18 Zum europäischen Verhängnis
I.
Obwohl es geschehen ist, kann man zwar behaupten, es hätte auch nicht
geschehen müssen; aber da man diese Behauptung gegenüber allen
Entwicklungen und Ereignissen der Geschichte behaupten kann, ist die
Belanglosigkeit der Behauptung evident. In der Geschichte ist entscheidend und
wirklich, was geschehen ist, und dies bedeutet: was geschieht. Geschichte ist
das Geschehene, und nur das wirklich Geschehende ist wirkliche Geschichte. In
jedem Augenblick der Geschichte kann zwar immerfort „alles“ geschehen, und
doch geschieht in jedem Augenblick der Geschichte immer nur eines und nicht
alles andere – nicht Geschehende. Dies ist der sogenannte historische
Augenblick, das sogenannte historische Ereignis, die Entfaltung der
sogenannten historischen Mächte und Verhängnisse.
Ein zentrales Verhängnis Europas als Beispiel: die Feindschaft zwischen
Deutschland und Frankreich, die in der langen Geschichte der beiden
Kontrahenten – Frankreich wurde schon früh eine auch geographisch vereinte
Nation, Deutschland erst sehr spät – zu insgesamt siebenundzwanzig Kriegen
führte. Zählt man die modernen Kriege seit Napoleon vereinfacht zusammen,
sind es vier Kriege – die napoleonischen, 1871, 1914 und 1939/1945 – , die zur
Endkatastrophe des alten Europa führten.
Gerade die Wiederkehr des Ungeheuers Krieg zwischen diesen beiden Nationen
belegt nochmals die Belanglosigkeit der Behauptung, es hätte auch nicht
geschehen müssen, die Feindschaft der beiden Nationen und ihrer wechselnden
(Unterstützer)Freunde und Feinde hätte auch nicht sein müssen. Und so scheint
die Frage: warum mussten diese Kriege geschehen?, durch die einfache
Auskunft beantwortet: weil Feindschaft zwischen beiden war, war auch Krieg
zwischen beiden unausweichlich. Doch diese Antwort führt unmittelbar zur
tieferen Frage: war die Feindschaft notwendig, mußte sie sein, war sie
unausweichlich? Hätte sie nicht auch nicht sein können? Wäre die Geschichte
Europas nicht auch ohne diese Feindschaft möglich gewesen? Wäre daher nicht
auch eine andere, eine vielleicht „ganz andere“ Geschichte Europas möglich
gewesen? Die einzig vernünftige Antwort auf diese Frage lautet: jede mögliche
wäre möglich gewesen, doch allein die wirklich mögliche sollte und konnte
wirklich und historisch werden.
Aber gesetzt den Fall, die Feindschaft zwischen Deutschland und Frankreich
wäre notwendig gewesen, weil die Konstellation der europäischen Mächte und
Nationen ohne Konflikte, ohne Kampf um die Vorherrschaft in und über Europa
unmöglich war, – war denn die Geschichte Europas notwendig? Hätte diese nicht
in ganz anderer Weise oder gar nicht stattfinden können? Irgendwo anders
hätten irgendwelche anderen Mächte eine ganz andere Geschichte erhandeln
und hinterlassen können. Und wäre diese nicht eine ebenso gültige Geschichte
geworden und gewesen, wenn sie denn geschehen wäre?
II.
Ohne Zweifel ist dieser Versuch, die Notwendigkeit des Geschehenen zu
„hinterfragen“ und zu problematisieren, nichts weiter als ein irrationaler
Versuch, sie zu hintergehen, sie zu ignorieren und zu übertölpeln. Wir wollen ihr
ausweichen, um von ihrer unausweichlichen Strenge hinaus auf das scheinbar
freie Feld einer Alles-Möglichkeit zu gelangen, um letztendlich behaupten zu
können: nicht Notwendigkeit (und Freiheit) sei dem Geschehen eingeschrieben,
sondern Zufälligkeit und Willkür. Es hätte alles auch ganz anders kommen
können, weil in keinem Augenblick der Geschichte feststehe, welcher der
nächste sein wird.
