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24 Schrödingers Katze

I.

 

Wenn moderne Physiker, die mittlerweile als führende Philosophen der modernen Welt anerkannt sind, mitteilen, daß die „Quantenmechanik nicht die ganze Wahrheit“ sei, weil sie früher oder später durch eine „umfassendere Theorie“ ersetzt werden wird, ist das Unbehagen der physikalischen Philosophen an ihrer neuen Rolle als Ersatzphilosophen mit Händen zu greifen.

Und da ihnen unbedarfte Journalisten zuhauf aus der Wortspenden reichenden Hand „fressen“, fallen die einschlägigen Berichte über den neuesten Stand der neuesten Weltphilosophie stets nach bewährtem Muster aus. Es ist immer Revolution, wenn man nur genau wüßte, welche man bewundern soll, mit welcher man mithalten soll.

Auf ein name- und eventdropping, das den Leser übereinstimmungswillig machen soll, folgen lamentierende Ergüsse über die Sehnsucht der Physiker nach einer umfassenden Theorie, die alle ihre Zweifel endgültig beseitigen wird. Beispielsweise Schrödingers unvermeidliche Katze: sie promoviert unaufhörlich als „bis heute diskutiertes Gedankenexperiment.“

Hatte sie doch das Glück oder Unglück, in der Als-Ob-Welt der reinen Quantenwelt bis heute überleben zu dürfen. Wir sind nicht in der Abteilung Märchen für Erwachsene, wir sind auf dem heiß umkämpften Diskursfeld der neuesten Welttheorien neuester Physiko-Philosophien.

In diesen sind „Gedankenexperimente“ möglich, die mit der vorhandenen Welt so umspringen, wie eine Katze mit ihrem Stoffball umspringt. Hatte Kant noch angenommen, daß alle Experimente der modernen Naturwissenschaften auf vernunftgegründeten Begriffen basieren müßten, hat die moderne Physik-Philosophie diese lästige Bürde längst abgeworfen.

Folglich sind nun Katzen möglich, die weder tot noch lebendig sind, sondern ein Drittes, das nur in der Welt vernunftbegabter Wesen für unmöglich gehalten wird. Schrödingers Katze ist ein zur Katze aufgeblähtes Elektron, und da sich Elektronen zweifelsfrei quantenmechanisch verhalten, muß sich auch Schrödingers Katze daran halten. Sie gilt unter modernen Physik-Philosophen als wissenschaftlich zertifiziertes Basiselement aller physikalischen Theoriebildung.

 

II.

 

Nun sind aber Physiker gefällig bereit zuzugeben, daß Katzen im Zustand einer quantenmechanischen Elektronenüberlagerung („Superposition“ klingt respektgebietender) bisher noch nicht beobachtet wurden. Die real existierenden Katzen sind somit vor- oder metaelektronische Langweiler, die uns zwingen wollen, nicht an das Weltbild der Quantentheorie zu glauben. Dies führt den Physiko-Philosophen in einen schweren Gewissenskonflikt: Wen oder was soll er „ernster“ nehmen: die Quantentheorie oder die Katze, mag diese noch so schwarz durch die Dunkelheit seiner Gedankenexperimente laufen?

Da im entgrenzten Land der physiko-philosophischen Gedankenexperimente keine Kühnheit kühn genug ist, fällt die Wahl nicht schwer: Wer „die Quantentheorie wirklich ernst nimmt,“ wird uns mitgeteilt, der wird zugeben, daß auch Katzen in quantenmechanischen Schrödinger-Zuständen möglich sein müssen. Was Schrödinger im Vollrausch gedacht haben könnte, hat als unverzichtbare Obsession vollnüchterner Wissenschaft Karriere gemacht.

Was noch nie beobachtet wurde, erklärt uns ein obligater Nobelpreisträger treuherzig, das könne nichtsdestoweniger „im Prinzip“ möglich sein. Wenn, ja wenn, möchte man ergänzen, das Wünschen mehr wäre als der Vater bloßer Wunschgedanken. Wenn die Quantentheorie wirklich das wäre, wofür sie sich in gewissen Stunden hält, dann allerdings müßten Elektronenkatzen eines Tages auf den Radarschirmen unbemannter Beobachtungsflugzeuge auftauchen. Oder auch nur in den Labors der Physik: als „laboratory cousins“ von „Schroedinger’s Cat.“

 

III.

