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18 Zum europäischen Verhängnis

I.

 

Obwohl es geschehen ist, kann man zwar behaupten, es hätte auch nicht geschehen müssen; aber da man diese Behauptung gegenüber allen Entwicklungen und Ereignissen der Geschichte behaupten kann, ist die Belanglosigkeit der Behauptung evident. In der Geschichte ist entscheidend und wirklich, was geschehen ist, und dies bedeutet: was geschieht. Geschichte ist das Geschehene, und nur das wirklich Geschehende ist wirkliche Geschichte. In jedem Augenblick der Geschichte kann zwar immerfort „alles“ geschehen, und doch geschieht in jedem Augenblick der Geschichte immer nur eines und nicht alles andere – nicht Geschehende. Dies ist der sogenannte historische Augenblick, das sogenannte historische Ereignis, die Entfaltung der sogenannten historischen Mächte und Verhängnisse.

Ein zentrales Verhängnis Europas als Beispiel: die Feindschaft zwischen Deutschland und Frankreich, die in der langen Geschichte der beiden Kontrahenten – Frankreich wurde schon früh eine auch geographisch vereinte Nation, Deutschland erst sehr spät – zu insgesamt siebenundzwanzig Kriegen führte. Zählt man die modernen Kriege seit Napoleon vereinfacht zusammen, sind es vier Kriege – die napoleonischen, 1871, 1914 und 1939/1945 – , die zur Endkatastrophe des alten Europa führten.

Gerade die Wiederkehr des Ungeheuers Krieg zwischen diesen beiden Nationen belegt nochmals die Belanglosigkeit der Behauptung, es hätte auch nicht geschehen müssen, die Feindschaft der beiden Nationen und ihrer wechselnden (Unterstützer)Freunde und Feinde hätte auch nicht sein müssen. Und so scheint die Frage: warum mußten diese Kriege geschehen?, durch die einfache Auskunft beantwortet: weil Feindschaft zwischen beiden war, war auch Krieg zwischen beiden unausweichlich.

Doch diese Antwort führt unmittelbar zur tieferen Frage: war die Feindschaft notwendig, mußte sie sein, war sie unausweichlich? Hätte sie nicht auch nicht sein können? Wäre die Geschichte Europas nicht auch ohne diese Feindschaft möglich gewesen? Wäre daher nicht auch eine andere, eine vielleicht „ganz andere“ Geschichte Europas möglich gewesen? Die einzig vernünftige Antwort auf diese Frage lautet: jede mögliche wäre möglich gewesen, doch allein die wirklich mögliche sollte und konnte wirklich und historisch werden.

Aber gesetzt den Fall, die Feindschaft zwischen Deutschland und Frankreich wäre notwendig gewesen, weil die Konstellation der europäischen Mächte und Nationen ohne Konflikte, ohne Kampf um die Vorherrschaft in und über Europa unmöglich war, – war denn die Geschichte Europas notwendig? Hätte diese nicht in ganz anderer Weise oder gar nicht stattfinden können? Irgendwo anders hätten irgendwelche anderen Mächte eine ganz andere Geschichte erhandeln und hinterlassen können. Und wäre diese nicht eine ebenso gültige Geschichte geworden und gewesen, wenn sie denn geschehen wäre?

 

II.

 

Ohne Zweifel ist dieser Versuch, die Notwendigkeit des Geschehenen zu „hinterfragen“ und zu problematisieren, nichts weiter als ein irrationaler Versuch, sie zu hintergehen, sie zu ignorieren und zu übertölpeln. Wir wollen ihr ausweichen, um von ihrer unausweichlichen Strenge hinaus auf das scheinbar freie Feld einer Alles-Möglichkeit zu gelangen, um letztendlich behaupten zu können: nicht Notwendigkeit (und Freiheit) sei dem Geschehen eingeschrieben, sondern Zufälligkeit und Willkür. Es hätte alles auch ganz anders kommen können, weil in keinem Augenblick der Geschichte feststehe, welcher der nächste sein wird.

