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67 Die Gezeiten der modernen Zeiten

Noch ein Blick in das ausgestorbene Konversationslexikon

Werfen wir einen Blick in die Konversationslexika des 19. Jahrhunderts, um zu prüfen, was man in dieser nahvergangenen Zeit über Raum und Zeit dachte, – welchen allgemeinverbindlichen Begriffen von Raum und Zeit der damalige Zeitgeist sich verpflichtet wußte -, erleben wir einen „Kulturschock“: Die Zuversicht der damaligen Artikel-Schreiber, allgemeine und verbindliche Begriffe über Zeit und Raum liefern zu können, ist mittlerweile vollständig zerstoben und in viele Sonderbegriffe zerteilt und aufgelöst.

Offensichtlich war es damals noch einmal möglich, unter der unterbewußten Federführung einer Philosophie, die nach kaum mehr als drei bis fünf Richtungen zählte, das Bildungsgut „allgemeine Konversation“ über gemeinsame Phänomene erfolgreich zu organisieren und auch für Buchverlage lukrativ zu gestalten. Es gab eine Mehrheit gemeinsamer Phänomene, über die eine alle Stände übergreifende und verbindende Konversation für möglich gehalten wurde.

Der damalige kulturelle Small-Talk mußte allerdings noch ohne telegene Talkshows auskommen, – noch regierte das Buch der Gelehrten, Dichter und Denker als Leitmedium einer Kultur und Gesellschaft, die eine primär lesende und schreibende gewesen sein muß.

Diversifizierte Begriffe für User

Betrachten wir „Zeit und Raum“ heute, fällt unser erster Blick auf das Angebot von „Wikipedia“: Der digitale Erbe der ruinierten Lexika-Tradition geht von radikal „diversifizierten“ Begriffen aus, denn je nach Wissenschaft(en) oder Nichtwissenschaft(en) werden „Informationen“ über Zeit und Raum „vorsortiert“ und neben- oder besser übereinandergestapelt. Welchen Begriff von Zeit und Raum der „geneigte User“ sich zu Gemüte führt, bleibt seinen Vor- und Nachlieben überlassen. Der selbstverständliche Appell, die reiche Vielfalt zu nutzen („usen“) und zwischen den Artikeln verschiedenster Sortimente „frei zu wählen“, muß nicht mehr eigens erwähnt werden.

Wikipedia definiert sich als „freie Enzyklopädie“, weshalb prinzipiell jeder Interessent, der sich des Schreibens von Beiträgen für fähig hält, als Autor willkommen ist. Es soll aber dennoch kundige Redaktionen geben, die über das Sortiment der eingehenden Texte Wache halten. Noch die freieste digitale Demokratie liebt es nicht, mit gesetzloser Anarchie gleichgesetzt zu werden.

Aber noch eine weitere radikale Revolution hat unser Wissen über alles und nichts erfaßt: es wird permanent verändert und erweitert. Die Zeit- und Raumartikel der ausgestorbenen Konversationslexika wurden vermutlich von zwei oder drei Generationen gelesen, sie blieben auch bei Neuauflagen der Lexika oft unverändert, schon weil sie die Bücherregale ansehnlich gefüllt und den Besitzer als gutbürgerlich Gebildeten präsentiert hatten.

Heute, im Zeitalter der digitalen Permanenz-Veränderung, wird jeder Artikel von konkurrierenden Artikelautoren oder Redaktions-Kuratoren auf seine Erneuerungsbedürftigkeit hin geradezu dauerüberholt. Denn wir leben im Zeitalter einer Wissensexplosion, – obzwar mitten in einem ganz anderen Zeitalter von Bildungsnot und Bildungsverelendung.

Und manche Nachdenker wollen überhaupt herausgefunden haben, daß die heutige Menschheit erstmals in mehreren Zeitaltern zugleich lebt. Das nächste klopfe bereits an die Tür des pluralistisch diversifizierten von heute: Nur noch eine letzte Tabuschranke zwinge die aktuell werkenden Wikipedia-Redaktionen, Artikeln von Autoren der „Künstlichen Intelligenz“, die man früher vielleicht „Maschinenautoren“ genannt hätte, auszuschließen. Warum soll ein versiertes Datenprogramm nicht besser als jeder Mensch in der Lage sein, die unübersehbar gewordene Menge des weltweit gesammelten Wissens über Zeit und Raum übersichtlich zusammenzustellen?

