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46 Zeus trifft Allah

46 Zeus trifft Allah

1.

Kundige Beobachter der angespannten Lage in der Ägäis (Türkei versus Griechenland bzw. Zypern) sind irritiert und bemühen die ehrenwerte Vokabel „überzogen“, um zur Zurückhaltung aufzurufen. Zwar seien die wirtschaftlichen (Insel)Ansprüche Griechenlands „überzogen“, doch ebenso wenig seien die militärischen Drohungen der Türkei hinnehmbar. Eine Verstrickung des Politischen mit dem Wirtschaftlichen, das die Experten nötigt, Zwiebel mit Äpfel zu vergleichen und einen Basarhandel nach dem Motto vorzubereiten: Machst Du weniger Krieg, kriegst Du bessere (Wirtschafts-)Verträge und umgekehrt.

Um der Binsenweisheit, daß das Politische mit dem Wirtschaftlichen in jeder Station der Weltgeschichte untrennbar verstrickt ist, ein Schnippchen zu schlagen, könnte man daher versuchen, das Wirtschaftliche und das Politische – zunächst einmal – zu trennen: Das Wirtschaftliche zuerst, das Politische danach klären und befrieden. (Die regierenden Politiker schicken ihre dienenden ökonomischen Delegationen und Kohorten voraus, um durch „Unterverhandlungen“ die heiße Luft in den folgenden und entscheidenden „Oberverhandlungen“ herauszunehmen.)

Im aktuellen Fall (Ägäis) wird nun der EU vorgeworfen, sie habe sich aus Angst vor der Türkei erpressen lassen und vorschnell alle Forderungen Griechenlands zur eigenen Position gemacht. Ob sie sich dabei durch das aggressive und expansive Verhalten der Türkei verschrecken ließ, oder durch erwartbare Drohungen Ankaras mit weiteren Flüchtlingsmassen für Europa, oder „nur“ durch Beistandsforderungen Griechenlands, das durch das Versagen der EU in der „Flüchtlingskrise“ noch einige Gutscheine (im Tausch für Schaden und Kosten) offen zu haben scheint, ist angesichts eines lodernden Vorkriegszustandes beinahe gleichgültig. (Ein Thema für schachspielende Historiker auf der Suche nach neuen „Schläfern.“)

Ausgerechnet die EU, die sonst in jeder kreativen Nebenfrage die Armada ihrer Justizgremien bemüht, was ihr schon den Ruf einer entstehenden europäischen Richterdemokratie eingetragen hat, sollte sich davor drücken (wollen), in den Fragen des globalen See- und Landrechts zwischen zwei NATO-Staaten im Südosten Europas klare Sicht zu gewinnen?

Man muß nicht Freund der heutigen Türkei sein, (und welcher besonnene Beobachter könnte einem Staat, der sich anschickt eine islamistische Diktatur oder Ärgeres vorzubereiten, das Goderl kratzen?), um die für Griechenland ungünstigen Faktoren, die tief in die neuere Geschichte Europas zurückreichen, zu erkennen.

Wird in der Frage der ägäischen „Wirtschaftszonen“ klarer Tisch gemacht, müssen alle Verträge der Väter und Vorväter auf den Tisch, auch wenn dies der aktuellen EU unangenehm sein sollte, weil sie sich bereits im Land des ewigen Weltfriedens angekommen glaubt(e).

In deren (pazifistischer) Perspektive liegen die modernen Kriege zwischen der Türkei und Griechenland ungreifbar weit zurück, sie scheinen einer anderen Zeit anzugehören, unmöglich, daß sie jemals wieder aus dem Orkus der Geschichte in die Gegenwart „zurückkehren.“ Doch die in Europa halbvergessenen Kriege waren just jene, die besagte Verträge nach sich zogen, um die Ägäis mit ihren zahllosen Inseln (Ferienparadies für alle Nordeuropäer) zwischen den beiden Kontrahenten aufzuteilen.

