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5 Zur Sprache der Musik

A.

 

Die am Ende des 19. Jahrhunderts noch zentrale musikästhetische Frage, ob Tonalität untrennbar zu einem Begriff von musikalischer Sprache gehöre, deren Realität verbindlich und objektiv vermittelt und vermittelbar sei, scheint am Beginn des 21. Jahrhunderts ebenso obsolet wie unentscheidbar geworden zu sein. Zwar scheint die globale Präsenz der unübersehbaren Genres der Unterhaltungsmusik, die durchgängig tonalen Schemen folgt, eindeutig für Tonalität als entscheidendem Proprium von wirklich musiksprachfähigen Klängen zu sprechen.

Zugleich kann aber seit Beginn des 20. Jahrhunderts gegenargumentiert werden, daß die moderne Wende zu einer neuen Musik jenseits jeglicher Tonalität den Begriff und die Realität musikalischer Sprache nicht nur erweitert, sondern überhaupt erst zu deren eigentlichem Wesen befreit habe. Erst jetzt sei Musik in ihrem ureigenen Sprach-Element angekommen, erst jenseits aller Grenzen aller möglichen Arten von Tonalität werde die eine und wahre Freiheitssprache von Musik möglich, nach der alle Musik der Menschheitsgeschichte immer schon dürstete.

Völlig sekundär geworden daher die scheinewige Frage des spätromantischen Musik-Bürgertums, ob es gewisse Erweiterungs-Grenzen der Tonalität gäbe, hinter welchen das Niemandsland auch von Musik beginne, weil deren Wesen Unwesen werde, wenn die bindende Tonalität von Klängen abgeworfen wird. Strauss versus Schönberg, gemäßigte versus radikale Moderne, diese und ähnliche Diskurse am sogenannten musikalischen Material, spätestens durch Wagners Entgrenzungen der Tonalität initiiert, haben das Zeitliche gesegnet.

Daß das Bürgertum keine verbindliche Sprachtheorie der Sprache von Musik hervorbringen konnte, kann den nicht verwundern, der die Grenzen ihrer Theoriebildung im Traumland der Musik kennt. Nicht einmal ein verbindlicher Begriff von Tonalität konnte sich durchsetzen, und mittlerweile ist es erlaubt, jeden individuellen als einen von Sache auszugeben.

Gattungsbegriffe der notwendigen Akzidenzien von Tonalität wie Grundtonbeziehung, Schlußfähigkeit, Entelechiebildung in der Synthese von Metrum-Rhythmus und Harmonik-Melodik sowie der musikorganischen Vereinigung von Wiederholung und Veränderung wären nötig gewesen, sowohl um der modernen Willkürlogik nominalistischer Denkweisen – „Motivik- Thematik“ und „Durchvariation“ – Einhalt zu gebieten wie auch um alle musikgeschichtlich realisierten Artbegriffe von Tonalität miteinander nicht bloß historisch-faktisch, sondern wahrheits-ästhetisch vergleichen und bewerten zu können.

Es gibt mehr Arten von Musik als es Arten von Tonalität gibt, aber es gibt keine universale Art von Musik, die nicht eine Art von Tonalität wäre; noch die schlechteste Art von Musik fügt sich gutgearteter Tonalität zunächst ein, ehe sie auch diese in den Abgrund zieht. Und erst über diesem Abgrund entsteigt eine Art von Musik, die sich der Artenbildung tonaler Gattung entziehen muß.

 

B.

 

Angesichts des Befundes: zugleich obsolet und unentscheidbar sei die Frage nach einem Substanzverhältnis von Tonalität und Musik als Sprache geworden, sind wir geneigt, die Antwort entweder modern vorzuentscheiden: das erreichte Arkanum totaler Freiheit von jeglicher Tonalität sei das erreichte Arkanum befreiter Musiksprache; oder wir zögern und ziehen die Karte der Neutralität und des Abwartens: die Zukunft möge entscheiden über der Musiksprache Schicksal. Trial and error ist doch beliebt, warum nicht auch hier und überhaupt überall?

Kehren wir nochmals zurück in den verlassenen Thesenraum, in dem die Diskussion über Musik als Sprache in Schweigen versunken ist, finden wir die drei erstarrten Gestalten immer noch ruhend und untätig vor, pensionierten Gespenstern gleich, die nicht mehr gewillt und nicht mehr fähig sind, den konstitutiven Streit aller bisherigen Musikgeschichte, den von antiqui versus moderni, weiterzuführen.

Die sich heute wie von selbst verstehende These scheint am selbstgefälligsten in sich versunken zu sein: daß die Tonalität in der modernen Unterhaltungsmusik vollendet zu sich gekommen, vollendet sprachfähig geworden ist, weil eine Musik, die der ganzen Menschheit spontanes Glück zusprechen könne, Beweis genug der Tatsache sei, die theoretisch nochmals zu demonstrieren überflüssig ist.

