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20 Moderne und digitale Kulturrevolution

I.

 

Daß wir heute im Anfangsstadium einer völlig neuartigen Kultur leben, empfinden wir ebenso dunkel wie unabweislich. Wir ahnen zwar, daß mediale Technologien die Kultur der Zukunft beherrschen werden, aber wie konkret und was vornehmlich mit den höheren und niedrigen Kulturgütern in der vielbeschworenen „globalen Netzkultur“ von morgen geschehen wird, das wissen wir nicht.

In einer solchen Situation des kulturrevolutionären Übergangs können Versuche, unser dunkles Ahnen wenigstens zu präzisieren, durchaus nützlich sein. Präzisierungsversuche bedürfen eines Kriteriums ihrer Meßverfahren, bedürfen zumindest einer allgemeinen Orientierungsnadel, um Anspruch auf Objektivität erheben zu können.

Wir benötigen einen Kompaß, der uns zeigt, woher wir gekommen und wohin wir gehen. Und kein anderer steht uns zur Verfügung als dieser: das Alte der vormodernen Kulturen mit dem Neuen der modernen Kultur zu vergleichen. Mag diese – moderne Kultur – sich noch im status nascendi befinden, so sind doch jene – vormodernen Kulturen – überschaubar, weil relativ abgeschlossen und dadurch begreifbar, also von unserer heutigen Situation konkret unterscheidbar geworden.

Doch hat es die Binsenweisheit, daß ein Neues beginnt, wenn das Alte ausgelebt hat, vergleichsweise faustdick hinter den Ohren. Denn das Neue der neuen Kultur bereitet sich in allen Segmenten der Kultur, den höchsten wie den niedrigsten, auf jeweils segmentspezifische Weise vor. Das Neue als Neues scheint weder namhaft noch dingfest, es scheint gerade nicht präzise erfaßbar zu sein.

 

II.

 

Die vielberufene Digitalisierung aller Kulturbestände beispielsweise, ohne Zweifel eine zentrale Innovation der neuen Kultur, zeitigt auf jedem Gebiet der Kultur durchaus eigenständige Wirkungen und Entwicklungen. Die Computerkultur, auch dies eine unbestimmte Allgemeinvokabel, durchdringt alle Sachbereiche, die der Berufe wie die von Unterhaltung, alle öffentlichen und privaten Bereiche, ohne daß wir von einer Computerkultur als neuer Leitkultur sprechen könnten, der sich alle anderen kulturellen Segmente als Teilkulturen unterordnen würden.

Dennoch läßt sich an einem Teilbereich signifikant auch für andere ablesen, warum die neuen Medien der angebrochenen technologischen Kultur alle bisherigen Maßstäbe, Normen und Gewohnheiten von Kulturbegründung und Kulturtradierung verändern werden. Alle vormodernen Kulturen, die nicht mehr als orale existierten und tradierten, waren vordigitale Textkulturen mit je eigenen Formen von Bildung und Tradierung, Gründung und transformierender Weitergabe ihrer Kulturgehalte. Wie Geschichte und „Redaktion“ des Alten, aber auch des Neuen Testamentes beweisen, konnten die sogenannten „Hochkulturen“ die unterschiedlichsten „Formate“ und Strategien entwickeln, mit unterschiedlichsten Ergebnissen, also Kulturen. Was nicht ausschloss, daß einige, etwa die des römischen Imperiums, „globaler“ agierten als andere.

Dennoch muß man nicht Prophet sein, um vorhersagen zu können, daß sich die moderne Traditionsbildung von der vormodernen in allen Segmenten der Kultur ums berühmte „Ganze“ unterscheiden wird. Gleichfalls, daß die vormoderne Traditionsbildung verschwinden und unbekannt werden wird.