Daß aber beides gilt: die relative Unbestimmtheit des nächsten Augenblicks und die ebenso absolute Bestimmtheit desselben: welche Art von Reflexion könnte dies durchschauen und begreifen? Die gewöhnliche Reflexion ist entweder fatalistisch und wähnt ein deterministisches Schicksal, das jegliche Freiheit und Selbstbestimmung der geschichtlich Handelnden liquidiert, als Drahtzieher „hinter“ und in allen Entwicklungen und Ereignissen der Geschichte; oder sie ist dezisionistisch und wähnt ein völlig offenes Möglichkeitsreservoir als Grund und Ursache aller Entwicklungen und Ereignisse. Der Macht eines allmächtigen Schicksals korrespondiert die Macht einer willkürlichen „Entwicklung“ und unbegrenzten Entscheidungsfreiheit – zwei Abstraktionen: Ursache und Produkt abstrakter Reflexion.

Selbstverständlich kann der Regreß eines Fragens, das ohne Ende jede Notwendigkeit der Geschichte hinterfragt und ihres vermeintlich trügerischen Scheins überführt, an allen Kulturen und Mächten, Imperien, Staaten und Nationen, Entwicklungsphasen und -momenten der Geschichte durchgeführt werden, ohne dabei etwas anderes als einen unendlichen Regreß vorführen zu können. Der Fatalismus bringt den Regreß gewalttätig zu Ende; der Dezisionismus führt ihn ebenso gewalttätig ins Unendliche.

Wäre die Geschichte der Hellenen ohne die Dauerfeindschaft Athens mit Sparta möglich gewesen? Hätte sich der Peloponnesische Krieg nicht doch verhindern lassen? Ein Krieg, der nach Ansicht des ersten nichtmythischen Historikers der Weltgeschichte das alte Griechenland vom neuen trennte, weil er die bisherigen Weltordnungsvorstellungen des griechischen Mythos über den Haufen geworfen hatte?

Und in Analogie dazu: war der Zweite Weltkrieg eine Zäsur, die das alte vom neuen Europa endgültig trennte? Weil im neuen Europa die überholten Prinzipien von Kirchen- und Fürstenmonarchie, National- und Ökonomie-Ideologie nie mehr Prinzipien einer europäischen Vereinigung sein werden?

 

III.

 

Wie schwierig es auch für deutsche Philosophen war, den katastrophalen Gang der Geschichte Europas im 20. Jahrhundert zu begreifen, beweist nicht nur die verblendete Identifikation Heideggers mit dem nationalistischen Übel Deutschland (ein auch philosophisches Versagen der deutschen Philosophie, das noch heute kontrovers – entschuldigend versus anklagend – diskutiert wird), sondern auch die gegensätzliche Deutung zweier anderer Philosophen des Volkes der Dichter und Denker, die durch das nationalsozialistische Deutschland ins Exil vertrieben wurden.

Während Helmuth Plessner die Ursache der deutschen Katastrophe im antidemokratischen Sonderweg Deutschlands eruierte, in seinem Widerstand gegen den politischen Humanismus Frankreichs, Englands und der USA, glaubte der (wenig) jüngere Karl Löwith die Ursache für den politischen Absturz Deutschlands im genauen Gegenteil gefunden zu haben: Hitlerdeutschland sei durch den europäischen Aufbruch in die demokratisch organisierte und industriell reproduzierte Massengesellschaft ermöglicht und zwangsläufig herbeigeführt worden.

Um diesen Irrtum zu begründen, berief er sich (1936) auf einige prognostische Thesen Jacob Burckhardts, aus deren Interpretation Löwith folgerte, daß Hitlerdeutschland das notwendige Resultat, „die letzte Konsequenz“ der modernen Demokratie, ihres allgemeinen Wahlrechtes und ihrer kulturellen und sozialen „Nivellierungen“ sei. In einer Zeit also, in der sich Thomas Mann von seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“, in denen er Deutschland als Kulturmacht gegen die bloßen Zivilisationsmächte Frankreich, England und USA aufmöbliert hatte, längst mit Erschrecken distanziert haben dürfte, hielt Löwith an einer Deutung der Demokratie und ihrer Entwicklung in Europa fest, die sie als Quell des Bösen und als geradezu deterministische Ursache des Entstehens von Diktatur und Massenverblendung deutete.