 

Wofür hält sich die Quantentheorie in gewissen Stunden? Für das, was sie eine „vollständige Beschreibung der physikalischen Welt“ nennt? Die fröhliche Bejahung dieser Frage hat zwar noch keinen Journalisten belustigt, aber nachfragen lohnt nicht, weil alle Beteiligten wissen, daß sie lediglich an einem Spiel freier Hypothesen teilnehmen. Auch der bejahende Experte einer vollständig beschreibenden Quantentheorie wird sich im nächsten Absatz eines öffentlichkeitsfähigen Interviews als freier Hypothesen-Künstler outen. Er wird zugeben, daß vielleicht nicht einmal die Hälfte der scientific community den Kraftglauben aufbringt, die Quantentheorie als „vollständige Beschreibung der physikalischen Welt“ ernst zu nehmen.

Aber wo steht geschrieben, daß Wissenschaft immer nur durch ernstzunehmende Hypothesen Karriere machen soll? Fragte man Literaten, ob sie ihren Werken zutrauen, so etwas wie eine „vollständig beschriebene Welt“ zu liefern, würden sie diese Anmaßung zurückweisen, schon weil die damit geforderte Sisyphos-Arbeit jeglichen Spaß beim Schreiben vernichten würde. Quantentheoretiker aber erzittern und erröten nicht, wenn sie die vollmundige Formel von der durch Quantenmechanik „vollständig beschriebenen Welt“ verkünden.

In der unendlich leicht erträglichen Leichtigkeit ihres Weltbildes ist jedes Bonmot willkommen, um von Nobelpreisträgern auf den Putz gehauen zu werden. Aber nicht der Nobelpreisträger ist das Problem, sondern das Auge, in dem er nicht in des Kaisers neuesten Kleidern erblickt wird.

 

IV.

 

Man möge doch so hypothesehöflich sein, für einen Moment anzunehmen, daß die Quantenmechanik tatsächlich eine vollständige Beschreibung der physikalischen Welt sei. Ein kurzes Ja genügt durchaus, um als spielberechtigter Mitspieler beim Promi-Gedankenspiel mitspielen zu dürfen. Was folgt aus diesem Ja? Eine „konservative Lösung“, wird uns mitgeteilt, die sogenannte „Kopenhagener Interpretation der Quantenmechanik“. Beim Namen „Kopenhagen“ erschauert der mitspielende Amateur, weil er die übermenschlichen Autoritätsnamen Bohr und Heisenberg zu fürchten beginnt, deren Werke er weder gelesen hat noch verstanden hätte, wenn er sie gelesen hätte.

Vielleicht versucht er in diesem Moment nochmals die letzten Reste denkender Vernunft zusammenzukratzen, um durch eigenen Verstand die Formel von der „vollständigen Beschreibung der physikalischen Welt“ zu verstehen: Es könnten quantenmechanische Gesetze gemeint sein, die alle physikalische Welt im Innersten zusammenhalten.

Der Quantenmechaniker als aktualisierte Gestalt des Ewigen Dr. Faust, das wäre wie ein gelebter Roman, den man sich auch noch als verständlich lesbaren Zauberroman zu Gemüte führen könnte. Und es würde Schrödingers Katze zureichend erklären: als Teil der physikalischen Welt teilt sie deren Schicksal, den geheimnisvollen Gesetzen unberechenbarer Elektronenfluktuationen gemäß zu leben und zugleich nicht zu leben.

Doch folgt die kalte Dusche unmittelbar: Wer mit Kopenhagen A gesagt hat, der muß mit Kopenhagen auch B sagen: „Die Formeln der Quantenmechanik sind keine Beschreibung der Welt, sie sind nur Regeln, um etwas zu berechnen.“ Was eben noch romantisch und schön anmutete, zerstiebt zu grauer Theorie, die Quantentheorie sei nicht Roman, sie sei ein Rechenschema.

 

V.

 

Dies kann dem fortgeschrittenen Quantentheoretiker, der sich unterwegs zur neuen Weltbeschreibungsformel wähnt, nicht sympathisch sein: Die konservative müsse durch eine revolutionäre Interpretation der Quantenmechanik ersetzt werden. Die konservative war so skandalös konservativ, daß sie sich nicht scheute, zwischen Quantenwelt und Alltagswelt zu unterscheiden, weil zwischen beiden irgendeine dubiose Grenze existieren soll.