(Griechisch-Türkischer Krieg 1919-1922. – Vertrag von Sèvres 1920 (Anerkennung der britischen Annexion Zyperns), Vertrag von Lausanne 1923 (Bevölkerungsaustausch und Grenzziehung), Vertrag von Montreux 1936 (Meerengen-Abkommen), Pariser Vertrag von 1947 (Inselabkommen))

Man kann verstehen, daß sich die EU scheut, zusätzlich zu den vielen ungelösten Problemen, die sie vor sich her schiebt, auch noch diese vergiftete Bredouille zu schlürfen. Dagegen scheint ihr die aktuelle Bredouille eines zwiespältigen Agierens in der Gegenwart das noch geringere Übel zu sein. Auf der einen Seite beschwört sie die verfeindeten Akteure, ungesäumt an den Verhandlungstisch zu eilen, auf der anderen Seite hat sie die Position eines unvoreingenommenen Vermittlers leichtsinnig und überhastet verlassen und verspielt, indem sie sich ganz auf die Seite Griechenlands gestellt hat.

Die Paradigmen der beiden Kampfhähne, die sich bislang fast nur mit Worten und Parolen auf den Pelz rücken, lassen sich mit zwei Schlagworten umschreiben: Festlandsockel gegen Inselreichweite. Doch setzt die Türkei, um ihr Paradigma durchzusetzen, nicht allein auf friedliche Verhandlungen, sondern unverhohlen auf militärische Drohung. Nach dem Motto: Bist Du nicht willig, brauch‘ ich Gewalt.

Was aber in der Perspektive der heutigen Türkei, in der islamistische und andere Falken Regie führen, mehr als ein Vorteil, mehr als die „halbe Miete“ ist, ist in der Perspektive ihrer Gegner (Griechenland, Zypern und EU) mehr als ein Makel: ein schwerer taktischer Fehler, der die Türkei als Paria der „Staatengemeinschaft“ isoliere.

Wäre die Türkei noch immer auf dem Weg Atatürks in eine laizistische Demokratie in Vorderasien unterwegs, wären endlose Verhandlungen und (Basar)Handlungen zwischen der Türkei, Griechenland, Zypern und der EU als Vermittlerin und Friedens-Garantin) nicht mehr als eine diplomatische Selbstverständlichkeit. Aber dieser Traum ist vorerst Geschichte. – Nicht zufällig hofft die EU seit Jahrzehnten vergeblich auf eine Anerkennung Zyperns durch die Türkei. Wie in einem Nukleus des ägäischen Großkonflikts prallen die beiden Paradigmen in Zypern aufeinander: Der Norden durch die Türkei seit 1974 besetzt, der Süden ein souveräner Staat der EU.

2.

Das doppelgesichtige Angebot der EU: zwar sehe sie sich genötigt, als Anwalt der Interessen Griechenlands aufzutreten, dennoch möge sich die Türkei zu Verhandlungen bequemen, läuft bei wohlwollender Interpretation auf die Aufforderung hinaus, Ankara möge sich auf Argumente besinnen und nicht an militärischen und anderen (erpresserischen) Drohungen festhalten. Nun ist es aber zugleich die Überzeugung vieler Protagonisten in Griechenland und in der EU, daß die Türkei jetzigen Zustandes nur die Sprache drohender Sanktionen „versteht“, nur durch deren Gewalt zu bewegen ist, am Verhandlungstisch zu erscheinen.

(Mit einem Wort: die EU benötigte in dieser gefährlichen Situation ein politisches Genie, das den Widerspruch zwischen gewünschtem Verhandlungsgeist und feindseligem Behauptungsgeist durch eine strategische Meisterhandlung überwinden könnte. Ist ein Genie dieser überragenden politischen Geschicklichkeit im heutigen EU-Personal vorhanden? Wurde eines im Fall von Syrien und Libyen, oder gar im Fall von Israel und Palästina, Israel und Iran gesichtet?)

Die aktuelle Konfliktsituation in der Ägäis ist in der Perspektive der Geschichte kein Novum, im Gegenteil: mehr als oft erscheinen in ihr Kontrahenten, die gezielt aneinander vorbeireden, als ob sie dadurch schon bald mit Waffen besser aufeinander zielen könnten. Eine Situation, der philosophierende Historiker gern eine beredte Formel umhängen: „Der Knoten schürzt sich.“

In der Tat: der Strang, an dem beide in ihrer opponierenden Zwangslage aneinandergefesselt baumeln, – ähnlich wie die schlimmen Buben des Wilhelm Busch nach einem mißglückten Streich – wird durch entfesselte Eigenbewegung strenger und strenger festgezogen, und wenn nicht ein historisches Wunder dazwischentritt, sind die beiden nach ihrem fatalen Abenteuer nicht wieder zu erkennen. 