In der heutigen (letzten?) Übergangszeit erscheinen Philosophie-Lexika manchmal in doppelter Ausführung: In Druck- und in digitaler Form, damit auch der Besitzer und „User“ eines PCs in Lage ist, das gedruckte Wort auf seinem „Bildschirm“ lesen zu können, – ein siegreicher (Marktprodukt-) Name, der den richtigeren von „Textschirm“ erst gar nicht hat aufkommen lassen. In diesen allerletzten Lexika einer langen Ahnengalerie finden wir üblicherweise einige standardisierte Sätze auch über Raum und Zeit, die sich wie ein Echo aus Eintragungen in anderen (letzten) Lexika ausnehmen.

Zwischen Alltag und „aussichtsloser Unternehmung“

Raum und Zeit lesen wir da, sind einerseits in aller Menschen Alltagsmund und Alltagswissen, – eine Selbstverständlichkeit, über die jeder Mensch seine eigenen Begriffe mit sich herumtrage. Anderseits sei es ein „aussichtsloses Unternehmen“, in einem Begriffe-Lexikon (auch der Philosophie) zu versuchen, eine verbindliche Definition von Raum und Zeit vorzuführen. Natürlich spricht man jetzt nicht mehr von so banalen Dingen wie einer „Definition“, sondern stattdessen (vollgeschwurbelt) von einer – „informativen Explikation der Bedeutung von Raum und Zeit“. Doch leider scheint uns der Zugang auch zu dieser edlen Wissensware verwehrt zu sein: Was schon heute „aussichtlos“ ist, wird in Zukunft noch aussichtsloser sein. Zu viele Wissenschaften sind wie zu viele Köche in der hohen Haubenküche: Nur noch ein Einheitsbrei, der jeden verbindlichen Begriff von Zeit- und Raum eher verhöhnt und deren Realität als beliebige Fiktion denunziert, wird den Menschen der wissenschaftsdominierten modernen Kultur angeboten.

Weil Zeit und Raum wie viele andere Grundbegriffe der modernen Alltagskultur durch eine babylonische Wissenschaften-Pluralität fragmentiert wurden und erodiert sind, geschieht es zwangsläufig, daß sich eine große Mehrheit der aktuellen Menschheit jenen Wissenschaften zuwendet, die es zu Massenpopularität gebracht haben. Begriffe, die bisher für Realitäten von unproblematischer Wirklichkeit einstanden und dem Leben der Menschen Halt und Orientierung vermittelten, sind nicht mehr. Fraglos dominiert heute beispielsweise in allen Fragen des Begriffs der Zeit eine globale Phalanx physikalischer Zeittheorien, mit Einstein als Säulenheiligen einer vier- und mehrdimensionalen Zeit, der in Deutschland, dank populärjournalistischer Mithilfe, auch einen großen Schwarm interessierter Jugend animiert.

Und wenn sich gewisse lebensweltliche Dimensionen der Zeit nicht in physikalische Begriffe übersetzen lassen und dennoch Nöte und Fragen aufwerfen, ist ein Heer von Beratern zur Stelle – psychologische, psychotherapeutische, soziologische, biologische und andere Berater -, die den bedrängten Zeit-Genossen zur Seite stehen.

Und die moderne Philosophie? Erschöpft sich ihr Beitrag durch sprachanalytisch „geschulte“ Texte, die sich mit Wittgenstein die letzten philosophischen Zähne an den unübersehbar vielen Bedeutungen der ominösen Worte Zeit und Raum ausbeißen?

Offensichtlich fristen nun Bücher mit fundamentalphilosophischen Zeitbegriffen ihr verkanntes Dasein im Antiquarat für (nicht mehr verkaufbare) philosophische Bücher.

Zwei Zeitbegriffe rumoren am Grund aller anderen

In der babylonischen Wissenschaften-Pluralität der Gegenwart umgarnen uns widersprechende Botschaften auch über das Wesen der Zeit. Diese scheint ein zunächst nur zweigeteiltes Wesen zu sein: denn einmal „begegnet sie uns von außen“ als eine „objektive Zeit“, die uns auch als „physikalische Zeit der Uhren“ vorgestellt wird. Doch irgendwie begegnet sie uns zugleich auch von innen: denn eine „innere Zeiterfahrung“ könne kein Mensch leugnen, und diese verweise auf die nicht-physikalische Zeit einer „inneren Zeiterfahrung“.