Daß aber beides gilt: die relative Unbestimmtheit des nächsten Augenblicks und
die ebenso absolute Bestimmtheit desselben: welche Art von Reflexion könnte
dies durchschauen und begreifen? Die gewöhnliche Reflexion ist entweder
fatalistisch und wähnt ein deterministisches Schicksal, das jegliche Freiheit und
Selbstbestimmung der geschichtlich Handelnden liquidiert, als Drahtzieher
„hinter“ und in allen Entwicklungen und Ereignissen der Geschichte; oder sie ist
dezisionistisch und wähnt ein völlig offenes Möglichkeitsreservoir als Grund und
Ursache aller Entwicklungen und Ereignisse. Der Macht eines allmächtigen
Schicksals korrespondiert die Macht einer willkürlichen „Entwicklung“ und
unbegrenzten Entscheidungsfreiheit – zwei Abstraktionen: Ursache und Produkt
abstrakter Reflexion.
Selbstverständlich kann der Regress eines Fragens, das ohne Ende jede
Notwendigkeit der Geschichte hinterfragt und ihres vermeintlich trügerischen
Scheins überführt, an allen Kulturen und Mächten, Imperien, Staaten und
Nationen, Entwicklungsphasen und -momenten der Geschichte durchgeführt
werden, ohne dabei etwas anderes als einen unendlichen Regress vorführen zu
können. Der Fatalismus bringt den Regress gewalttätig zu Ende; der
Dezisionismus führt ihn ebenso gewalttätig ins Unendliche.
Wäre die Geschichte der Hellenen ohne die Dauerfeindschaft Athens mit Sparta
möglich gewesen? Hätte sich der Peloponnesische Krieg nicht doch verhindern
lassen? Ein Krieg, der nach Ansicht des ersten nichtmythischen Historikers der
Weltgeschichte das alte Griechenland vom neuen trennte, weil er die bisherigen
Weltordnungsvorstellungen des griechischen Mythos über den Haufen
geworfen hatte?
Und in Analogie dazu: war der Zweite Weltkrieg eine Zäsur, die das alte vom
neuen Europa endgültig trennte? Weil im neuen Europa die überholten
Prinzipien von Kirchen- und Fürstenmonarchie, National- und Ökonomie-
Ideologie nie mehr Prinzipien einer europäischen Vereinigung sein werden?
III.
Wie schwierig es auch für deutsche Philosophen war, den katastrophalen Gang
der Geschichte Europas im 20. Jahrhundert zu begreifen, beweist nicht nur
die verblendete Identifikation Heideggers mit dem
nationalistischen Übel Deutschland (ein auch philosophisches Versagen der
deutschen Philosophie, das noch heute kontrovers – entschuldigend versus
anklagend – diskutiert wird), sondern auch die gegensätzliche Deutung zweier
anderer Philosophen des Volkes der Dichter und Denker, die durch das
nationalsozialistische Deutschland ins Exil vertrieben wurden.
Während Helmuth Plessner die Ursache der deutschen Katastrophe im
antidemokratischen Sonderweg Deutschlands eruierte, in seinem Widerstand
gegen den politischen Humanismus Frankreichs, Englands und der USA, glaubte
der (wenig) jüngere Karl Löwith die Ursache für den politischen Absturz
Deutschlands im genauen Gegenteil gefunden zu haben: Hitlerdeutschland sei
durch den europäischen Aufbruch in die demokratisch organisierte und
industriell reproduzierte Massengesellschaft ermöglicht und zwangsläufig
herbeigeführt worden.
Um diesen Irrtum zu begründen, berief er sich (1936) auf einige prognostische
Thesen Jacob Burckhardts, aus deren Interpretation Löwith folgerte, daß
Hitlerdeutschland das notwendige Resultat, „die letzte Konsequenz“ der
modernen Demokratie, ihres allgemeinen Wahlrechtes und ihrer kulturellen und
sozialen „Nivellierungen“ sei. In einer Zeit also, in der sich Thomas Mann von
seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“, in denen er Deutschland als
Kulturmacht gegen die bloßen Zivilisationsmächte Frankreich, England und USA aufmöbliert hatte, längst mit Erschrecken distanziert haben dürfte, hielt Löwith an einer Deutung der Demokratie und ihrer Entwicklung in Europa fest, die sie als Quell des Bösen und als geradezu deterministische Ursache des Entstehens von Diktatur und Massenverblendung deutete.
Nach dieser Deutung wäre eine Rettung Europas nur durch eine Rückkehr in die
vormoderne europäische Kultur und Machtpolitik zu finden gewesen, und zu
verdammen wären im Grunde bereits die französische und die amerikanische
Revolution, auch wenn nur die französische zu Terror und zur „Despotie“
Napoleons geführte hatte; beide hätten den egalitären und nivellierenden
demokratischen Bazillus mittels „allgemeiner Menschenrechte“ in
die Welt gesetzt, um Unglück und Untergang des alten Europa zu besiegeln.