Schon heute ist die kanonische Gedächtnis-und Traditionsbildung der vormodernen Kultur in rasantem Verschwinden begriffen. Hit- und Bestsellerlisten für die Angebote aller Kultursegmente, Awards für Mode und Weine und Waren jeder Art, Höchstpreislisten für Werke der bildenden Kunst und unzählige andere Preise und Anpreisungen sind inflationäre Schwundstufen dessen, was die „Kanons“ der Vormoderne leisteten. Diese führten zu verbindlichen Leitkulturen, in denen führende Eliten – anfangs religiöse, dann säkular gebildete Aufklärungseliten – normative Ideale als „Klassik“ lebten, von der antiken bis zur Wiener und Weimarer Klassik.

 

III.

 

Oberflächlich betrachtet wird die kanonische Traditions- und Gedächtnisbildung der Vormoderne lediglich durch moderne Selbstvervielfältigung abgelöst. Wo früher eine Klassik, da tummeln sich heute unzählige, und wer wählen mag und kann, der wähle. In diese Realität einer unübersehbar ausdifferenzierten Kultur mit ständig erweitertem Überangebot scheint die moderne Digitalisierung aller Bestände gerade recht zu kommen.

Deren Medien scheinen zusammenzuführen, was die moderne Pluralitätskultur, permanenter Selbstüberbietung frönend, streng getrennt und tribalisiert hat. Auf einen Klick oder fingertouch möglich: Zutritt zu jeder Art von Kulturangebot, von Waren und Information, und nicht zur Zutritt, sondern auch Kommunizierbarkeit im unendlichen Palaver aller „sozialen Dienste“ der neuen Medien. Wer fragt angesichts dieser Entwicklung noch nach „normativen Idealen“, nach Leitkulturen, nach „Klassik?“ Blauäugig unbedarfte Politiker-Gemüter vielleicht und selbstredend die Nonsens-Sprachen der Event-Marketingabteilungen aller Kulturmärkte.

Abstrakt könnte man formulieren: vormoderne Kulturen wurden – nach der oralen Vorzeit – literal geführt, moderne Kultur, global zusammenwachsend, wird digital geführt. Und dies ist kein Entweder-Oder, weil das digitale Prinzip das literale in sich aufnimmt und vollständig integriert. Das sich permanent erweiternde Wissensportal Wikipedia – eine Art Weltdemokratie des Wissens – hält derzeit bei dreieinhalb Millionen Beiträgen.

Infolge seiner integrationsmächtigen Produktions-, Reproduktions-, Speicher- und Vermittlungsmedien kann das digitale Prinzip der neuen technologischen Kultur von kaum einem der unzähligen Märkte, weder der Waren noch der Kultur (sofern dieser Unterschied noch besteht), ignoriert werden.

Nochmals könnte man daher vereinfacht formulieren: Es sind die Märkte und deren Eliten, – so viele wie Märkte -, die nun jene kanonisierende Auswahl treffen, die in der Vormoderne an zentrale obrigkeitliche Eliten (Religion und Politik, Kirche und Kaiser, Könige und Aristokratie samt Gefolge) delegiert war. Nicht zufällig sind die Wörter „Kuratieren“ und „Zertifizieren“ in den Hitlisten der „Wörter des Jahres“ in die oberen Ränge aufgestiegen.

 

IV.

 

Daß aber Marktprinzipien solche der Konkurrenz und des Gewinns, der Aufmerksamkeit und Anerkennung, der Nützlichkeit und Beständigkeit sein müssen, ist eine Binsenwahrheit, die jede säkulare Welt, ausgenommen totalitäre Diktaturen, ohne Alternative dominiert. Zwei fraglose Prämissen gründen daher den modernen Weltglauben der technologisch agierenden Markteliten.

Zum einen sollen in jeder Sparte durch das freie und zugleich unerbittliche Walten der Märkte die besten Evangelien aus einem Angebot unzähliger destillierbar sein; zum anderen müssen Administratoren nicht nur, sondern Erfinder und Macher neuer Digitalprogramme permanent rekrutiert und integriert werden, weil kein Markt und kein Marktprodukt, von rustikalen Ausnahmen abgesehen, überleben kann, wenn sie sich nicht digital als media demand products plaziert haben. Ohne Google kein Vorwärtskommen im modernen Dschungel allpräsenter Märkte und Produkte.