Nur dadurch konnte sie sich erklären, daß nirgendwo, nicht einmal in den fortgeschrittensten Quantenlabors auch nur die geringste Spur lebendigtoter Katzen erschienen ist. Aber die konservative Deutung, so die revolutionäre, lebe von ihrer Ignoranz, die neue revolutionäre Quantentheorie zu ignorieren, die von solcher Grenze nichts wisse und sage, weder ein Wort noch eine Formel. Wem soll man nun glauben, wen soll man „ernst“ nehmen? Unsere Kopenhagener oder unsere Quantenmechaniker?

Letztere sind freimütig genug zuzugestehen, daß sie an den Grenzen der Alltagswelt wenig interessiert seien, da sie zuerst und zuletzt nur an den heimtückisch fluktuierenden Grenzen in den Messungswelten ihrer quantenmechanischen Labors interessiert sind. Von Alltagswelt-Grenzen keine Spur in den Abgründen des sich fortwährend verstellenden Teilchenzoos.

Und den restvernünftigen Einwand, daß der Forscher „selbst“ auch in seinen Labors nicht als Alltagsmensch verflüchtigt werde, weil (noch) keines existiert, in dem er sich in einen Schrödinger-Katzen-Mensch auflöst, würde er gewiß als spaßverderbenden Witz degoutieren. Wer seinen Gedankenexperimenten nicht zu folgen vermag, ist nicht würdig, seinen Gedankenrevolutionen nachzufolgen.

 

VI.

 

Zwischenfazit: der Quantentheoretiker denkt und redet nicht mehr über die Welt und hält dennoch seine Laborwelt für Grund und Ursache aller Welt. Ist es gelungen, in den quantenmechanischen Labors alle Widersprüche aller Welten auszuschließen, läßt sich in Ruhe und Frieden über die verbliebenen der eigenen Meßwelten brüten. Und zugleich darf die unbestimmte Bestimmtheit oder bestimmte Unbestimmtheit der stets flüchtigen Atomteilchen – der Gedankengenerator von Schrödingers Katze – als Quelle von Freiheit und Grund aller Gründe, als das Innerste aller Welt(en) behauptet werden.

Diese Schizophrenie beklagt er zugleich, weiß aber nicht, wer ihm wie aus der selbstverschuldeten Klemme seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit helfen könnte. Ein Zustand, der an die Freiheit der modernen Kunst erinnert: Deren Fragen sind ihre Fragen; und die Fragen der Welt sind andere Fragen.

Laboriert unsere Ratlosigkeit daran, daß an unseren Schulen immer noch „klassische Physik“ gelehrt wird, die stets wieder zu konservativen Kopenhagener Interpretationen der Welt verführt? Sollte man schon in den Grundschulen die neue Physik lehren, um das neue visionäre Weltbild der Quantentheorie durchzusetzen? Gewohnheit tut viel in den Dingen des menschlichen Dafürhaltens, sogar der Kommunismus wurde und wird als natürliches Weltbild empfunden und praktiziert.

Oder handelt es sich lediglich um eine depressive Veranlagung von Quantenforschern, die nach jahrzehntelangen Experimenten und Berechnungen zu vermuten beginnen, daß ihre Formeln mit der realen Welt und Natur kaum mehr als ein quantenmechanisches Nichts zu tun haben? Ein depressiv machender Befund, weil eine Wissenschaft der Natur, die nur um der Wissenschaft willen, nicht um der Einsicht in die Natur willen betrieben wird, den neuzeitlichen Erkenntnis-Auftrag der nachmittelalterlichen Naturwissenschaften gekündigt hätte?

 

VII.

 

Aber hat man uns nicht „Quantencomputer“ versprochen? Und zwar nicht als leibhaftige Wiedergänger von Schrödingers Katze, sondern als wirkliche Alltagscomputer? Oder war das nur ein „Forschungsgag“, um die reichlich zufließenden „Forschungsgelder“ nicht zum Versiegen zu bringen? Geld ist zwar vorerst auch nur „Alltagswelt“, doch ohne dessen Fluktuationen läßt sich das Lied vom neuen quantenmechanischen Weltbild nicht singen.