Daß die Ägäis durch die Nachkriegs-Verträge nach 1922 in ein griechisches Meer und in eine (lange) türkische Küste aufgeteilt wurde, ist ein bekanntes europäisches Dilemma. Und geradezu nach Adam Riese war daher zu erwarten, daß eine nach neoosmanischer Größe wieder hochstrebende Türkei das Kleingedruckte dieser Verträge nochmals durchrechnen wird.

Das Prinzip der „Inselreichweite“, weniger diplomatisch: der „ausschließlichen Wirtschaftszone“, ermöglicht Griechenland beispielsweise folgende Kunstrechnung: Die kleine Insel Kastellorizo (Megisti), liegt kaum drei Kilometer vom türkischen Festland, aber über 120 Kilometer von Rhodos, seinem griechischen Verwaltungszentrum, entfernt: Ergibt einen gewaltigen „Insel-Sockel“, und nur einen von vielen in der gesamten Ägäis.

Wenn nun aber ausgerechnet in den Meeresgründen dieser ägäischen Ecke reiche Quellen an Rohstoffen aufgespürt werden, die moderne Staaten zu ihrem Überleben benötigen, ist es naheliegend, daß die Türkei das bisher geltende Prinzip der „ausschließlichen Wirtschaftszone“ in Frage stellt und in provozierender Weise sogar für Kreta, der größten Insel in der Ägäis.

Unter vernünftigen Partnern wäre nun zu erwarten (gewesen), daß ab sofort eine Konferenz die nächste zu jagen beginnt, um den Interessenkonflikt der beiden ägäischen Mächte zu klären: Mithilfe großer Politiker-Delegationen jeder Etage, Juristen jeder Zuständigkeit, und nicht zuletzt mit Firmen- und Konzerne-Stäben regionaler und überregionaler Art.

Kann einer nicht alles haben, müssen alle angeflogenen Geier lernen miteinander zu teilen: im Tierreich durch die Kraft der Stärkeren, im Kulturreich unter Menschen durch vermittelnde Paradigmen und deren vertragsfähige Prinzipien.

(Menschen leben zwar auch als Menschen auf diesem Planeten, aber zugleich und davor immer schon als politische Tiere: Viele kleine und wenige große Tiere bekanntlich, und diese wenigen bestimmen zumeist (Revolutionen und analoge Verwerfungen ausgenommen), wohin die vielen laufen, was und wie sie denken und handeln sollen.

Das zoon politikon des Aristoteles trägt unwiderlegbar die Geschichte der Menschheit. Und wäre es nur eines geblieben, oder, um die ganze Wahrheit zu sagen: jemals nur eines gewesen, hätte das politische Tier Mensch höchstens nur einen Bürgerkrieg, niemals aber Millionen Kriege (jeder Art) in die Welt setzen können. Den „Reichtum der Vielfalt“ in der Domäne des zoon politikon erfuhr Aristoteles selbst sehr schmerzhaft in seinem eigenen Leben im späten antiken Griechenland.

Auch am Begriff des zoon politikon bestätigt sich die unhintergehbare Lehre der fundamentalen (Inhalts)Logik: jeder Allgemeinbegriff ist ohne seine spezifischen Differenzen, die ihn unweigerlich in die Domäne der Geschichte hinüberführen, nur seine eigene Idylle, nicht mehr als eine Hülse von Begriff.

Das zoon politikon existiert demnach zu jeder Zeit unter der Herrschaft hierarchischer Vertikalen – politisches Machtprinzip – und vielfältiger Horizontalen – ethnisches und kulturelles Populationsprinzip. Dennoch wurde die triviale Wahrheit, daß dieses Prinzipien-Paar immer und überall in der Menschheitsgeschichte wirkmächtig wird, ausgerechnet in der intellektuellen Geschichte des deutschen Geistes vergessen oder unterschlagen.