Wird nun der objektiven Zeit eine objektive Erfahrung zugeordnet, der inneren Zeit aber eine nur subjektive Erfahrung, schon weil die Warteminuten beim Zahnarzt länger sind als beim Fußballspiel, erhebt sich die Frage, ob eine objektive Erfahrung, die nicht zugleich auch eine subjektive Erfahrung wäre, überhaupt möglich ist. Oder noch penibler:  wodurch wird eine objektive Erfahrung eigentlich „objektiv“? Um das Frage- und Antworte-Spiel abzukürzen und das heutzutage mehrheitsfähige Resultat vorwegzunehmen: Was physisch gegeben ist und daher physikalisch untersuchbar ist, das existiert objektiv: Alles andere jedoch, speziell aber Erfahrungen, die sich als „innere“ vorstellen und auf einen inneren Sinn berufen, könnten auch Fiktion und Einbildung sein. Ein Beweis ihrer Objektivität ist vorerst noch zur Fahndung ausgeschrieben.

Aber diese einfache Zweiteilung der Zeit ist eine noch relativ harmlose Pluralität: Wenn wir ihr vertrauen, folgt lediglich ein zweifacher Zustand von Zeit und Zeitlichkeit für alle Menschen: Sie sind Teilhaber und Vollzieher einer physikalischen und einer psychologischen Zeit. (Die Analogie auf das Existieren des Raumes in und außer uns, – als subjektiver Erlebnisraum und/oder objektiver Real-Raum ist unvermeidlich.)

Der Bürger zweier Zeitenwelten

Aber als Teilhaber an der physikalischen Zeit sind alle Menschen, wenn wir unser astronomisch erweitertes Weltbild nicht unterschlagen, Bürger vieler Zeitenwelten. Und nur die Tatsache, daß wir unserer Erdzeit den Vorzug erteilen, weil wir nach der Bewegung und Geschwindigkeit des Sonnenumlaufs unseres Planeten unsere Kalender und Uhrzeiten (trotz einiger Irregularitäten) aus- und eingerichtet haben, erlaubt uns den selbstgeschenkten Luxus, in einer und nur einer planetarischen Weltzeit zu existieren.

In Wahrheit ist die „Uhrzeit“ unserer Erde nur eine unter vielen, und in der Relation zum Kosmos betrachtet, eine eher nur marginale „Weltzeit.“ Schon unsere Galaxie kreist nach einem anderen Zeitplan um sich und durch den Kosmos, ebenso alle anderen (Myriaden von) Galaxien und deren Sonnen und Planeten. Und selbst unsere „Nachbarsonnen“ wie Sirius und Verwandte sind nicht gesonnen, dem Diktum unserer Sonne und einem ihrer auserwählten Planeten unter einer Handvoll anderer Planeten zu folgen.

Und auch den Unterschied von „Teilhaben und Vollziehen“, den die physikalischen Zeittheorien gern unterschlagen, sollten wir nicht ignorieren. Die Tageszeit eines Umlaufs der Erde um die Sonne vollziehen wir nicht als körperliche „Mitflieger“, obwohl wir mit unserer Erde um die Sonne mitkreisen und am Wechsel des Lichtes auch die physische Bewegung der Erdkörper bemerken. Die Bewegung selbst bemerken wir aber nicht als physische Teilhaber, da wir nicht einmal die eigene Rotationsgeschwindigkeit der Erde bemerken (können): Diese scheint stillzustehen, wenn wir uns auf der ruhenden Erde mit unseren Eigengeschwindigkeiten (vom Spaziergänger aufwärts) bewegen, indes die Erde niemals aufhört, mit etwa 1000 Kilometer in der Stunde um ihre Achse zu rotieren.