Napoleon als Vorläufer Hitlers (und Stalins?), der böhmische Gefreite aber ohne
Sieg, der korsische Offizier immerhin mit Siegen über ganz Europa bestückt, ehe
auch seine „Despotie“ besiegt wurde, ein im Denken der „Ewiggestrigen“ von
heute noch heute beliebter Vergleich, der Hitler auf eine Stufe mit Napoleon
stellt, und den Geist des code civil bewusst oder unbewußt als
eine Art „Kulturverbrechen“ denunziert.
IV.
Löwith übersah oder ignorierte, daß Burckhardt zwar kritische Zeiten für das
Europa des nächsten Jahrhunderts prophezeite, auch einen universalen
„Niedergang der Kultur“, weil die Weiterführung der „Revolutionszeiten“ alle
staatliche und religiöse Autorität erschüttern würde; aber der
geschichtsphilosophisch dilettierende Kulturhistoriker hatte auch die durch die
Aufklärung angestoßene Umgestaltung der Kultur – „des ganzen
Autoritätsstaatswesens und Autoritätsreligionswesens“ – als berechtigte Kritik an
der (relativen) Unfreiheitsgesellschaft des vormodernen Staatskirchentums und
seiner dynastischen Gewaltmonarchien anerkannt.
An dieser Argumentation Pro-und-Contra – Demokratie-Kultur versus Nicht-
Demokratie-Kultur -, fällt die vernachlässigte Beziehung der Prinzipien-Ebene
auf die Ereignis-Ebene der Geschichte ins Auge; und ohne Analyse dieser
Beziehung ist der „Motor“ keiner Geschichte, am wenigsten der von
katastrophalen Geschichten, zu begreifen. Die vorhin genannte abstrakte
Polarität von entweder fatalistischer oder dezisionistischer Deutung des
Geschichtsverlaufes kann als abstrakte Entgegensetzung durchschaut und
begriffen werden, wenn man die permanente Dialektik (Entwicklung) von
prinzipieller und ereignissetzender Ebene nicht aus den Augen verliert. Jedes
(historische) Ereignis realisiert eine Seite des (historischen) Prinzips; aber das
Prinzip verändert sich durch die realisierten Ereignisse gleichfalls.
Wäre die Weimarer Republik auch ohne das Ereignis „Versailles“ in Diktatur und
Massenwahn gestürzt? Eine offensichtlich müßige Frage, ein verkapptes
(anklagendes) Argument einer (der Geschichte) äußerlichen Reflexion, das
voraussetzt, es hätte keinen Ersten Weltkrieg geben können, und der Vertrag
von Versailles, der dem „Verlierer“ Deutschland die bekannten „unannehmbaren
Bedingungen“ diktierte, hätte auch anders, harmloser und „friedliebender“
ausfallen können und sollen. Aber die richtige Einsicht, daß es weder den Ersten
Weltkrieg noch „Versailles“ hätte geben müssen, ist keine Antwort auf die Frage,
warum es beide dennoch und unwiderruflich geben mußte.
Es ist trivial offensichtlich, daß die Missgeburt einer deutschen Demokratie
namens „Weimarer Republik“ als geschichtliches Faktum sowohl durch
prinzipielle Gründe – den nationalen Wahn einer verspäteten und verführten
Nation – wie auch durch die konkreten (Ereignis)Ursachen der Geschichte – eine
besiegte und beleidigte Nation – in die Weltgeschichte geworfen wurde.
Und selbstverständlich hatten alle prinzipiellen Gründe wiederum ihre
geschichtliche Genese: der nationale Wahn gründete auf und begann mit
unzähligen Fehlbedingungen und -Fehlentwicklungen, die sich schon im
Deutschland des 19. Jahrhunderts kristallisierten, etwa in der ebenso unseligen
wie nicht verhinderbaren Entwicklung deutscher Rechtsbildung. Wer oder was
hätte im Deutschland Bismarcks verhindern können, daß die Historische
Rechtsschule (Savigny) der Hegelschen den Rang ablaufen sollte, um alsbald in
einen Rechtspositivismus zu verdunsten, der schlussendlich die verratenen
Prinzipien vernünftiger Staats- und Gesellschaftsgerechtigkeit den jeweiligen
Machteliten Deutschlands in Staat und Gesellschaft glaubte straflos
überantworten zu können?
