfzig Jahren bekanntlich durch doppelte Sühne: das
schöne Tafelbild unserer Körpergestalt (in der Musik die absolut schöne
Entelechie tonaler Melodie) musste sowohl in die tödlichen Abgründe des
Kitsches wie in die ebenso tödlichen der fragmentierten und verzerrenden
Moderne hinabstürzen. Kitsch und Moderne zerschlugen die letzten Reste des
durch unschuldig schöne Kunst unschuldig schönen Menschen.
Während die antike Kunst am Ende ihrer Spätzeit nicht in eine nicht-mehr-
schöne Kunst, sondern in eine neue Religion übergehen sollte, weil sie wirkliche
Kunstreligion gewesen war, musste die neuzeitlich schöne Kunst in ihre totale
Autonomisierung und Befreiung übergehen, um im Zeitalter wissenschaftlicher
Zivilisierung als Refugium spielender Freiheit überleben zu können. Spielreligion
wäre daher ein passender Name für das, was wir an moderner Kunst gewonnen
haben, wenn nur dieses Spiel nicht auch ein todernstes geworden wäre.
Ist die Sinngeschichte des theonomiefähigen Kunstschönen vollbracht, wird den
Nachgeborenen das Testament eines nur mehr kunstästhetischen Auftrages
überbracht: unsere Museums-Bilderdienste vor den unumkehrbaren Hierarchien
der vollendeten Werke darf man daher wissenschaftlich oder nicht vollziehen,
darf man kunstreligiös oder nicht nennen; doch keiner kann nochmals in den
Verdacht geraten, mit dem eschatologischen Gottesdienst konkurrieren zu
wollen oder zu können. (Auch das historisch gewordene Oratorium der großen
protestantischen Kirchenmusik wurde von Musikern mit Unschuldsmiene auf
ästhetisch predigende Konzertpodien ausgelagert).
Und dennoch kann nicht geleugnet werden, daß unsere Körpergestalt dereinst
einer bildschönen Unsterblichkeit teilhaftig gewesen; ebenso nicht, dass deren
Unüberbietbarkeit allein in einem metamodernen Erkanntsein jene universale
ästhetische Auferstehung feiern kann, die zugleich alle künftige Kunst von ihrer
modernen Selbstanbetungsfurie (endlos überbietbare Befreiung und Entgrenzung) erlösen wird. Um des Schönen willen muß sich kein Künstler nochmals anstrengen. Es ist vollbracht. Die ewig moderne Kunst darf uns mit aberwitzigsten Deutungen von Welt beglücken, aber darüber hinaus repräsentiert sie lediglich eine neue Gestalt des unversöhnten Bewußtseins.
Die Schönheit der sogenannten Kunstwerke der sogenannten Alten Meister ist
dagegen das Wunder einer vorerst noch unbegriffenen Kunstoffenbarung, in der
auch das Wunder unserer Körpergestalt als unbegriffenes ergreifbar bleibt. (Film
und Fotographie haben davon kaum mehr als letzte Ahnungen). Ist der
weltgeschichtliche Augenblick für immer dahin, da eine unschuldige Malerei
unsere Gesichter und Körper zu absolut schönen Inbildern konterfeien konnte
und musste, ist seitdem jede unreflektierte Unschuld des Könnens und Müssens
von Kunst für immer unmöglich geworden. Niemals wieder wird die Künstlichkeit
von Kunst als quasinatürliche erscheinen, weil die künstlerische Mimesis an die
natürlich- ontologische Schönheit nicht mehr von einer religiösen Mimesis an
beide, die durch Vollendung ihrer auratischen Werke abgetragen wurde,
getragen werden kann.
Unschuldig sprechende Kunststile würden uns als Quadratur des Kitsches
erscheinen und bedrohen. Unbedrohlich erfahren wir dagegen die gebrochenen
und raffinierten der Moderne, weil das reflektierte Fragment, und wäre es noch
so hässlich, und der schamlose Kitsch, und wäre er noch so „schön“ und „naiv“,
nicht mehr beauftragt sind, das Sterbliche unseres Wesens durch
quasinatürlichen Schein als absolut schönen Schein zu übermalen.
Mag die manierlose Manier der universalen Stile auch dem gesellschaftlichen
Boden der neuzeitlichen Geschichte entstiegen sein, das Warum ihrer
Vollendungen ist nicht mit deren empirischen Ursachen identisch, der Grund
des Erscheinens ist tiefer als die historischen Bedingungen, die sich der
unbedingte Grund für sein Erscheinen voraussetzte. Die tragenden
Verbindungsfundamente der Meisterstile und – werke sind weder auf
gesellschaftliche Bedingungen noch auf individuell- geniale Charismen als
Letztgründe und Letztzwecke zurückzuführen.
Folglich kann diese auratisch-einmalige Geschichte auch nicht in ein künftiges
empirisches Vergessen, auch nicht in ein bloß museales Deponieren und
Dokumentieren ihrer Artefakte verschwinden, obwohl, wie es zunächst scheint,
nur die Artefakte als Ruinen des verstorbenen Geistes zurückbleiben. Im
Gegenteil: der Tod des ersten und geschichtlich gezeugten Geistes ist die
Bedingung der Geburt des zweiten, der den Schein der Dinge im absoluten
Wissen durchschaut.
Auf dass sich in der wahrhaft ästhetischen Kommunion von morgen auch die
religiöse, deren Erhebung Dürers unwiederholbare Bildentwesung des Geistes
sich verdankt, nochmals verkläre; auch wenn davon nur mehr ein paar
Erwählte sich nähren sollten, – in einer für immer säkularen
Sinnenwelt von morgen, – man betrachte den schön gekreuzigten
„Christus am Kreuz“ aus dem Jahr 1508 A.D. C.