Nach dieser Deutung wäre eine Rettung Europas nur durch eine Rückkehr in die vormoderne europäische Kultur und Machtpolitik zu finden gewesen, und zu verdammen wären im Grunde bereits die französische und die amerikanische Revolution, auch wenn nur die französische zu Terror und zur „Despotie“ Napoleons geführte hatte; beide hätten den egalitären und nivellierenden demokratischen Bazillus mittels „allgemeiner Menschenrechte“ in die Welt gesetzt, um Unglück und Untergang des alten Europa zu besiegeln. Napoleon als Vorläufer Hitlers (und Stalins?), der böhmische Gefreite aber ohne Sieg, der korsische Offizier immerhin mit Siegen über ganz Europa bestückt, ehe auch seine „Despotie“ besiegt wurde, ein im Denken der „Ewiggestrigen“ von heute noch heute beliebter Vergleich, der Hitler auf eine Stufe mit Napoleon stellt, und den Geist des code civil bewußt oder unbewußt als eine Art „Kulturverbrechen“ denunziert.

 

IV.

 

Löwith übersah oder ignorierte, daß Burckhardt zwar kritische Zeiten für das Europa des nächsten Jahrhunderts prophezeite, auch einen universalen „Niedergang der Kultur“, weil die Weiterführung der „Revolutionszeiten“ alle staatliche und religiöse Autorität erschüttern würde; aber der geschichtsphilosophisch dilettierende Kulturhistoriker hatte auch die durch die Aufklärung angestoßene Umgestaltung der Kultur – „des ganzen Autoritätsstaatswesens und Autoritätsreligionswesens“ – als berechtigte Kritik an der (relativen) Unfreiheitsgesellschaft des vormodernen Staatskirchentums und seiner dynastischen Gewaltmonarchien anerkannt.

An dieser Argumentation Pro-und-Contra – Demokratie-Kultur versus Nicht-Demokratie-Kultur -, fällt die vernachlässigte Beziehung der Prinzipien-Ebene auf die Ereignis-Ebene der Geschichte ins Auge; und ohne Analyse dieser Beziehung ist der „Motor“ keiner Geschichte, am wenigsten der von katastrophalen Geschichten, zu begreifen. Die vorhin genannte abstrakte Polarität von entweder fatalistischer oder dezisionistischer Deutung des Geschichtsverlaufes kann als abstrakte Entgegensetzung durchschaut und begriffen werden, wenn man die permanente Dialektik (Entwicklung) von prinzipieller und ereignissetzender Ebene nicht aus den Augen verliert. Jedes (historische) Ereignis realisiert eine Seite des (historischen) Prinzips; aber das Prinzip verändert sich durch die realisierten Ereignisse gleichfalls.

Wäre die Weimarer Republik auch ohne das Ereignis „Versailles“ in Diktatur und Massenwahn gestürzt? Eine offensichtlich müßige Frage, ein verkapptes (anklagendes) Argument einer (der Geschichte) äußerlichen Reflexion, das voraussetzt, es hätte keinen Ersten Weltkrieg geben können, und der Vertrag von Versailles, der dem „Verlierer“ Deutschland die bekannten „unannehmbaren Bedingungen“ diktierte, hätte auch anders, harmloser und „friedliebender“ ausfallen können und sollen. Aber die richtige Einsicht, daß es weder den Ersten Weltkrieg noch „Versailles“ hätte geben müssen, ist keine Antwort auf die Frage, warum es beide dennoch und unwiderruflich geben mußte.

Es ist trivial offensichtlich, daß die Mißgeburt einer deutschen Demokratie namens „Weimarer Republik“ als geschichtliches Faktum sowohl durch prinzipielle Gründe – den nationalen Wahn einer verspäteten und verführten Nation – wie auch durch die konkreten (Ereignis)Ursachen der Geschichte – eine besiegte und beleidigte Nation – in die Weltgeschichte geworfen wurde.

Und selbstverständlich hatten alle prinzipiellen Gründe wiederum ihre geschichtliche Genese: der nationale Wahn gründete auf und begann mit unzähligen Fehlbedingungen und -Fehlentwicklungen, die sich schon im Deutschland des 19. Jahrhunderts kristallisierten, etwa in der ebenso unseligen wie nicht verhinderbaren Entwicklung deutscher Rechtsbildung. Wer oder was hätte im Deutschland Bismarcks verhindern können, daß die Historische Rechtsschule (Savigny) der Hegelschen den Rang ablaufen sollte, um alsbald in einen Rechtspositivismus zu verdunsten, der schlußendlich die verratenen Prinzipien vernünftiger Staats- und Gesellschaftsgerechtigkeit den jeweiligen Machteliten Deutschlands in Staat und Gesellschaft glaubte straflos überantworten zu können?