Die kanonischen Gedächtnisspeicher der vormodernen Kulturen basierten in jeder Sparte, auch in jener der Literatur, auf einem relativ spärlichen und geringzähligen Vorrat an Überlieferungsgut. Die moderne Kultur tendiert in jeder Sparte zur Zahl Unendlich, und wenn nicht zugleich das Verenden und Absterben von Sparten geschähe, hätte uns ein totalitär-anarchisches Babylon längst schon vernichtet – von den himmelhohen Rampen des neuen Wissensturms in die tödliche Tiefe einer neoarchaischen tabula rasa gestürzt. Ein Sturz, vor dem sich der moderne Konsument moderner Dauerunterhaltung, fröhlicher Neoanalphabet in eigener Sache, zu schützen scheint, indem er ihn vollzieht.

V.

 

Die Schwierigkeit, den Bruch von Vormoderne und Moderne im Spiegel der neuen – technologisch-digitalen – (Nicht-mehr-)Traditionsbildung und (Un)Gedächtniskultur zu erkennen, gleicht dem Versuch, einen neuen geologischen Kontinent zu erkennen, der durch neue kontinentale Entstehungsbedingungen entsteht.

Quantitativ-äußerlich lautet die Maxime des Vergleichens: Geringzähliger versus unendlichzähliger Gedächtnisspeicher. Der digitale macht es möglich und irreversibel wirklich: daß wir uns auf die berühmte Insel als Aussteiger von morgen ein digitales Lesegerät in der Größe eines Flachbuches mitnehmen, das tausende Bücher, eine ganze Bibliothek, mit sich führt.

Aber nicht diese überbordende Quantität, erst die Allgegenwart der digitalen Gedächtnisspeicher übertrifft die nur quantitativen Vergleiche ums qualitative Ganze: Was an jedem Ort und zu jeder Zeit verfügbar ist, das muß eine mehr als nur quantitative Neuerung sein – gegen alle vormoderne Traditions- und Gedächtnisbildung. Welche konkret? – das eben hätten wir gern schon gewußt.

Im vormodernen Europa soll es noch bis ins 19. Jahrhundert nicht ungewöhnlich gewesen sein, daß nur ein Buch, die Bibel, die bäuerliche Bevölkerung durchs Leben begleitete. Im modernen Europa ist mittlerweile der säkulare Wiedergänger des vormodernen Ein-Buch-Lesers erschienen: der moderne Medienkonsument, der auf die Frage nach der Anzahl seiner pro Jahr gelesenen Bücher in verlegenes Stottern gerät. Aber nun wird alles anders, weil er gar keiner Bücher mehr bedarf, um grenzenlos Bücher – immer und überall – lesen zu können, wenn er des Lesens nach lebenslanger medialer Fremdgängerei noch kundig sein sollte.

Der Allgegenwart des sogenannten „Zuganges“ korrespondiert eine tendenzielle Allheit des Angebots: das genaue Gegenteil von Auswahl und Kanon. In der Vormoderne stand noch – oft ungeschrieben – geschrieben, was man gelesen haben mußte, um zur höheren Schicht gebildeter Leser zu gehören. Heute steht es nirgendwo und Bücher, die dies behaupten, nicht zufällig der Ratgeber-Literatur zugehörig, deren Angebot gleichfalls überbordet, beweisen schon durch ihre marktbedingte Existenz und ohnmächtige Beschwörung die Verabschiedung aller Kanonik in Angebot und Auswahl.

Überspitzt formuliert: ist alles zugänglich gegenwärtig, ist nichts mehr eingänglich vergegenwärtigbar. Nicht nur explodiert das sogenannte kulturelle Gedächtnis, auch die Zuwachsraten der aktuellen Produktion tendieren ins Unendliche und Unüberschaubare. Die produktive Generierung heutiger und die interpretierende Tradierung gestriger Texte eröffnen ein neues Verhältnis mit ungewisser Zukunft.