So fragte kürzlich ein Pop-Fellache eine sogenannte Star-Interpretin „klassischer Musik“ ob es denn wirklich möglich sei, daß Bachs Musik nicht schlechter als jene der Beatles sei; worauf die Künstlerin in ihrer Verzweiflung zu lachen anhob, ohne doch eine musiksprachversierte Antwort erheben zu können, die der präsenten musikalischen Unvernunft des musikalischen Fellachen als Vernunft von Musik hätte einleuchten können.

Die zweite Sprachgestalt, jene der nichttonalen Freisprechmusik, ist im sprachlosen Thesenraum in unaussprechlicher und offensichtlich rätselhaft wirken sollender Erstarrung in sich versunken; ebenso beleidigt wie zugleich stolz über ihre marginale Präsenz in der modernen Gesellschaft: Wer zu mir und über mich nicht spricht, zu dem spreche ich auch nur mehr auf meine Weise.

Bleibt noch die dritte These im geisterhaften Thesenraum: die klassische Musik sei doch das ABC der Musik, teilte besagte Interpretin ihrem Fellachen von Interviewer mit, und dieser mag beim Erhören dieser Botschaft leibhaftig ein Gespenst vor sich erblickt haben. Jeder weiß doch, daß entweder die Beatles oder der Blues, entweder der Groove oder der Beat das wahre ABC der Musik machen.

Die dritte Position kann sich schon sprachlich nicht mehr vermitteln, geschweige kategorial. Denn unter „klassische Musik“ meint der „klassische Musiker“ natürlich nicht die der Wiener Klassik allein, sondern im Grunde alle großen Musikstile etwa seit der frühen Neuzeit, und wenn er tolerant denkt, glaubt er auch noch an eine „Klassik“ der Moderne. Ein Klassikbegriff dieser Differenziertheit ist aber für den schlichten Geist der fellachischen Popkultur, die ihrerseits unübersehbaren Differenzen und sogar „klassischen“ huldigt, unverständlich.

Der „klassische Musiker“, bemerkend, daß seine Position nur mehr eine unter mindestens dreien ist, kann oder darf die seine nicht mehr sachentsprechend vorführen, weil schon die Vielzahl der benötigten Schlagworte – etwa ars antiqua, ars nova, Barock, Klassik, Romantik – vom Zeitgeist nicht mehr nachvollzogen werden kann und weil sich sein „klassisches“ Argument zugleich als hoffnungslos veraltetes desavouiert hätte. Sprachen von gestern und vorgestern als ABC der Musiksprache für die Musikkultur von heute und morgen?

Was er eigentlich sagen möchte, aber nicht mehr kann, weil er in seiner Verunsicherung nicht mehr weiß, was seine Meinung bedeutet, ist dieses: Es gab Stile von Musik, die als deren höchste Dialekte von musikalischer Sprache zugleich deren höchstes Wesen als Kunst offenbarten und daher unvergeßlich wenigstens für kleine künftige Eliten verbleiben werden. Sprachen von musikalischer Sprache somit, die nicht nur Ausdruck einstiger Eliten und Gesellschaften waren und sind, sondern Selbstausdruck der höchsten Sprachlichkeit von Musik überhaupt.

 

C.

 

So reden zu können, müßte er begriffen haben, daß die Sprache der traditionellen Musik der christlichen Vormoderne – des verschrieenen und verschwundenen „Abendlandes“ – nichts weniger als die Theophanie einer vollkommen und daher unübertreffbar sprechenden Sprache von Musik war und ist. Sein Nichtwissen darüber und seine Unsicherheit über sich selbst gründet nicht in der Versuchung, das popmusikalische Argument oder auch das des Jazz, der sich immer wieder als eigentliche Ursprache mißzuverstehen sucht, zu billigen und als Wahrheit anzuerkennen; es rührt vielmehr daher, daß er den modernen Glauben an das moderne Argument verinnerlicht hat, demzufolge der solitäre Komponist der Moderne berufen sein könnte, eine neue und ultimative Ursprache der Musik erst noch zu entdecken.

Weil sein Denken und Meinen zwischen dem „klassischen“ und dem „modernen“ Argument oszilliert, eine Oszillation, die er sich durch den Irrtum und das Versprechen, es gäbe doch auch eine „Klassik“ der Moderne, verbirgt, lebt und spricht er mit schlechtem Gewissen aufgrund eines universalen Nichtwissens: ausgerechnet er, der Experte aller Experten in Fragen der Musik. Er versteht nicht, warum man ihn nicht versteht, weil er nicht versteht, daß er sich selbst nicht verstanden hat.