Kraft eines kräftigen Irrtums, den die marxistische Denkerrichtung des deutschen Geistes im 19. Jahrhundert für Millionen Menschen plausibel machen konnte: Nicht das zoon politikon, sondern das zoon öconomicon sei das Alpha und Omega der Weltgeschichte. Ein Irrtum, der die Entwicklung der Menschheit um mehr als ein Jahrhundert zurückgeworfen hat.)

3.

Wenn die Türkei 5000 syrische Kämpfer mit „Islamismus-Hintergrund“ nach Libyen in den Süden von Tripolis verfrachtet, gut bezahlt und durch weiteres Marodieren samt leckerer Beute bestens versorgt, darf man sicher sein, daß eine satte Mehrheit im zoon politikon der Türkei von heute auch diese neoosmanische Expansion begeistert begrüßt.

Wieder ein „Millionenspiel“ einer politischen Führung, gegen das kein Kraut gewachsen ist, bis es sich selbst zu Fall bringt, indem es andere politische Mächte gegen sich aufbringt. Eine Expansion in der Ägäis wäre der vorläufige Höhepunkt aller bisherigen der Türkei auf Zypern, in Syrien, im Irak und in Libyen.

Eine andere politische Führung befand 2006, daß Europa „klare Grenzen“ brauche, eine Ansicht des damaligen französischen Präsidenten, der sich eine Mehrheit der europäischen Staatsführer anschloß. Daß die Atatürksche Revolution von 1923 ein Wink der Geschichte sein könnte, die kräftiger Hilfe bedürfe, um 2023 ein Erfolgsjubiläum feiern zu können, blieb ungehört. Auch die Mahnungen der damaligen Bush-Administration, Europa könnte schon bald eine „Brücke“ benötigen, um den Demokratisierungs- und Befriedungsprozeß in der islamischen Welt voranzutreiben, blieb ungehört. Stattdessen verfiel man auf die Gründung einer „Mittelmeer-Union“, die bald in der Versenkung verschwand.

Folglich wurde die Türkei ihren latenten islamischen Tendenzen ausgeliefert, die bald zu einem Bruderzwist mit inszeniertem Staatsstreich im Haus des türkischen Islams führen sollten. Nun ist es für Europa zu spät, um nochmals die „Integrationskarte“ mit der Türkei zu spielen.

Wie soll man jetzt mit dem großen politischen Tier in der Türkei verhandeln? Über dem Verhandlungstisch bietet es bestenfalls diplomatische Nasenlöcher und falsch dampfende Friedenspfeifen an, unter dem Tisch das Kriegsbeil, in seiner Aktentasche kaum verborgen.

Die Türkei ist in der Ägäis in einer ähnlichen Lage wie einst Hitlerdeutschland in Europa, das lange vor 1939 zahlreiche „verlorene“ Gebiete „heim ins Reich“ zu holte, ohne daß die Europäer und die USA aufgewacht wären.

Da die führenden politischen Parteien der Türkei seit vielen Jahren verkünden, die griechischen Inseln in der Ägäis, (welche genau, wird vermutlich noch rechtzeitig „nachgeliefert“), seien türkisches Land, das widerrechtlich besetzt wurde, zwingt dieser Eröffnungszug den Spieler in Ankara unausweichlich zum logischen Folge-Zug: durch rechtlose Gewalt Verlorenes müsse zurückerobert werden. Dieses gebietet sowohl die nationale, wie neuerdings auch die islamische Ehre der stolzen Türkei.

Namentlich vertreten die regierende AKP und die (oppositionelle) CHP diese beiden Schachzüge in der begonnenen Ägäis-Partie, wobei die Frage, was man sich unter einer „Opposition“ in einer sich immer stärker formierenden islamistischen Diktatur vorzustellen habe, vorerst unbeantwortbar mitläuft.

Doch sind zwei Spieler auf einer Seite einer politischen Schachpartie meistens problematisch, weil sie zwar über das Ziel ihres Spiels auf Sieg und Gewinn eine ungebrochene Einigkeit jederzeit verkünden können, – wer möchte nicht von Millionen als Sieger gefeiert und bedenkmalt werden? – doch über die Art der Durchführung und auch über die nähere Klärung der Ursachen und Gründe, die dem Feind ermöglichten, Schändliches und Entehrendes für die Türkei ausgerechnet in der Ägäis zu verbrechen, jederzeit verschiedene Meinungen präsentieren können.