Das literarische (und jedes kulturspezifische) Gedächtnis wird dem Geist der Suchmaschine überantwortet, die als Gedächtnismaschine für einen Ersatz sorgt, der keiner ist. Und die Produktion geht an neue Produktions- und Rezeptionsträger über – wer „am Computer schreibt und liest“, verfügt über Werkzeuge, die den vormodernen Schriftstellern unbekannt waren. Flauberts „Tausende Bücher“, die er las, um einen einzigen Absatz eines historischen Romans unübertrefflich zu verdichten, sind Geschichte. Das moderne Suchen und Finden, Aufbewahren und Tradieren, Produzieren und Rezeptieren, wird mit den vormodernen Arten von Lesen und Um- wie Weiterschreiben des Bestandes zunehmend „unvergleichbar.“

Bereits die Dialektik von „Verfügbarkeit“ sollte nochmals auf moderne Ambivalenz hin untersucht werden. In einem unendlichen Regal jeden Text sofort finden und „aufschlagen“ zu können, bedeutet noch nicht, das uns auch die Zeit zur Verfügung gestellt wird, mehr als nur „aufzuschlagen“, mehr als nur äußerlich zu „informieren.“ Im Gegenteil: je größer die Summe des überall und zu jeder Zeit Verfügbaren, umso verschwindender die Ressource Zeit, das digital oder/und online Herausgegriffene und Aufgeschlagene auch bewahrend lesen und bewertend verarbeiten zu können.

 

VI.

 

Ist dies nun das Ende von Überlieferung oder nur eine ganz andere, ganz neue Art von ‚Überlieferung?‘ Kann ein Vergleich mit den Anfängen der literalen Überlieferung Klarheit geben? – Kaum ein größerer Gegensatz vorstellbar: Am Anfang einfache naturale Schreib- und Tradiermittel und Weniges von Wenigen für Wenige: von Stammeseliten ausgewählte Schriften für wenige Analphabeten. Am Ende und neuen Anfang: Alles von allen für alle, unübersehbar Vieles für unübersehbar Viele dank technologischer Schreib- und Tradiermittel.

Spät erst wurde der Buchdruck erfunden, der eine knapp 500-jährige Literar-Tradition bestimmen sollte. Nun aber beugt er sich der neuen technologischen Herrschaft, gliedert sich ein in neue Produktions- und Vermittlungsweisen geschriebener Sprache und nicht nur von Sprache, weil die neuen technologischen Medialkulturen Bild und Klang in den Rang gleichberechtigter kultureller Leitmedien erhoben haben. Eine Revolution, die sich fast unmerklich vollzieht, und nicht aus gewissen vormodernen Vorläufern wie Bildbüchern und dergleichen abgeleitet werden kann. Die biblia pauperum der Antike trennt vom modernen Fernsehprogramm mehr als nur eine Welt. Fazit: Am Anfang: totale Selektion durch wenige Selektionäre; am Ende (und neuen Anfang) totale Nicht-Selektion durch unendlich viele Produkteure.

Am Anfang: durch Religion und archaische Traditionen selbstverständlich vorgegebene Kriterien für Normen, Gesetze und Regeln, für tradierwürdige Kulturinhalte, am Ende: das Ende aller glaubwürdig und verbindlich durchsetzbaren Normen und Ideale. Eine Freiheitswelt, die sich von jeder vormodernen Instanz gelöst und Gesetze und Regeln für ihr kulturelles Handeln nur mehr in den formalen Inhalten von Recht und öffentlicher Gesetzgebung findet.

Eine Freiheitskultur somit, die für ihr technologisches Produzieren und Tradieren universale Vernunftprinzipien vorerst oder für immer vergeblich sucht, weil sich möglicherweise keine mehr finden lassen, die als Normen kanonisieren, orientieren und führen könnten. „Vielfalt der Kultur und der Kulturen“ als letzte Auskunft, Beliebigkeit als notwendige Kehrseite der erlangten Total-Freiheit?

 

VII.