V.
Da die Deutungsthese Löwiths, gewonnen an einer (umgedeuteten)
Geschichtsdeutung Burckhardts, daß die demokratischen Revolutionen am Ende
(des Revolutionszeitalters) totalitär werden müssten, lediglich für Deutschland
und Russland, allenfalls noch für Italien und Spanien (im europäischen Raum)
stichhältig war, ist die bloß partielle historische Wahrheit dieser Deutung der
Beweis ihrer logischen Unwahrheit. Und die Aufgabe der Geschichte war
demnach, der Vernunft und Freiheit des höheren Prinzips gegen die Verirrung
durch Nationalsozialismus, Faschismus und Kommunismus zum Durchbruch zu
verhelfen.
Die Denunziation der Demokratie als unvernünftiger politischer Freiheit, denn
darauf lief das – in der Weimarer Republik ubiquitäre – Deutungskonzept
Löwiths hinaus, zwang ihn, die angeblich „ziellose Energie“ des demokratischen
Willens von Staat und Gesellschaft darauf zurückzuführen, daß der von
übermächtigen Kirchen und Dynastien befreite Bürger mit seiner unter
schweren Opfern erkämpften Freiheit nichts mehr anfangen konnte, weil sich
eben die Demokratie nicht als das gelobte Land der Freiheit, sondern als ein
Irrweg der Geschichte erwiesen habe. Daher wären am Ende auch die
modernen (deutschen) Eliten von Staat und Gesellschaft bereit gewesen, ihre
Freiheit den neuen Mächten einer neuen Gewaltherrschaft zu unterwerfen. Der
politische Wille wäre demnach in Europa nur befreit worden, um einer ärgeren
Unfreiheit als zuvor anheimzufallen. Und das Schicksal der „Dialektik der
Aufklärung“, aus vermeintlicher Vernunft nichts als totalitäre Unvernunft
gebären und vollstrecken zu müssen, kann somit als Deutungsungeheuer
deutschen Denkens dechiffriert werden. Es verwechselt stets die deutsche und
russische Geschichte im 20. Jahrhundert mit dem Nabel der Weltgeschichte.
Löwith übersah, daß Burckhardt die historische (Ereignis)Quelle einer möglichen
deutschen Katastrophe, das drohende Abdriften in einen gewalttätigen
Unrechtsstaat, sehr wohl erkannt hatte. Während die westliche (nicht-deutsche)
Kultur „vermöge konstitutioneller Einrichtungen“ die expandierende
europäische Zivilisation und Kultur bis nach Asien aufblühen lasse und die
Macht des Staates durch die Installierung eines (demokratisch verfassten)
Verfassungsstaates „unter Kuratel“ stelle, wurde dieser Siegeszug der
konstitutionellen Idee in Deutschland durch die von der „preußischen Regierung
und Armee gemachte große deutsche Revolution von 1866 abgeschnitten“. Eine
„Revolution“, die der preußischen Dynastie in der Tat ermöglichte, die deutsche
Gesellschaft durchgängig zu militarisieren, wodurch, so Burckhardt, ein
„Kasernenhofstaat“ entstehen könnte, der in ganz Europa Schule zu machen
drohe. Die Niederlage des deutschen Parlaments im preußischen
Verfassungskonflikt, – eine der ersten Manifestationen Deutscher Ideologie –
hätte somit auch Plessner, unter Bezug auf Burckhardt, für seine (richtige)
Deutung der europäischen und deutschen Geschichte reklamieren können.
Löwith entging, daß Burckhardt die Energien der entstehenden bürgerlichen
Gesellschaft als aktive und prosperierende erkannt hatte, unter der Führung
Englands, „im Weltalter von Verkehr und Erwerb“, sogar berufen und
verpflichtet, das „östliche Asien zu öffnen und alle dort noch vorhandenen
passiven Existenzen zu durchdringen.“ – Und auch darin war für Deutschland
nur ein Sonderweg eröffnet: seine Kolonialisierungen fielen im Vergleich zu
jenen von Frankreich, England und den anderen europäischen Mächten dürftig
aus.