Angesichts dieses Befundes sind wir wieder am scheinneutralen Ort einer utopischen Erwartung angelangt: die Zukunft möge entscheiden über der Musiksprache Schicksal. Trial and error ist doch beliebt, warum nicht auch hier und überhaupt überall? In Wahrheit soll nach dem „Modell“ vormoderner Urteilsfindung abermals eine verbindliche Geschmacks-Zukunft der Musik herausfinden, wer die Beethovens von heute, die über die Cherubinis von heute, wer die Mozarts von heute, die über Salieris von heute, und wer die Bachs von heute sind, die über die Mediokritäten von heute siegen werden.

Eine nüchterne Betrachtung dieser Illusion utopischer Erwartung zeitigt zwei unüberwindliche Barrieren. Zum einen müßte ein objektives Geschmackurteil musikgeschichtlich fortsetzbarer Qualitätseinsicht nicht mehr nur – wie ehedem – durch Selbstvergleich von Werken in den einzelnen Gattungen der (Kunst)Musik erfolgen; sie müßte vielmehr und bislang ungewesen als Auslesekampf und –urteil über sehr heterogene Arten von Musik erfolgen, von der DJ-Musik bis hin zur experimentellen Geräuschemusik der je aktuellen Avantgarden.

Und zum anderen wäre an die Stelle der vormodern gesellschaftsimmanenten Musikentwicklung und Urteilsfindung, die als Reflex und Fazit der vormodernen Eliten über ihr Bedürfen an und Befrieden durch Musik erfolgte, eine nur mehr marktimmanente getreten: der Selektionskampf aller heterogenen Märkte aller heterogenen Musiken.

Sein Erschrecken über dieses Erscheinen einer unlösbaren Aporie pflegt der noch an Musikfragen interessierte homo modernus durch zwei musikgeschichtliche und musikästhetische Placebos zu beschwichtigen. Zum einen soll ein universales Cross-Over aller Musik-Arten jene Weltmusik ermöglichen, die überhaupt erst als musikalische Kunst und Sprache für die gesamte Menschheit sprechen werde können; und zum anderen soll die bekannte Tautologie-Ästhetik weiterhelfen, derzufolge gar nicht Arten von Musik, sondern immer und überall nur gute und schlechte Musik zur Beurteilung anstünde, weil jede Art von Musik in ihrer Art so gut sei wie jede andere Art in gleichfalls ihrer Art – eine Art von Ästhetik, die im Namen einer scheinbar totalen Toleranz lediglich deren Unverbindlichkeit und Beliebigkeit in den Rang einer normlosen Norm erhebt. Der musikalische Geschmack auf der absoluten Schwundstufe seiner selbst, weil auf der des absoluten Selbstes von Musik; alles subjektiv, und dies objektiv.

Die erhoffte Synthese von demokratisch egalitärer Toleranzästhetik einerseits und darwinistischem Auslesekampf aller Musik-Arten über deren sich spezialisierende Märkte andererseits kann nur zu deren ausweglosem Gegenteil führen: zu einem vollkommen heterogenen und gespaltenen Musikurteil und Musikgeschmack, dem jeglicher Anspruch auf Objektivität abhanden gekommen ist. Und kein Ausweg der scheinbar letzte: stets dieselben Weltmeisterkategorien und –worte stets verschiedeneren Arten und Stücken von Musik anzuheften. Die völlige Aushöhlung aller Begriffe und Sprache über Musik ist schon seit langem unausweichliche Feuilletonpraxis geworden.

 

D.

 

Der tiefere Grund der Aporie: ein irrationales Verhalten der ästhetischen Moderne sich selbst gegenüber. Einerseits muß sie ihren Unterschied gegen die Vormoderne radikal im errungenen Namen totaler Freiheit und Autonomie der Kunst und Musik behaupten, andererseits diesen Unterschied zugleich dementieren, weil sie meint und hofft, die (schein)paradiesischen Relationen von Kunst und Musik der vormodernen Gesellschaften könnten auch in den modernen kraft invarianter Konstanten im Verhältnis von Musik und Gesellschaft, von Mensch und Musik möglich und wirklich sein. Wer aber zugleich modern und vormodern sein möchte, erhebt sich in ein Zeitlos-Sein, dessen schlechte Metaphysik nach Belieben für scheinbar zeitlose Bedürfnisse verpredigbar ist.

Die dritte These lautet daher in einer ihrer letzten Formulierungen: allein in Kulturen und Gesellschaften, in welchen zwischen den Ausführenden der Musik – Komponisten, Musiker, Publikum – und den Ausführenden der Spitze von Gesellschaft – ein vollkommener Ausgleich wenigstens als anstrebensfähiges Ideal besteht, besteht jene nicht nur scheinparadiesische Relation von Kunstsprache und Gesellschaftssprache – ein vollkommener Ausgleich und Kreislauf des Bedürfens und Befriedens, des Repräsentierens und des Repräsentierten, des Wollens und des Könnens von Musik und Gesellschaft.