Doch auch ein scheinbar externer Faktor kommt im aktuellen Ägäis-Konflikt hinzu: die weltpolitische Spielwiese hat sich seit 2015, nach dem Ende der Pax americana, radikal verändert. Wenn Erdogan und die Seinen die Nachkriegsverträge (nach 1922) rächen wollen, müssen sie nicht mehr mit einer Intervention der USA rechnen, weil ein „Angriffsfall“ gegen ein NATO-Mitglied das atlantische Bündnis in einen heillosen Selbstwiderspruch stürzen würde. Bevor sich die USA in einen NATO-Krieg mit der Türkei einlassen, würden sie sich wohl endgültig aus einem unrettbar zerfallenden Europa zurückziehen.

In anderer Perspektive: anders als im Balkankrieg des späten 20. Jahrhunderts, den eine heftige Intervention der USA beenden konnte, sind auch die geopolitische Karten völlig neu gemischt. Auch daß die damalige Intervention der USA bis heute als „illegale“, weil „völkerrechtswidrige“ Aktion von Deutschlands Linken und Grünen betrachtet wird, ließe für die Zukunft in der Ägäis wenig Gutes erwarten, wenn es tatsächlich zu einer türkischen Invasion kommen sollte.

In den 1990er-Jahren unterstützte man lieber den Traum von der Heimholung aller Serben in ein großserbisches Reich, als daß man die Notwendigkeit einer Neuordnung auf dem Balkan begreifen wollte. (Daß diese mehr als unvollkommen ausfiel, steht auf einem anderen Blatt der Geschichte).

Im aktuellen Fall der Ägäis-Krise würde Rußland, das nicht versäumen dürfte, in der Ägäis mit zuspielen, um Europa und die EU weiterhin zu schwächen, von der deutschen Blindheit und Voreingenommenheit profitierten, wie auch die Türkei selbst, die Deutschland und Europa seit Jahren an der Flüchtlingsleine vorführt. Neue Gelegenheiten für neue Erpressungen tun sich auf.

Den innertürkischen Rache-Diskurs bestimmen zur Zeit zwei Fragen: welche der beiden (oder auch mehr) Parteien könnte beim Spiel auf Sieg und Gewinn rascher, effizienter und erfolgreicher agieren, und welche der Parteien war in der Vergangenheit nachlässiger, feiger und verräterischer, als dem Feind ermöglicht wurde, Schändliches und Entehrendes für die Türkei ausgerechnet in der Ägäis zu verbrechen? Wer ist und wer war patriotischer, wer hat und wer hatte mehr Mut, wer lag und liegt auf der „richtigen Seite der Geschichte“? Die Schande der Verträge von Lausanne (19249 bis Paris (1947) steht wie ein „türkisches Versailles“ auf der politischen Menükarte der Führungs-Eliten des Landes.

Scheinbar liegen lediglich Phantomschmerzen vor, wenn die heutige Türkei ihren ägäischen Inseln nachtrauert, die sie durch Jahrhunderte als Beutestück des kollabierten Byzantinischen Imperiums regieren konnte. In Wahrheit regiert ein heftiger ägäischer Zukunftswunsch die heutige Türkei. Das Jahr 2023 soll nicht unter der Prärogative einer 100-jährigen Erfolgsgeschichte der Atatürk-Revolution von 1923 gefeiert werden. Lieber will man der Gründung der Türkischen Republik vor 1000 Jahren nach der siegreichen Schlacht bei Manzikert gedenken, um den heutigen Aufbruch in ein neues osmanisches Imperium zu befeuern.

Peinlich und unangenehm zwar, daß die bemühte Tausendjahre-Gedenkrechnung gewaltig hinkt: 1071 reimt sich erst auf 2071. Doch darf dies kein Grund sein, einen terminungerechten Sieg der Türken über die Oströmer bereits heute als Gründungslegende zu mißbrauchen. Auf obersten Befehl wird die Türkei des Jahres 2023 den 1000. Jahrestag der Schlacht von Manzikert als Geburtsstunde der Türkischen Republik feiern. Wie man zeitgerecht aus der Geschichte lernt, war schon immer ein Kennzeichen entschlossener und erfolgreicher Diktaturen.