 

V.

 

Da die Deutungsthese Löwiths, gewonnen an einer (umgedeuteten) Geschichtsdeutung Burckhardts, daß die demokratischen Revolutionen am Ende (des Revolutionszeitalters) totalitär werden müßten, lediglich für Deutschland und Rußland, allenfalls noch für Italien und Spanien (im europäischen Raum) stichhältig war, ist die bloß partielle historische Wahrheit dieser Deutung der Beweis ihrer logischen Unwahrheit. Und die Aufgabe der Geschichte war demnach, der Vernunft und Freiheit des höheren Prinzips gegen die Verirrung durch Nationalsozialismus, Faschismus und Kommunismus zum Durchbruch zu verhelfen.

Die Denunziation der Demokratie als unvernünftiger politischer Freiheit, denn darauf lief das – in der Weimarer Republik ubiquitäre – Deutungskonzept Löwiths hinaus, zwang ihn, die angeblich „ziellose Energie“ des demokratischen Willens von Staat und Gesellschaft darauf zurückzuführen, daß der von übermächtigen Kirchen und Dynastien befreite Bürger mit seiner unter schweren Opfern erkämpften Freiheit nichts mehr anfangen konnte, weil sich eben die Demokratie nicht als das gelobte Land der Freiheit, sondern als ein Irrweg der Geschichte erwiesen habe. Daher wären am Ende auch die modernen (deutschen) Eliten von Staat und Gesellschaft bereit gewesen, ihre Freiheit den neuen Mächten einer neuen Gewaltherrschaft zu unterwerfen. Der politische Wille wäre demnach in Europa nur befreit worden, um einer ärgeren Unfreiheit als zuvor anheimzufallen. Und das Schicksal der „Dialektik der Aufklärung“, aus vermeintlicher Vernunft nichts als totalitäre Unvernunft gebären und vollstrecken zu müssen, kann somit als Deutungsungeheuer deutschen Denkens dechiffriert werden. Es verwechselt stets die deutsche und russische Geschichte im 20. Jahrhundert mit dem Nabel der Weltgeschichte.

Löwith übersah, daß Burckhardt die historische (Ereignis)Quelle einer möglichen deutschen Katastrophe, das drohende Abdriften in einen gewalttätigen Unrechtsstaat, sehr wohl erkannt hatte. Während die westliche (nicht-deutsche) Kultur „vermöge konstitutioneller Einrichtungen“ die expandierende europäische Zivilisation und Kultur bis nach Asien aufblühen lasse und die Macht des Staates durch die Installierung eines (demokratisch verfaßten) Verfassungsstaates „unter Kuratel“ stelle, wurde dieser Siegeszug der konstitutionellen Idee in Deutschland durch die von der „preußischen Regierung und Armee gemachte große deutsche Revolution von 1866 abgeschnitten“. Eine „Revolution“, die der preußischen Dynastie in der Tat ermöglichte, die deutsche Gesellschaft durchgängig zu militarisieren, wodurch, so Burckhardt, ein „Kasernenhofstaat“ entstehen könnte, der in ganz Europa Schule zu machen drohe. Die Niederlage des deutschen Parlaments im preußischen Verfassungskonflikt, – eine der ersten Manifestationen Deutscher Ideologie – hätte somit auch Plessner, unter Bezug auf Burckhardt, für seine (richtige) Deutung der europäischen und deutschen Geschichte reklamieren können.

Löwith entging, daß Burckhardt die Energien der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft als aktive und prosperierende erkannt hatte, unter der Führung Englands, „im Weltalter von Verkehr und Erwerb“, sogar berufen und verpflichtet, das „östliche Asien zu öffnen und alle dort noch vorhandenen passiven Existenzen zu durchdringen.“ – Und auch darin war für Deutschland nur ein Sonderweg eröffnet: seine Kolonialisierungen fielen im Vergleich zu jenen von Frankreich, England und den anderen europäischen Mächten dürftig aus.