Und wenn die Quantenmechanik doch die ganze Wahrheit wäre, weil sie in ihrer Welt die ganze wäre? Hat nicht schon Sir Popper mit seiner Viele-Welten-Theorie den aktuellen der modernen Physik vorgearbeitet? Gibt es viele Welten, wäre die der Quantentheorie eine unter mehreren und vielleicht endlos vielen, weil sich ständig vermehrenden – und in diesem Fall müßten wir deren Hypothesen nicht nur ernst, wir müßten sie sogar todernst nehmen. Denn „demnach befinden sich Katzen tatsächlich in einer Überlagerung zwischen tot und lebendig.“ (Physiknobelpreisträger Anthony Leggett in Interview mit „ORF-Science“ vom 18. 3. 2011)

Wer kann ausschließen, daß wir in einer Welt leben, die „aus einer ungeheuer großen Zahl von Parallelwelten, die alle gleich real sind“ besteht? Und daß wir uns zufälliger Weise in unserer Welt eines Multiversums befinden, könnte eine Erklärung dafür sein, daß wir immer nur lebenden, niemals toten Katzen, die zugleich (weiter)leben, begegnen. Irgendwo müssen sie ja sein, die von den Formeln der Quantenmechanik vollständig beschriebenen toten Katzen.

Ist jede Hypothese wissenschaftsfähig geworden, läßt sich keine mehr ausschließen – innovative Quantentheoretiker können konservativen Kopenhagenern immer neue Fehdehandschuhe vor die Füße werfen.

 

VIII.

 

Auch die neueste Variante der Quantenmechanik, die Dekohärenztheorie, erlaubt sich die luxuriöse Annahme, daß „die Quantentheorie die Welt vollständig beschreibt.“

Folglich muß der beklagenswerte Zustand, daß sich tote Katzen in unserer Welt aus dem Überlagerungszustand ihrer „Superposition“ verabschieden, quantenmechanisch erklärbare Gründe haben. Oder alltagsweltlich gesprochen: das fatale Geheimnis, daß tote Katzen aus dem lebendigen Leben zu verschwinden pflegen, dieser Skandal unserer Parallelwelt muß nicht länger hingenommen werden. Schrödinger hat richtig experimentiert und wahrhaft gedacht.

Denn zufolge den Einsichten der neuen Theorievariante ist für das empirische Faktum, daß sich tote Katzen in unserer Welt von ihrem Überlagerungszustand verabschiedet haben, also nicht tot und lebendig zugleich existieren können, „eine Wechselwirkung zwischen Quantenobjekten und ihrer Umwelt verantwortlich.“

Was wir immer schon vermuteten: daß zwischen der Elektronen- und der Katzendimension „ganz andere physikalische Gesetze“ im Spiel sind, dies wird nun als Meinung einer Minderheit unter Physikern deklariert, die „sehr ernst zu nehmen“ sei, wie uns der revolutionäre Nobelpreisträger treuherzig verkündet.

Wer nun meint, die Quantenphysik sei gesonnen, in die Physiken der Alltagswelt alltagsweltlicher Katzen zurückzukehren, um deren Realität zu begreifen, hätte fehlgemeint. Denn nicht die „Physik“ von Anorganik und Organik realer Welten und Katzen ist gemeint, sondern „eine ganz andere Theorie“ werde die Quantentheorie ablösen, also wiederum eine, die uns das Ganze aller Welt und aller Katzen erklären wird.

Sie werde in frühestens 50, spätestens aber in 200 Jahren auf Erden eintreffen, woraus sich schon für heute erschließen läßt, daß die moderne Physik mit den liberalen Wahrscheinlichkeiten liberaler Prognostik umzugehen gelernt hat. Was rechtfertigt diesen Drittmittel fördernden Vermutungsoptimismus? Eine Trendanalyse heutiger Quantentheorie, die sich längst schon in vielversprechende Richtungen erweitert habe. Noch dazu in solche, die, wie die Ghirardi-Rimini-Weber-Pearle-Theorie, auch noch mit den experimentellen Möglichkeiten von heute überprüfbar sind.

Damit wird endlich zugänglich, was Schrödingers Katzengeheimnis eigentlich sein und zugleich entschlüsseln könnte: ihr Zusammenhang mit dem kosmischen Hintergrundrauschen. Schrödingers Katzen bleiben verborgen, weil sie in ihrer verborgenen Schrödinger-Welt nur mehr rauschen statt ordnungemäß zu miauen?