 

Aber im Gegenzug eine völlig neue Aufbewahrungskultur, in der nichts mehr verloren zu gehen scheint, vergleichen wir etwa die modernen Archive und Datenbanken mit den hohen Verlusten, die beispielsweise für das antike Schrifttum zu beklagen sind. Die Bild-, Ton-, und Schriftarchive der Moderne, die nun sogar den Weltkriegen ein kolossales Filmgedächtnis bewahren, sind von völlig anderer Art und Quantität als alle vormodernen Kulturspeicher und -tradierungen.

Von den Handschriften der antiken Historiker, Wissenschaftler und Philosophen blieb knapp ein Zehntel erhalten, von den gedruckten Produktionen wenigstens der Neuzeit dürfte nur Bruchteil verloren gegangen sein, und noch heute werden bislang ungedruckte Handschriften des Mittelalters und anderer Epochen erst- oder nachgedruckt.

Noch bis weit über die antike Vormoderne hinaus bestimmten im abendländischen Kulturkreis mächtige Eliten über die Erhaltungswürdigkeit dessen, was überliefert werden durfte. Die Schriften der Gnostiker beispielsweise hatten gegen die Macht der christlichen Urkirche keine Chance; zufällig erhaltene Reste werden heute auf dem Markt für Esoterik als „Renner“ verkauft.

Wahrscheinlicherweise war der Index der Katholischen Kirche der letzte umfassende Versuch, die vormoderne Vormundschaft über eine noch unmündige Leserschaft aufrechtzuerhalten. Mit dieser verschwindet jene, könnte man ironisch ergänzen, denn ist alles möglich und erlaubt, weil die Differenz von Norm und Abnorm unsichtbar geworden, ist auch jegliche Version von Ketzertum ausgestorben. Der Kampf gegen häretisches Schrifttum und Verhalten kann seither nur noch als innerkatholischer geführt werden.

Nicht erst die Erfindung des Buchdrucks revolutionierte die Aufbewahrungskulturen der Menschheit; schon die am Ende der Antike erfolgende Text-Übertragung von Papyrus auf haltbareres Pergament war ein Entwicklungsschritt, der viele vom Zerfall bedrohte Werke rettete, die noch heute für die Kultur von Dichtung, Philosophie und Politik wichtig sind. War in der vortechnologischen Vormoderne bei ungünstigem Geschick jedes noch so bedeutsame Werk damit bedroht, in kürzester Zeit auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden, kann in der Moderne gewissermaßen nichts mehr verschwinden, nicht das Wertvollste, nicht das Wertloseste.

Dieser Preis war zu bezahlen für die errungene Befreiung von der Bevormundung durch Eliten, die wußten, wo das Wertvolle beginnt und aufhört, und wo und wie das Wertlose dem Vergessen oder der Vernichtung zu übergeben ist.

 

VIII.

 

Dennoch ist die Frage der Dauerhaftigkeit der modernen digitalen Speichermedien zur Dauerfrage aufgestiegen. Sie artikuliert eine Sorge, die jene um den Gedächtnisverlust begleitet: Ist alles speicherbar und abrufbar, kann sich kaum noch ein verbindlicher Gedächtnisstrom bilden. Ist aber sogar die Dauerhaftigkeit der digitalen Speichermedien nicht garantiert, weil ältere von neueren Technologien nicht mehr „gelesen“ werden können, droht doppelte Bedrohung: die von innen höhlt und zerstört das kulturelle Gedächtnis für historische Entwicklungen, jene von außen die digitale Grundlage der technologischen Aufbewahrungsmedien.

Und da auch die technologische Eliten der digitalen Speichermedien nicht die Macht haben, die Weiterentwicklung ihrer Produkte anzuhalten oder in bestimmte – „nachhaltige“- Richtungen zu lenken (abgesehen davon, daß sie unter den Bedingungen der modernen Märkte neue Produkte als bestimmte Gegenprodukte gegen die Konkurrenz konzeptieren und produzieren müssen), ist kein Ende der fast schon im Jahresrhythmus erfolgenden Innovationen abzusehen.