Burckhardt hatte die konstitutionelle Wende der europäischen Monarchien im 19. Jahrhundert als Aufbruch in eine Globalgeschichte gedeutet, als Durchbruch einer „rein erwerbenden Welt“, mithin als Anfang von kapitalistischen und zugleich demokratischen Verfassungsstaaten, durch deren weltgeschichtliche Realisierung durchaus möglich und zu hoffen sei, daß der „als Fortschritt“ bezeichnete „große optimistische Wille“ der angebrochenen Gründerzeit zu „etwas Dauerndem (das heißt relativ Dauerndem)“ führen könnte.

Der Versuch Deutschlands, an seinem Wesen den Rest der Welt, ebenso der Versuch Rußlands, den Rest der Welt durch die kommunistische Heilslehre einer imperialen Sowjetunion genesen zu lassen, liegen hinter uns. Welche Haupt- und Sonderentwicklungen liegen vor uns? Zu welchen werden schon in unseren Tagen die entscheidenden Prinzipien konzeptiert und die ebenso entscheidenden Ereignisse ausgeführt?

 

VI.

 

Der unter IV. formulierte Satz über die permanente Dialektik von Prinzipien- und Ereignis-Ebene behauptet für den Vollzug der Weltgeschichte ein permanentes Wechselwirken zwischen prinzipiellen Doktrinen und ihren entsprechenden oder auch mehr oder weniger widersprechenden Ereignissen und kollektiven Handlungen. Ein Wechselwirken, das in seinem vollständigen Umfang gewöhnlich erst post fest einsichtig wird und das keineswegs bedeutet, die Weltgeschichte wäre der Ort totaler Relativität, das Geschehen eines kontingenten historischen Relativismus, wonach durch zufällige Ereignisse zufällige Doktrinen und umgekehrt entstünden und den Gang der Geschichte bestimmten.

Es sind die aktiven Doktrinen, die, als Antwort auf unerträglich gewordene Zustände und Ereignisse, somit aufgrund ihrer Vernunfthaltigkeit, die Geschichte vorantreiben. Selbstverständlich gegen ihre Gegendoktrinen und deren Realitäten, denn anders brauchten sie – die neuen Freiheitsideen und -praxen – nicht (mehr)aktiv sein. Sind die Gegendoktrinen und deren untragbare Zustände beseitigt, mutieren die aktiven Doktrinen in einen mehr oder weniger selbstverständlichen – entweder (als Recht und Pflicht)) aufgeschriebenen oder ungeschriebenen – Rechts- und Sittenzustand, und die nächste (tiefere) aktive Doktrin knüpft sich ihren nächsten Feind auf der Achse des Bösen vor.

Daß Sklaverei menschenunwürdig sei, war in der vordemokratischen Geschichte Europas weder Doktrin noch durchgesetztes Ereignis, weder Religion noch Politik glaubten an die Doktrin, noch weniger an deren globale Durchsetzbarkeit. Seitdem sie in der Ersten Welt durchgesetzt ist, muß sie natürlich gegen Rückfälle wie Menschenhandel und ökonomische Ausbeutung verteidigt werden, – von der nachzuholenden Entwicklung in der Zweiten (islamischen) und Dritten Welt und deren durch verspätete (zurückgebliebene) Religion und Politik bedingten Doktrinen und Zuständen ganz zu schweigen. Und die Schwierigkeiten, im Restgebiet des ehemaligen Welt-Kommunismus die Doktrin der Menschenrechte und des demokratischen Rechtsstaates durchzusetzen, sind bekannt.

Als John F. Kennedy 1962 auf dem Höhepunkt der Kubakrise den Abzug der sowjetischen Raketen von Kuba erzwang, begründete er die Legitimität seines Ultimatums mit einer Doktrin, die einer seiner Vorgänger 1823 verkündet hatte: die Monroe-Doktrin. Eine aktive Konstante mithin, die sich eines langen und erfolgreichen Lebens erfreut, sie hat nun auch die Prüfung durch den expandierenden Weltkommunismus bestanden.