Und obwohl unser physischer Mensch als realer Körper mit allen Himmelskörpern „mitfliegt“, ist die Trennung von Teilhaben und Vollziehen unhintergehbar: Indem wir die sogenannte Himmelsmechanik der sogenannten Himmelskörper, restringiert auf die Mechanik eines Planeten, unseren Zeitmaßen zugrunde legen, ist dies nicht eine Wirkung unseres „Mitfliegens“, sondern die Wirkung unseres (allerdings transzendentalen) Bewußteins und dessen Zeitbegriffs, der uns erlaubt und nötigt, nicht ohne den Dauerwechsel von Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit „durch die Zeit zu gehen.“ 

Dieses Bewußtsein ist allem („subjektiven“) psychologischen Bewußtsein vorausliegend wie zugleich inliegend, wir müssen es als ein logisches Bewußtsein erkennen, das stets auf konkrete Inhalte (nicht nur der Zeit) bezogen bleibt und auch beim Feststellen und Vollziehen fixierter „Himmelsuhrzeiten“ immer schon die „Regie“, wenn auch nicht die alleinige übernommen hat, wie der „Fall Ptolemäus“ beweist.

Der Fall Ptolemäus

Aber durch das Denken des transzendentalen Bewußtseins wissen wir, daß die jeweils individuell gestalteten Bewegungen und Geschwindigkeiten der Himmelskörper nicht durch „direkte“ Abbildung oder „direkte“ Wahrnehmung etc. in unser Bewußtsein (das kein Fotoapparat und kein Hörapparat ist) „hineinkommen“. Wenn wir die Himmelskörper mit unseren Augen oder Teleskopen beobachten, sind die transzendentalen Kategorien immer schon am Werk. Wir beobachten denkend, im konkreten (Himmelskörper-)Fall: immer auch mathematisierend, weil wir die quantitativ bestimmten Relationen aller an der Bewegung beteiligten Faktoren transzendental und mittlerweile auch empirisch einzusehen vermögen. (Wir können bereits Supernovae in unserer und anderen Galaxien realistisch prophezeien.)

Und dennoch irrte Ptolemäus und mit ihm die Menschheit durch einige Jahrtausende? Man sah nicht, was man schon vor Kopernikus (und dessen vermutende Vorläufer in der Antike) hätte sehen können: daß sich nicht die Sonne um die Erde, sondern diese um jene bewegt? Allerdings. Aber der Irrtum des Ptolemäus klärt uns auch über den Irrtum der ins christliche Mittelalter tradierten philosophierenden Antike auf, die ihre Fassung des transzendentalen Bewußtseins als alleinigen Wissensgrund für alles Wissen über das Universum auffasste.

Wäre diese Auffassung durchführbar, hätten wir ohne die Entdeckungen der empirischen Wissenschaften entdecken können, was wir nur durch Fernrohre, Teleskope und andere empirische und stets mathematisierende Wissenschaften entdecken konnten.

Weder reine Mathematik, noch reine (formale) Logik eines nur durch selbsterzeugte Begriffe amtierenden transzendentalen Bewußtseins konnten den mächtigen Ptolemäus niederzwingen. Und am wenigsten waren dazu Kirche und Theologie des Mittelalters fähig, die sich als ahnungslose Mitläufer schuldig machten, indem sie das ptolemäische Weltbild mit einer gottgegebenen Offenbarung verwechselten.

Aber trotz dieses längst entschiedenen Kampfes gegen Ptolemäus und die Seinen ist die vorhin genannte Trennung von Teilhaben und Vollziehen beim Feststellen und Festlegen von verbindlichen Zeitmaßen unhintergehbar. Überaus glücklicher- und dankenswerterweise sind körperliche Vollzugsteilhabe („Mitfliegen“) und transzendentaler Vollzug (Erkenntnis durch kluges Köpfchen) absolut getrennt und unhintergehbar. Wir können uns noch so anstrengen, durch neue („vieldimensionale“) Zeitbegriffe eine von der Menschheit unabhängige „objektive“ Weltzeit ausfindig zu machen, wie wir auch niemals Himmelskörpern begegnen werden, die ihre Umlauf-Zeiten mit der eigenen Uhr in der fiktiven Hand vermessen und befolgen.

Was uns zu Teilen der Bewegungen aller Himmelskörper werden läßt, (unser Körper „fliegt“ beispielsweise mit unserer Galaxie auf den Großen Attraktor „ohne zu säumen“ zu) ist nicht das, was uns ermöglicht, Eigenzeiten von Planeten(-Bewegungen) und prinzipiell allen anderen kosmischen Bewegungssystemen von Sonnen und Galaxien bis hin zur Expansion des gesamten Universums als Grundlagen von „Uhrzeiten“ festzulegen.