Dabei geht es aber nicht mehr um Entwicklungen in gesonderten und für sich lebenden Kulturen, wie in der Vormoderne, die als nationale ihr Leben aushauchten, sondern um die eine, alles umfassende, alles durchdringende Globalkultur von heute und morgen, in der die neuen Produkte erfolgreich sein müssen.

 

IX.

 

Welche inneren Proportionen zwischen den aktiven Faktoren der neuen Gedächtnis- und Kommunikationskultur heute schon bestehen und die künftige Entwicklung bestimmen werden, ist in uneinsehbares Dunkel gehüllt. Vielleicht grundlos die mitunter geäußerte Befürchtung: Je größer der gespeicherte Bestand und je rascher „aufschreibbar“ und global kommunizierbar, umso rascher und daher kürzer die Verfallszeit der modernen Auf- und Umschreibe-Technologien. Dies würde die bisher als selbstverständlich vorausgesetzte Kontinuität von Kulturtradierung, meist an die Identität einer Sprache oder mehrerer (ihrer Übersetzbarkeit) gebunden, zerstören.

Der vormoderne Geist konnte über die Sprachen von Jahrtausenden hingreifen, der hypermoderne von morgen würde diese Fähigkeit verlieren. Schon die digitale Sprache des nächsten Jahrhunderts könnte die vom vorigen Jahrhundert nicht mehr verstehen, weil sie nicht mehr adäquat übersetzbar, nicht mehr sinnentsprechend umprogrammierbar wäre.

Zudem würde das kulturelle Gedächtnis durch die oben beschriebene Verallgegenwärtigung alles Aufbewahrten eine Vergleichzeitigung alles Gewesenen schaffen und als authentisch erleben, wodurch auch das Bewußtsein über die Unterschiede und Längen der Weltzeiten, ihrer Epochen und Kulturen, ihrer Entwicklungen und Vollendungen verloren ginge. Wem alles gleichzeitig erscheint, der scheint das Ende der Geschichte erreicht zu haben.

Im medialen Gedächtnis des Kulturkonsumenten von morgen erscheint der Höhlenmaler von Altamira, durch kongeniale und authentische Verfilmung wiedererweckt, als bleibende Kulturgröße, die sich ebenso authentisch als ewig-stationärer Picasso abfeiern läßt. Fazit: Die Entwicklung ging vom gravierten Stein zum Zeichencode des elektronischen Materials: vom Haltbarsten zum Flüchtigsten – das gibt zu denken, aber nicht genau worüber.

Je freier der Geist, umso mühelosere Mittel verschafft er sich, seine Gehalte zu objektivieren und zu tradieren, zu verändern und zu vervielfältigen, aufzubewahren und abzurufen. Die elektronischen der digitalen Medien objektivieren eine neue Freiheit, die zugleich neue Subjekte hervorbringt, und das global kommunizierende Internet ist Zentrum und neues Leitmedium der bislang unübertroffenen Mühelosigkeit.

 

X.

 

Über die Mühen des vormodernen Ab- und Umschreibens vorgegebener Traditionsbestände machen wir uns kaum noch adäquate Vorstellungen. Wir ahnen noch, daß die Mühen der handschriftlichen Tradierung in einer inneren Relation zur Auswahl des Bestandes durch die jeweiligen Herrschaftseliten, ebenso zum langsamen Wachstum des sich erneuernden Bestandes gestanden haben müssen. Und natürlich sehnen wir uns manchmal in diese scheinbar einfachen, weil überschaubaren Kulturzeiten zurück. Keine Überproduktion und Überfütterung, keine Überforderung und kein Überdruß: das kommt nicht wieder, es sei denn globale Katastrophen schleudern die moderne Menschheit in archaische Zustände zurück.

Die neuen Medien der technologischen Moderne haben keine Mühe, die bisherigen Hauptstufen der literalen Tradierung – Handschrift-Buchdruck-Digitalfassung – in sich aufzunehmen, schon weil bisher die jeweils nächste Stufe die vorhergehende transformierend integrierte. Insofern expandiert das „Universum der Texte“ seit Erfindung seiner Urschriften. Aber es expandiert gleichsam durch immer andere Arten von Galaxien. Klagen über ein nicht mehr zu bewältigendes Lesepensum gab es in der Antike kaum; sie expandieren gleichfalls seit Erfindung des Buchdrucks und dessen – im Vergleich zur Verbreitung von Handschriften – hypertropher Reproduzier- und Verkaufbarkeit.