Als nach Kriegsende 1945 die Zerschlagung Deutschlands in eine Vielzahl kleiner Staaten (in die ehemaligen Kleinstaaten seiner Geschichte) erwogen wurde, um das mehrfach straffällig gewordene Ungeheuer in der Mitte Europas für immer zu beseitigen, waren es die USA, die den Bestand eines Staates der Deutschen sicherten, weil zum einen die Ideologie der kommunistischen Despotie und Diktatur den Osten Europas zu okkupieren begann, zum anderen eine Horde deutscher Kleinstaaten doch wieder nach seiner „höheren“ nationalen Einheit gestrebt und somit im Zentrum des neu zu schaffenden Europa neuerlich für Instabilität gesorgt hätte. Deutschland blieb erhalten: Auch dies eine Konstante, die sich bewährt hat; sie ist selbstverständlich geworden, denn niemand bezweifelt die Unnötigkeit, das heutige Deutschland zu teilen und zu beseitigen, auch wenn sich vor allem in Frankreich und England Stimmen erhoben, die 1990 gegen die Wiedervereinigung von West- und Ost-Deutschland Einwände und Bedenken vorbrachten.

 

VII.

 

Sollte Rußlands Putin am Beginn des 21. Jahrhunderts ähnlich wie Amerikas Monroe am Beginn des 19. Jahrhunderts eine Doktrin des Interventionsverbotes für alle nichtrussischen Mächte in der (nur vage zu begrenzenden) russischen Machthemisphäre aufstellen, käme es zu spät, denn in den Anliegerstaaten der ehemaligen Sowjetunion und heutigen Großmacht Rußland hat der Bazillus der Freiheit Eingang gefunden. Doktrin steht gegen Doktrin, und allen Russen, überall, wohin sie durch die sowjetische Eroberung und Besatzung verschlagen wurden, eine russische Heimat (wieder) zu schaffen, würde am Ende auch das Großreich Rußland korrumpieren und gefährden. Gilt für Washington die Doktrin, daß der Kalte Krieg vorbei ist, gilt dies für Moskau noch nicht (ganz), weil es seinen sowjetischen Phantomschmerz noch nicht überwunden und seinen sowjetischen Phantomtraum noch nicht ausgeträumt hat.

Als Wladimir Putin nach 1991 erklärte, der Zerfall der Sowjetunion sei die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts, glaubten die gut und unkriegerisch gewordenen Europäer (vor allem in West-Europa) sich verhört zu haben, oder sie glaubten, über einen Fauxpas des in Demokratie noch unerfahrenen Politikers, eines ehemaligen KGB-Beamten, hinweghören zu sollen. Ein Lehrling in Sachen Demokratie bedürfe der Nachsicht des Lehrers, und nicht wenige in Europa und vor allem in Deutschland hofften, eher mit Rußland als mit den USA, denen sie doch die Vernichtung der nationalsozialistischen und die Zerschlagung der kommunistischen Ideologie verdankten, im anbrechenden 21 Jahrhundert zur (mit)bestimmenden Weltmacht aufsteigen zu können.

Diese Fehleinschätzung der aktuellen Lage, die fatal an frühere Appeasement-Politiken Europas erinnert, gründet in einer vor allem in Deutschland ubiquitären Unterstellung: die USA hätten mittels Monroe-Doktrin die ganze Welt zu ihrer Hemisphäre gemacht, wie schon der Nazi-Ideologe Carl Schmitt erkannt habe. Amerika habe „zweierlei Maß angelegt“, als es zwischen moralisch neuen und korrupten alten Systemen unterschied. Allerdings muß es den Neid und das Unverständnis derer erregen, an deren (Un)Wesen (Deutschland und Rußland) das Wesen der Welt sollte genesen, daß nun ausgerechnet am demokratischen (Macht)Wesen Amerikas das (undemokratische) Wesen der Welt soll genesen.

Das „Amerikaproblem“ Deutschlands gründet in dessen unbewältigter Vergangenheitsbewältigung; es wähnt sich mit Anti-Holocaust- und „Nie wieder Diktatur“ – Ritualen in der Gegenwart angekommen; ein Irrtum, der durch weltpolitische Beschränktheit gerächt wird. Die Unfähigkeit, mit der „Rolle“ der USA zurechtzukommen – „kein Blut für Öl“, keine Unterstützung für Diktaturen und repressive Ideologien (Taliban; Irak, Iran), sondern sogleich und augenblicklich demokratische Freiheit und nichts als die reine (pazifistische) Wahrheit – führt heute dazu, daß wir den deutschen Michel in die Arme Putins eilen sehen. Zu grober Beschädigung Europas, das eben noch wähnte, an seiner friedlichen Modell- und Vorzeigeregion habe die ganze Welt zu genesen.

September 2008