Und dazu kommt noch ein wesentlicher und oft übersehener Irrtum der physikalischen Zeittheorien: Auch in den legendären Raumschiffen Einsteins wird die biologische Eigenzeit des menschlichen Körpers nicht durch eine „rasante Geschwindigkeit“ von künstlichen Himmelskörper-Geschwindigkeiten (Raketen) außer Kraft gesetzt. „Zwillingsschwestern“, die von der Erde gleichalt starten, dann aber als Gäste verschieden rasch fliegender Raumschiffe einander an Lebenszeit überholen, sodaß die Zukunft der einen schon unerreichbar entwichen ist, während die Gegenwart der andern noch in ihrer Kindheit spielt, sind unterhaltsame Spiele für Astrophysiker, mehr nicht.

Und selbstverständlich ist auch die biologische Eigenzeit des Menschen keine nur innere, keine nur subjektive oder nur „psychologische“ Zeit, obwohl das Klagen des Menschen über sein Altwerden vermutlich so alt ist, wie das Alter der Menschheit selbst. (Biologische und psychologische Zeit sind im und für den Menschen untrennbar, aber niemals identisch, weil jeder Mensch seine Lebenszeit immer auch frei- individuell – erfährt und daher mehr oder weniger bejammert.)

Als ausschließlich physikalische Zeit müßte die Zeit eigentlich nach übersehbar vielen und sehr verschiedenen Bewegungen und Geschwindigkeiten der Gestirne „gestaffelt“ sein. Weil wir uns aber, wie gezeigt, streng und ausschließend an nur eine planetarische Bewegungsart und Geschwindigkeit halten, bleibt uns eine Zeiten-Vielfalt, die zu einer katastrophalen Desorientierung der Menschheit führen würde, erspart.

Wer subordiniert wen?

Den physikalischen Zeittheorien steht eine große Anzahl nicht-physikalischer Zeittheorien gegenüber, und zwischen beiden scheint entweder ein unüberbrückbarer Abgrund zu liegen, oder eine der beiden Seiten subordiniert sich die andere: für den überzeugten Vertreter der physikalischen Zeit ist alle sogenannte „innere Zeit“ nichts als ein durchschaubarer Reflex einer „äußeren Naturzeit“, die auf die Bewegungsarsenale von Planeten, Sonnen und Galaxien usf. verweist.

Für die Verfechter der Theorie eines „inneren“ Zeitbewußtseins (ein obskurer Ausdruck) gilt das Gegenteil: daß und wie beispielsweise die drei Zeitdimensionen für das Universum gelten, halten sie für begründbar. Folglich auch eine universale Gleichzeitigkeit aller Systemzeiten (der Galaxien, der Sonnensysteme, der Planeten-Mond-Systeme usf.), die wir als geborene Nicht-Einsteinianer ohnehin als selbstverständlich annehmen. Was für uns in der Zeit erscheint, kann uns nur in einer gleichzeitigen Zeit erscheinen.

Diese Gleichzeitigkeit gilt auch für extrem fernliegende Systeme, weil wir exakt wissen, vor wie vielen Millionen Lichtjahren das Licht der unermesslich weit entfernten Galaxien an uns abgesandt wurde. Mögen diese daher in unser heutigen Jetztzeit nicht mehr existieren, weil sie das „Zeitliche längst schon gesegnet haben“, existiert doch diese vielleicht schon erreichte Nichtexistenz gleichzeitig mit unserer gegenwärtigen Existenz. Wir wissen lediglich nicht, ob die fernen Welten noch oder nicht mehr existieren. Aber wir reservieren ihnen kein eigenes Zeitabteil im Zug des Kosmos.

Ein physikalistischer Zeitendenker, der das relativistische Zeitdenken seiner Säulenheiligen verinnerlicht hat, muß dem widersprechen: Jede Galaxie, jedes Sonnensystem und sogar jeder Planet verfügen über ein eigenes Zeitabteil: Wohin man blickt: nichts als (unübersehbar viele) „Zeitzonen“, nirgendwo auch nur ein Rest von gemeinsamer kosmischer Weltzeit.