Dennoch kann Erdogans neue Türkei nicht einfach drauflos expandieren und einige griechische Inseln bombardieren, erobern und annektieren. Sie würde sich damit als alleinschuldiger Aggressor an den Pranger stellen, und vermutlich würde sich auch die gesamte westliche Staatenwelt ohne Zögern an der Seite Griechenlands versammeln. Selbst Rußland müßte in diesem Fall mit militärischer Schützenhilfe abwarten und seine Spaltungsziele gegen Europa einige Zeit vertagen.

4.

Daß Expansionsziele eines (selbstauserwählten) Staates im Umfeld der modernen Staatenwelt nur vorsichtig, aber beharrlich, nur langfristig, aber strategisch klug vorzubereiten sind, war schon Hitlerdeutschland bekannt. Der Krieg der Worte ist zunächst beharrlich mit der Forderung zu verknüpfen, daß bestehende internationale Verträge verändert werden müssen. Denn die Geschichte ist neu zu belehren, ihre Irrtümer sind zu korrigieren, und Verträge, mögen sie auch seit Jahrzehnten bestehen und Grenzen wie „für die Ewigkeit“ festgelegt haben, sind neu zu schreiben. Ein offensichtlich friedliches Angebot diplomatischer Provenienz, dem die Vertragspartner (Griechenland, Europa und die westliche Welt)schwerlich ausweichen, schwerlich sich verweigern können.

Und dies umso weniger, als die diplomatische Worte der türkischen Perlenkette nicht friedlicher und harmloser sein könnten: Der Vertrag von Lausanne sei zu ändern oder zu revidieren oder zu aktualisieren oder zu annullieren. Diese bei verschiedenen Anlässen seit Jahren vorgebrachten Varianten beweisen zunächst nur, daß die türkischen Politiker auf ihrer Klaviatur zu spielen wissen. Eine Skala von vieldeutigen Wunschworten, die so oder (auch ganz) anders auslegbar sind, dient als tägliches Übungsprogramm, um eine Strategie, die sich alle taktischen Optionen offenhält, ebenso zu verschleiern wie zugleich als Bedrohungsmittel einzusetzen.

„Nach außen“ wird verschleiert taktiert, „nach innen“ mit offenem Visier geredet. Die mitregierende CHP-Partei, die nicht weniger als die AKP am Expansionskuchen mitnaschen möchte, wird beschuldigt, die vermaledeiten Verträge mitunterzeichnet und dadurch die „Inseln verschenkt zu haben.“ In der Tat: sozialistische CHP hatte das Pech, in den Jahren nach 1922 als Partei Atatürks die große Umwandlung der kleingewordenen ehemaligen Großtürkei zu vollziehen. Was sie bisher als Revolution und Geburtsstunde einer modernen Türkei gepriesen hat, verpönt sie seit Kurzem als Verrat.

Dennoch muß ihr die AKP das „Wasser abgraben“, um den kommenden Sieg auf dem Schlachtfeld der Ägäis nicht teilen zu müssen. Der nächste Bruderzwist im türkischen Haus des Islams scheint unvermeidbar. Internationales Recht sagt: die Inseln gehören zu Griechenland, höheres türkisches Ehrenrecht sagt: die Inseln gehörten zum Osmanischen Reich, folglich muß nun Recht wieder Recht werden. Welche der beiden Parteien sympathisiert mit 2+2=4, welche der beiden hat eine andere Option im Auge? Und wie rechnet die große Weltgeschichte? Immer überraschend bekanntlich, weshalb man nicht frühzeitig Wetten auf scheinbar günstige Optionen abschließen sollte.

Der innertürkische Zwist über die richtige und ehrenhafte Bewältigung der Vergangenheit (im Klartext: über die Abwicklung der Atatürk-Revolution und ihrer laizistischen Republik,) führt zu einer Art „Ideen-Wettbewerb“ („Schlagabtausch“ im heutigen Journalistenjargon) zwischen den wichtigsten Parteien der Türkei. Wer überbietet den Gegner mit immer noch aggressiveren Schlagworten, wer erhitzt die Atmosphäre „nachhaltiger“, wer schart größere Massen an Mitläufern hinter seinem breiten (Führungs-)Rücken? Dem Außenkampf (gegen Griechenland und EU) korrespondiert ein gleichzeitiger Innenkampf (gegen andere türkische Großparteien); diesem Doppelkampf mit ruhigem Auge und Verstand zuzusehen, ist den EU-Bürgern der anderen EU-Staaten nur zu empfehlen, wenn sie über ein starkes Nervenkostüm verfügen.