Burckhardt hatte die konstitutionelle Wende der europäischen Monarchien im
19. Jahrhundert als Aufbruch in eine Globalgeschichte gedeutet, als Durchbruch
einer „rein erwerbenden Welt“, mithin als Anfang von kapitalistischen und
zugleich demokratischen Verfassungsstaaten, durch deren weltgeschichtliche
Realisierung durchaus möglich und zu hoffen sei, daß der „als Fortschritt“
bezeichnete „große optimistische Wille“ der angebrochenen Gründerzeit zu
„etwas Dauerndem (das heißt relativ Dauerndem)“ führen könnte.
Der Versuch Deutschlands, an seinem Wesen den Rest der Welt, ebenso der
Versuch Russlands, den Rest der Welt durch die kommunistische Heilslehre
einer imperialen Sowjetunion genesen zu lassen, liegen hinter uns. Welche
Haupt- und Sonderentwicklungen liegen vor uns? Zu welchen werden schon in
unseren Tagen die entscheidenden Prinzipien konzeptiert und die ebenso
entscheidenden Ereignisse ausgeführt?
VI.
Der unter IV. formulierte Satz über die permanente Dialektik von Prinzipien- und
Ereignis-Ebene behauptet für den Vollzug der Weltgeschichte ein permanentes
Wechselwirken zwischen prinzipiellen Doktrinen und ihren entsprechenden oder
auch mehr oder weniger widersprechenden Ereignissen und kollektiven
Handlungen. Ein Wechselwirken, das in seinem vollständigen Umfang
gewöhnlich erst post fest einsichtig wird und das keineswegs bedeutet, die
Weltgeschichte wäre der Ort totaler Relativität, das Geschehen eines
kontingenten historischen Relativismus, wonach durch zufällige Ereignisse
zufällige Doktrinen und umgekehrt entstünden und den Gang der Geschichte
bestimmten. Es sind die aktiven Doktrinen, die, als Antwort auf unerträglich
gewordene Zustände und Ereignisse, somit aufgrund ihrer Vernunfthaltigkeit,
die Geschichte vorantreiben. Selbstverständlich gegen ihre Gegendoktrinen und
deren Realitäten, denn anders brauchten sie – die neuen Freiheitsideen und –
praxen – nicht (mehr)aktiv sein. Sind die Gegendoktrinen und deren untragbare
Zustände beseitigt, mutieren die aktiven Doktrinen in einen mehr oder weniger
selbstverständlichen – entweder (als Recht und Pflicht)) aufgeschriebenen oder
ungeschriebenen – Rechts- und Sittenzustand, und die nächste (tiefere) aktive
Doktrin knüpft sich ihren nächsten Feind auf der Achse des Bösen vor.
Daß Sklaverei menschenunwürdig sei, war in der vordemokratischen Geschichte
Europas weder Doktrin noch durchgesetztes Ereignis, weder Religion noch
Politik glaubten an die Doktrin, noch weniger an deren globale
Durchsetzbarkeit. Seitdem sie in der Ersten Welt durchgesetzt ist, muß sie
natürlich gegen Rückfälle wie Menschenhandel und ökonomische Ausbeutung
verteidigt werden, – von der nachzuholenden Entwicklung in der Zweiten
(islamischen) und Dritten Welt und deren durch verspätete (zurückgebliebene)
Religion und Politik bedingten Doktrinen und Zuständen ganz zu schweigen.
Und die Schwierigkeiten, im Restgebiet des ehemaligen Welt-Kommunismus die
Doktrin der Menschenrechte und des demokratischen Rechtsstaates
durchzusetzen, sind bekannt.
Als John F. Kennedy 1962 auf dem Höhepunkt der Kubakrise den Abzug der
sowjetischen Raketen von Kuba erzwang, begründete er die Legitimität seines
Ultimatums mit einer Doktrin, die einer seiner Vorgänger 1823 verkündet hatte:
die Monroe-Doktrin. Eine aktive Konstante mithin, die sich eines langen und
erfolgreichen Lebens erfreut, sie hat nun auch die Prüfung durch den
expandierenden Weltkommunismus bestanden.