Und mit den elektronischen Medien ist nun auch das Expandieren in die Vergangenheit des Universums der Texte hypertroph möglich geworden. Der digitale Reprint holt vergangene oder vergessene Bücher ins online- oder andere Datenbank-Regale. Eine Entwicklung, die soeben begonnen hat – mit den bekannten rechtlichen Friktionen, weil die neuen Medien und digitalen Technologien von neuen (Autoren)Subjekten, daher auch von neuen „Urheberrechten“ ausgehen, die aber erst noch zu finden und zu verfassen sind.

Die seit Erfindung des Buchdrucks und des dadurch ermöglichten Buchhandels dauergestellte Frage, „Wer soll das alles lesen?“, ist bereits bauernschlau gestellt: Wer so fragt, freut sich, daß er als Nichtleser gute Gründe für seine Leseabstinenz anführen kann. Er verstellt die eigentlich zu stellende Frage: was soll gelesen werden, weil es gelesen werden muß?

Die Orientierungslosigkeit darüber ist mittlerweile epidemisch geworden: der über seine Lesefrüchte befragte „Promi“ (jeglicher Provenienz) ist die allerletzte Schwundstufe jener Eliten, die einst vorgaben, was man auf dem gradus ad parnassum verbindlicher Bildung zu lesen hatte. Von der Kirche über Gracian bis vielleicht zu den Idealen des Humboldtschen studium generale reichte der Bogen, dessen Erlöschen heute nicht einmal mehr nachgetrauert werden kann.

Wer sich heute auf Bildungspfade begibt, unternimmt dies als Ritter in einsamer Mission. Das Wort Selbstbildung, noch im 19. Jahrhundert verpflichtend, ist in der Moderne anrüchig geworden. Hauptgrund dafür ist nicht nur die epidemische Unterhaltungssucht des modernen Menschen, sondern vor allem sein Ausgeliefertsein an spezialisierte Berufs- und Wissenswelten. Sich in auch nur eine derselben einzulesen, ist unter mehrjähriger Lese- und Studierarbeit nicht zu haben. Welchen Pfad soll er einschlagen, welchen muß er einschlagen, nachdem ihn die Zufälle des Lebens in diese oder ganz andere Gegenden der modernen Welt(en) verschlagen haben?

In dieser Lage wären auch die vormodernen Zensurbehörden der alten Monarchien überfordert, und die modernen Diktaturen hatten ihre liebe Mühe, alle Kultursegmente entweder über den faschistischen der nationalen oder den kommunistischen der marxistischen Ideologie zu schlagen. In der glücklich entsorgten DDR war es „Kanon“, die vormoderne deutsche Literaturgeschichte als Vorstufe und Vorbereitung der befreiten sozialistischen Literatur des Proletariats, das als Subjekt der Weltgeschichte erkannt worden war, zu taxonomieren.

 

XI.

 

Daß die bislang mühelosesten Techniken des Aufschreibens und Aufbewahrens, Verteilens und Tradierens mit der modernen Demokratie und ihrer Lesefreiheit (als Teil praktizierter Meinungs- und Pressefreiheit) harmonieren, fällt uns kaum noch auf. Zu selbstverständlich ist geworden, was die Freiheitsweilt der westlichen Demokratie ausmacht: als eine und pluralistisch einheitliche von vielen autonomen Freiheitswelten – mit denen von Wissenschaft und Wirtschaft, von Recht und Politik an der Spitze -, Erfolg haben zu müssen. Eine „Einheitlichkeit“, die als Gegenteil ihrer selbst existiert, ein polyhistorischer Multizentrismus, den zuletzt die Marktstruktur der modernen demokratischen Kultur(en) möglich und notwendig gemacht haben.