2018 verkündete ein Erkenntnis der CHP, Griechenland halte 18 ägäische Inseln „besetzt“, worauf der Magen des griechischen Verteidigungsministers hörbar zu knurren begann, was wiederum einen Führer der CHP zur Drohung veranlaßte, Griechenland sollte die Geduld der Türkei nicht auf die Probe stellen, denn die Türkei „ist viel mehr als ihre Regierung.“ Jedem griechischen Minister, der die Türkei herausfordere, werde – vermutlich rechtzeitig – „mit einem Vorschlaghammer auf den Kopf geschlagen.“ Die blumige Rhetorik der orientalischen Mentalität im Land der alten und neuen Sultane wird besonders in Europa, noch inniger unter deutschen Orientalisten, kaum jedoch in Griechenland, bewundert und geliebt.

Bei diesem Wettbewerb der martialischen Worte wird auch die große osmanische Geschichte der Türkei nicht vergessen. Die erfolgreiche Vertreibung der Griechen aus Anatolien in den Jahren von 1914 bis 1923 und danach wird sogar als Muster und Vorbild für künftige Eroberungen angedacht.

Und die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), die dritte im (un)heiligen Bund der neoosmanischen Türkei von heute, erinnert das Griechenland von heute an die Jahre 1921/22, als es gelungen war, „die Griechen ins Meer zu stürzen“, weil man „dem Volk des Kreuzes“ wieder einmal „Geschichte beibringen“ mußte. Warum sollte der gesegnete Sieg, den es damals „vom Himmel regnete“ nicht wiederkehren, nachdem sich das türkische Volk, durch moderne Irrwege ernüchtert, wieder dem Propheten und seinem Gott zuwendet?

Bei der Besessenheit nicht weniger türkischer Politiker für eine Eroberung griechischer Inseln, und wenn es sein müsse, im Auftrag des Jihad, der Europa noch ganz andere Seiten der Geschichte lehren wird, denken wir unwillkürlich an die serbische Intelligenz von vor 1991, als man zunächst die Serben belehren mußte, daß ein serbischer Eroberungsfeldzug durch Jugoslawien das heilige Gebot der Stunde sei.  

Dem zentralen Zankapfel von damals – Bosnien – dürfte heute aber eher nicht Kreta oder eine der vielen anderen Inseln in der Ägäis entsprechen. Es genügt, den Namen Zypern zweisprachig auszusprechen, um in den wahren Zankapfel gebissen zu haben.

Die brutale Besetzung Nordzyperns (1974) ist und bleibt das Fanal, zunächst und zuerst für Zypern selbst, woran auch die offizielle Türkei keinen Zweifel läßt, wie eine kürzlich erfolgte Erklärung des stellvertretenden Premierministers Tuğrul Türkeş über die türkische Kontrolle Zyperns seit 1974 beweist: „Selbst wenn keine Türken auf Zypern leben würden, hätte die Türkei immer noch eine Zypernfrage, und es ist unmöglich, dass die Türkei darauf verzichten kann.“

Zaghafte Stimmen im Europa der heutigen EU, die immer noch nicht weiß, ob sie eine „Zollunion“ und andere Gemeinschaftsprojekte mit der Türkei weiterentwickeln oder endgültig beenden soll, beginnen das Wort „Gefahr“ zu buchstabieren: Europa sollte beginnen, die neoosmanische Drohung nicht (mehr) als Ausfluß eines politischen Denkens irregeleiteter Sonderlinge und Abenteurer zu unterschätzen.

Die Hagia Sophia (Kirche der heiligen Weisheit), von 532 bis 537 im Zentrum des byzantinischen Imperiums erbaut und noch heute eines der erhabensten Kulturdenkmäler der Menschheit, diente nach 1453 bis 1935 als Moschee. Danach als Museum und weltbekannte Sehenswürdigkeit; seit 2020 nun wieder als Moschee: Liegen die ersten Schritte der islamischen Eroberung Europas bereits hinter uns?

Leo Dorner 16.9.2020