Als nach Kriegsende 1945 die Zerschlagung Deutschlands in eine Vielzahl kleiner
Staaten (in die ehemaligen Kleinstaaten seiner Geschichte) erwogen wurde, um
das mehrfach straffällig gewordene Ungeheuer in der Mitte Europas für immer
zu beseitigen, waren es die USA, die den Bestand eines Staates der Deutschen
sicherten, weil zum einen die Ideologie der kommunistischen Despotie und
Diktatur den Osten Europas zu okkupieren begann, zum anderen eine Horde
deutscher Kleinstaaten doch wieder nach seiner „höheren“ nationalen Einheit
gestrebt und somit im Zentrum des neu zu schaffenden Europa neuerlich für
Instabilität gesorgt hätte. Deutschland blieb erhalten: Auch dies eine Konstante,
die sich bewährt hat; sie ist selbstverständlich geworden, denn niemand
bezweifelt die Unnötigkeit, das heutige Deutschland zu teilen und zu beseitigen,
auch wenn sich vor allem in Frankreich und England Stimmen erhoben, die 1990
gegen die Wiedervereinigung von West- und Ost-Deutschland Einwände und
Bedenken vorbrachten.
VII.
Sollte Russlands Putin am Beginn des 21. Jahrhunderts ähnlich wie Amerikas
Monroe am Beginn des 19. Jahrhunderts eine Doktrin des Interventionsverbotes
für alle nichtrussischen Mächte in der (nur vage zu begrenzenden) russischen
Machthemisphäre aufstellen, käme es zu spät, denn in den Anliegerstaaten der
ehemaligen Sowjetunion und heutigen Großmacht Rußland hat der Bazillus der
Freiheit Eingang gefunden. Doktrin steht gegen Doktrin, und allen Russen,
überall, wohin sie durch die sowjetische Eroberung und Besatzung verschlagen
wurden, eine russische Heimat (wieder) zu schaffen, würde am Ende auch das
Großreich Rußland korrumpieren und gefährden. Gilt für Washington die
Doktrin, daß der Kalte Krieg vorbei ist, gilt dies für Moskau noch nicht (ganz),
weil es seinen sowjetischen Phantomschmerz noch nicht überwunden und
seinen sowjetischen Phantomtraum noch nicht ausgeträumt hat.
Als Wladimir Putin nach 1991 erklärte, der Zerfall der Sowjetunion sei die größte
Katastrophe des 20. Jahrhunderts, glaubten die gut und unkriegerisch
gewordenen Europäer (vor allem in West-Europa) sich verhört zu haben, oder
sie glaubten, über einen Fauxpas des in Demokratie noch unerfahrenen
Politikers, eines ehemaligen KGB-Agenten, hinweghören zu sollen. Ein Lehrling
in Sachen Demokratie bedürfe der Nachsicht des Lehrers, und nicht wenige in
Europa und vor allem in Deutschland hofften, eher mit Rußland als mit den USA,
denen sie doch die Vernichtung der nationalsozialistischen und die
Zerschlagung der kommunistischen Ideologie verdankten, im anbrechenden
21.Jahrhundert zur (mit)bestimmenden Weltmacht aufsteigen zu können.
Diese Fehleinschätzung der aktuellen Lage, die fatal an frühere Appeasement-
Politiken Europas erinnert, gründet in einer vor allem in Deutschland ubiquitären Unterstellung: die USA hätten mittels Monroe-Doktrin
die ganze Welt zu ihrer Hemisphäre gemacht, wie schon der Nazi-Ideologe Carl
Schmitt erkannt habe. Amerika habe „zweierlei Maß angelegt“, als es zwischen
moralisch neuen und korrupten alten Systemen unterschied. Allerdings muß es
den Neid und das Unverständnis derer erregen, an deren (Un)Wesen
(Deutschland und Russland) das Wesen der Welt sollte genesen, daß nun
ausgerechnet am demokratischen (Macht)Wesen Amerikas das
(undemokratische) Wesen der Welt soll genesen.
Das „Amerikaproblem“ Deutschlands gründet in dessen unbewältigter
Vergangenheitsbewältigung; es wähnt sich mit Anti-Holocaust- und „Nie wieder
Diktatur“ – Ritualen in der Gegenwart angekommen; ein Irrtum, der durch
weltpolitische Beschränktheit gerächt wird. Die Unfähigkeit, mit der „Rolle“ der
USA zurechtzukommen – „kein Blut für Öl“, keine Unterstützung für Diktaturen
und repressive Ideologien (Taliban; Irak, Iran), sondern sogleich und
augenblicklich demokratische Freiheit und nichts als die reine (pazifistische)
Wahrheit – führt heute dazu, daß wir den deutschen Michel in die Arme Putins
eilen sehen. Zu grober Beschädigung Europas, das eben noch wähnte, an seiner
friedlichen Modell- und Vorzeigeregion habe die ganze Welt zu genesen.
September 2008