Wer unter diesen Bedingungen immer noch an die Fortführung einer kanonisch selektiven Traditionsbildung und Traditionserhaltung (nicht nur) im Segment Literatur glaubt, dem ist nicht mehr zu helfen. Es sollte ihm zu denken geben, daß kein Tradierungsprojekt, das in der Moderne geplant und ausgeführt wird, nochmals vom Geist jener richtungsweisenden Volkserziehung getragen wird, die einst das kulturpolitische Ziel: „klassische Bildung für alle“ anvisierte. Ein Ideal, das die Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts besonders in Deutschland prägte und noch den Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mit seinen Illusionen verschonte.

Der humanistische Impetus dieser nochmals kanonisch sein sollenden Traditionsbewahrung und –pflege – durch wahre Tradition zu wahrer Humanität erziehen – war immer schon gebrochen und unglaubwürdig gewesen: Was in unübersehbarer Vielheit möglich ist, kann kein Vehikel für eine angeblich gemeinschaftlich erreichbare Vollendung des Menschen sein. Wo alles als „Gesamtausgabe“ (von womöglich „zu Unrecht Vergessenen“) erscheinen kann und muß, ist keine nochmals das altbewährte „Alles in Allem.“

Was sich bereits im 20. Jahrhundert vorbereitete, wird im 21. Jahrhundert selbstverständliche Tatsache: eine radikal nichtkanonische, unübersehbar partikularisierte Traditionsbewahrung und –pflege taugt nicht zur politischen Identitätsstiftung für Nationen oder gar für ein Vereinigtes Europa.

Vergleicht man damit den erfolgreich, wenn auch verhängnisvoll ausgeführten Auftrag, mittels Weimarer Literatur-Klassik, Grimmschen Kinder- und Hausmärchen und zuletzt noch mit Wagners deutschseligen Opernmythen eine affirmative Leitkultur für Volk und Nation aller Deutschen zu schaffen, könnte der Unterschied und der Abstand, der uns davon trennt, nicht krasser sein. Ein höchster politischer Auftrag an die Kultureliten wurde von vielen niederen, gleichberechtigten Aufträgen und Selbstaufträgen abgelöst, von einer „Drittmittelkultur“, die ihre Berechtigung durch entsprechende „Auslastung“ oder sonstige Marktbestätigungen beweisen muß.

 

XII.

 

Manchmal vernehmen wir noch die nostalgische Stimme, Künstler und Pädagogen, oder auch die Religion und Theologie des Christentums wären berufen und befähigt, dem neuen Europa eine „Seele“ einzuverleiben. Eine „Seele“, die ihm die relativierende Massen- und Spezialisten-Kultur der modernen Gesellschaft genommen habe. Doch wird uns nicht mitgeteilt, wie eine auf ihrer „Vielfalt“ errichtete Kultur dazu fähig sein könnte.

Welches Segment ihrer modernen Differenzierung und Individualisierung wäre fähig, eine politische Idee, ein politisches Programm der modernen Demokratien und ihrer europäischen (oder der deutschen) Vereinigung zu begründen, zu repräsentieren oder auch nur sachverbindlich zu kritisieren?

Mußte unsere Traditionsbewahrung und –pflege der höheren Kultur, (ein problematisch gewordener Terminus) pluralistisch und individualistisch werden, mußte sie auch kulinarisch und ästhetisch, bestsellerisch und Partikular-Event werden. Und die produzierenden Nachfolger sind nicht mehr Erben, die ein leitendes Erbe fortsetzen könnten und sollen, sondern Darsteller und Erfinder, Spieler und Konkurrenten in eigenem Auftrag. Im Blick zurück gibt es nur mehr Nachlässe-Kuratoren, im Blick nach vor nur mehr Kreative in eigener Sache.

Und die digitale Kulturrevolution vollendet nur, was die moderne Kulturrevolution hinterließ und hinterläßt – unser kultureller Pluralismus und Individualismus kommt nun vom Regen in die Traufe. Ob die digitale Kultur als Zweite Moderne reüssieren wird, mag die Zukunft zeigen.

 

November 2010