Dagegen stellt sich unser altmodischer Anti-Einsteinianer bereits vor, wie sich eine in den nächsten Jahrhunderten interplanetar vernetzte Menschheit im System von zwanzig und mehr (Planeten-)Zeitzonen arrangieren wird: Zwischen Erde, Mars und Pluto sowie Saturn und den unzähligen Monden anderer Planeten pendeln die neuen Raumschiffe hin und her und planen rechtzeitig die richtigen Ankunfts- und Abflugzeiten der nächsten „Landehäfen“ ein. Und „natürlich“ tragen die Flugkapitäne eine Armbanduhr, die sich bei jedem Ein- und Ausflug in und aus einer der vielen Zeitzonen automatisch umstellt. Diese Generaluhr unseres Sonnensystems mag fürs Erste genügen, sie wird aber nicht mehr genügen, wenn wir eines Tages das Nachbarsystem von Alpha Centauri erreicht und erobert haben, um unter dessen vielen Planeten (und sogar mehreren Sonnen) zielgerecht hin und her zu pendeln.

Epilog

Obwohl nun die äußere Zeit alias physikalische Zeit ein unendlich größeres Angebot an Zeituhren anbietet als alle „inneren“ Zeitbestimmer des „inneren“ Bewußtseins der Menschheit, das immer noch glaubt, mit drei fundamentalen, aber „altvorderen“ Zeitdimensionen operieren zu können und zu müssen, und da überdies die physikalischen Zeitbestimmer und Zeitmesser an (physischer) Intensität nichts zu wünschen übriglassen: wie erwähnt, rotiert unser Planet samt Oberfläche mit mehr als tausend Stundenkilometern und lädt uns dennoch jederzeit zu einem erholsamen Spaziergang ein. Auch deshalb sind wir als Ewiggestrige und geborene Wissenschaftsbanausen überzeugt, daß unser dreidimensionales „inneres“ Zeitbewußtsein nicht nur mit unserem Handeln, sondern auch mit unserem Selbst- und Weltverständnis (das wissenschaftliche nicht ausgeschlossen!) primär und fast ausschließlich verbunden ist.

Nicht durch eine Brücke, nicht durch einen äußeren Vermittler, nicht durch einen Boten und Sender verbunden, sondern unmittelbar verbunden. Dieses Faktum kann auch Einstein nicht verborgen geblieben sein, auch wenn er vielleicht einen Blick auf seine Uhr zu Hilfe nehmen mußte, um festzustellen, daß während oder nach seiner Arbeit an den Geheimnissen und Gesetzen seiner vierdimensionalen Raumzeit, das Jetzt der Zeit die bekannten drei altvorderen („trivialen“) Dimensionen der Zeit unaufhörlich gewechselt haben mußte. Jedes gegenwärtige Jetzt, das soeben noch ein künftiges war, wurde von einem vergehenden verschlungen und zu realer Vergangenheit umgebettet.

Und dieser „Chronos“ funktioniert überall im Universum, wo Menschenwesen autark und autonom herumspazieren, gleichgültig ob sich der Himmelskörper unter den Füßen des chronisch (trinitar-)zeitlichen Menschen rasch oder langsam durch das All bewegt. Es sei denn, es gäbe andere, „ganz andere“ Wesen, – menschen(un)ähnliche Wesen, deren Augenblicksakte völlig anders ticken. Eine Möglichkeit, die uns unsere natürlichen Tiere als Wirklichkeit vorführen: Ihre Zeit verharrt in einem unbeweglichen Augenblick, den Nietzsche auf den nicht unpassenden Namen „Pflock des Augenblicks“ taufte.

Mit anderen Worten: Im tiefsten Grund der modernen Zeiten-Vielfalt begegnet der Chronos unserer trinitarischen Zeit den Chronen unserer physikalischen Zeiten, deren prinzipielle Pluralität aufgezeigt wurde. Diese prinzipielle Pluralität hat auch Einstein umgetrieben und zur Findung einer zunächst (nur) vierdimensionalen Raumzeit animiert. Nicht hat ihn die Frage interessiert, wie und ob die trinitarische Zeit mit den physikalischen Zeiten bzw. diese mit jener vereinbar sein könnten.

Leo Dorner, April 2023