Aber sollten die Entgrenzungen und Verstörungen, die der modernen Malerei
seit dem 20. Jahrhundert zugänglich wurden, nicht berufener sein, dem in seine
säkulare Wüste geratenen christlichen Glauben beizustehen? Eine
trostverweigernde Kunst müsste doch als „ideale“ ästhetische Repräsentantin
unserer „humanitären Lage“ fungieren können; ein nicht nicht-mehr-schöner
Christus modernus als ecce homo einer Moderne, die das christliche
Versöhnungsangebot verwirft.
Warum ist dennoch die geschundene Bildikone eines Christus modernus
keineswegs von höherer oder tieferer religiöser Glaubenswürdigkeit? Die
naheliegende Antwort: weil eine trostverweigernde Kunst dem Geist einer
Religion des universalen Trostes widerspräche, vergißt nicht nur, daß auch die
traditionelle Kunst (nicht nur) auf ihren mittelalterlichen Stilstufen den
verstümmelten Ecce homo im religiös-ästhetischen Aura-Kanon mitführte; sie
vergißt weiters und tiefer, dass die säkulare Ästhetik der Moderne eine
atheistische Religionskritik freisetzte, in deren Okular die christliche Religion
insgesamt als unwahre Veranstaltung vormoderner Kultur stigmatisiert wurde.
Daran zerbrach die Glaubwürdigkeit jeder modern ästhetischen „Nachahmung“
von Christi Leiden und Tod, um vom undarstellbar gewordenen Auferstehen zu
schweigen.
Daher verschafft Picassos „Guernica“ oder ein Papstporträt Francis Bacons den
Kunstkonsumenten von heute einen prickelnden Erlösungsreiz, während eine
expressionierte Reihe moderner Christusse, die uns anklagend aus den Höllen
von KZ und Gulag, von Tschernobyl und den Slums der Dritten Welt vorgeführt
wird, nur als aufgesetzte Montage und Stilblüte, weder als ästhetische
Überwältigung noch als religiöse Erweckung wahrnehmbar ist.
Wer sich am Prickeln vor den geschundenen Bildikonen der Moderne delektiert,
delektiert sich an seiner eignen Unversöhnbarkeit als einer zeitgemäß
modernen. Folglich scheint sie ertragbar, scheint die totale Kontingenz
menschlicher Existenz aushaltbar, und eben dieser am Markt der modernen
Bilder angebotenen Ersatzerlösung widmet sich das Kommentargeplauder
unserer Museen, Vernissagen, Bildbände und Kunstdiskurse. Die Tragekraft der
Bilder bleibt ein Schein, und darüber wissen insgeheim alle Bescheid.
Wahrscheinlich nicht zufällig daher, daß moderne Kunst im fortgeschrittenen
Stadium ihres Versuchs, sich als Ersatzreligion zu entgrenzen, die kollektiven
Kulte archaischer Blut- und Rauschorgien zu reinszenieren versucht. Das Betreffen des modernen Menschen durch moderne Kunst soll durch die Wiedererweckung unserer archaischen Natur(religion) nicht
nur ultimativ glaubwürdig, sondern auch sozial inkarnierbar werden.
Indem wir uns als kreative Fleischhauer rituell stilisieren, in Tierblut und
Eingeweiden wühlen, werden wir – am Rande dessen, was man einst noch
Blasphemie nannte – als blutverschmierte ästhetische Subjekte des Mysteriums
einer Erlösung teil, die sich am Altar eines Fleisches dünkt, dessen Selbst-Opfer
das christliche endgültig desavouiert. Wie und an welchem Ort unseres
modernen Lebensgefühls die blutströmende Kreativität des letzten
Erlösungskünstlers mit der geistentleerten des modernen Unterhaltungskünstler
identisch ist, wäre an diesem verborgenen Ort erfahrbar: vermutlich mit Furcht
und Zittern, mit Schrecken und Schreien.
Wie das 20. Jahrhundert schmerzlich bewiesen hat, waren alle Versuche, sowohl
die Artefakte und Kunstkulte der modernen Ästhetik der Häßlichkeit und
Kontingenz, wie auch die der unterhaltenden Massenkünste in den Kult unserer
Kirchen verbindlich zu integrieren, zu unverbindlichem Scheitern verurteilt. Ein
weltgeschichtliches Novum: erstmals ein religiöser Kult ohne aktuelle Ästhetik
und Kunstübung, erstmals Riten ohne zeitgemäße Sinnenbühne, erstmals eine
Selbsthistorisierung der eschatologischen Dienste, als würde aller Kult und Ritus
in das Grab einer unglaubwürdig gewordenen Zeichensinnlichkeit absinken.
Woraus die vormoderne Religion und Kunst, deren Gesellschaft und Eliten die
Kraft bezogen, ein gemeinsames Leben im Trostlicht des absoluten zu
organisieren, eben daran scheitert in der Moderne jeder Versuch, den
eschatologischen Kult als zeitgemäße Vermittlung von kirchlichem
aggiornamento und modernem ecce homo einzurichten. Kult und Religion
zerfallen in der scheinewigen Enklave einer nur mehr historischen Gestalt von
Ewigkeit und Erlösung inmitten einer Gegenwart von Kunst und
Lebenssinnlichkeit, die stets rasender ins moderne Nichts ihrer Unerlösbarkeit
rast.
Mai 2006