Wo die höchsten und tiefsten Bedürfnisse der gesellschaftlichen Eliten wenigstens repräsentativ mit den höchsten und tiefsten Ausdrucksweisen von Musik nicht nur äußerlich – über Marktbedürfnisse und –kämpfe – zusammenhängen, da läßt sich sagen: die Sprachen beider sind eine einzige. Und allein auf Grundlage dieser erfüllten Relation vermag Musik als zugleich universale Sprache ganz nur musikalisch zu und vom Menschen reden, nur hier stellt sich der affirmative Schein objektiver Pathos-Stile ein – und mehr als bloß Symbole und Zeichen einer ästhetischen Versöhnbarkeit der Endlichkeit von Mensch und Gesellschaft.

Voraussetzung ist eine Art von Freiheit des Menschen und seiner Gesellschaft, die durch Musik in einer sprachlichen Anamnese an die Sprachen von Religion, Politik und Weltwissen ausgesprochen werden kann. Die Zeiten solcher Freiheit sind lange vorbei, aber die Früchte ihrer Ausdruckswelten und -entwicklungen – die Authentizität des sich verschwinden schaffenden Ideals von Musik als universaler Kunst – verbleiben unvergeßbar, freilich nur mehr für die Ausführenden der Spitze von Musik und Kunst selbst.

Die moderne Illusion, die infantilen Früchte vom banalen Baum der Unterhaltungsmusik könnten dieselben wie jene sein, ist nur modern, nicht „zeitlos.“ Mozart hat sich und die Seinen durch Musik nicht unterhalten, wie wir uns durch Unterhaltungsmusik unterhalten.

Im Unterschied zur Moderne treten die je neuen Musikwerke der Vormoderne sogleich in einen selbstveranstalteten Konkurrenzkampf unter ihresgleichen, weil zugleich in einen Konkurrenzkampf mit den Vorlieben und Nachlieben des je aktuellen Musikgeschmackes. Die Werke sind die Konzentrate dessen, was das Kollektiv wünscht; das Genie schafft nicht nur im Namen der Eliten, das unbewußt mitschaffende Kollektiv ist die Stimme, die sich im Gehör des Genies erhört.

Das generelle Wollen der Elite ist mit dem generellen Wollen der Musik unmittelbar vermittelt, durch den in gemeinsamer Sprache ausgedrückten Geist. Ähnliches läßt sich in der Gegenwart nur mehr und zugleich vielmehr vom Film behaupten, obgleich auch dieser der modernen Märkte, ihrer Zirkulationen und oft extrem kunstfremden Bedingungen und Mittel bedarf, um leben und überleben zu können.

Die Musiksprache der vormodernen Kunstdialekte offenbart restlos erfüllte Formen und restlos sich aussprechende und erschöpfende Sprachen; Ansprachen, die durch ihren Inhalt beginnen und durch ihren Inhalt aufhören; und deren Spitzenwerke sind die Superlative von Meistern ihrer Zunft und Epoche, die das superlative Konzentrat einer inhaltlich spezialisierten Gattung und eines formal spezialisierten Stils erreichen. Superlative, die objektiv erfahrbar und erkennbar sind, wenn auch oft erst durch die Nachgeborenen, noch nicht durch die Ausführenden selbst.

Und die verborgenen Hierarchien der Konzentratbildungen bedürfen, um heute und morgen erfahrbar und erkennbar zu werden oder zu bleiben, eines sondierenden Geschmacks, der zugleich historisch und absolut verfahren muß. Dieser ist folglich absolut auf sich selbst gestellt, weil zwischen ihm und der Sache weder eine Gesellschaft, deren Eliten für Musik gesellschaftlich für immer verschollen sind, noch ein Markt, dessen darwinistische Zufälle und Absurditäten der Sache äußerlich bleiben, vermittelt. Der Geschmack setzt nur mehr sich selbst als Musik voraus: seine vollendete Vollendungsgeschichte.

Die Hierarchien der Unterhaltungs- und der modernen Kunstmusik müssen andere sein, weil Musik unter den Bedingungen radikaler Moderne, die nicht mehr durch eine andere zu überbieten ist, sowohl zuviel wie zuwenig ausdrückt: Alle Genres der Unterhaltungsmusik und des Jazz machen zu leicht und zu glücklich, und alle Nichtgenres der modernen Kunstmusik zu schwer und zu unglücklich. Und bei habitueller Ver-Kultung beider Musik-Arten entspricht der Betäubung durch Vielfraß die Blähung durch Sonderfraß.