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17 Über die Entelechie der Musik

A.

 

Die Melodie der tonalen Kunstmusik, noch am Beginn des 20. Jahrhunderts in den Großformen großer Gattungen und Arten redend, sprach in vollendeter Artikulation und unübertreffbarer Geisterfülltheit, – die Unterhaltungsmelodie der vermeintlich identisch bleibenden Tonalität des 20. und 21. Jahrhunderts spricht hingegen körperlich und stammelnd, und an den Geist der wahrhaft sprechenden Musik erinnert nur mehr die hypnotisierende Formel des Ohrwurms. In traditioneller Kunstmusik wurde durch die entelechiale Verbindung unterschiedener Tonhöhen zu Motiven und Themen, Harmonien und Kontrapunkten auch deren metrisch-rhythmische Gestaltung durch die innere Entelechie organisiert und als quasi-natürliches Ferment integriert.

In jeglicher U- und Jazz-Musik geschieht das Gegenteil; der Geist der Entelechie ist erloschen und deren Inneres okkupiert der Rhythmus, dessen Geist ein Inneres entäußert, das Tanzen und aus dem Bauch Denken möchte; – und der Geist des Menschen, mit dem Hohlgeist Ohrwurm und der Maschine Rhythmus abgespeist, verhungert am überreichlich mit endloser Nummernmusik gedeckten Tisch. Das Schrumpfformat der dreiminütigen Musiknummer wird dem Hit und Song nicht von außen angetan, es ist sein ausgehöhlter und fragmentierter Geist selbst, der entelechial weder reden kann noch soll.

Das neue Zentrum der Melodie, ein dem Geist beseelter Melodie fremdes, ist daher ohne Geheimnis- und Versöhnungskraft. Gleichwohl kann die mechanisch arbeitende Emotionsmotorik des metrisch-rhythmischen Komplexes, etwa durch die rhythmischen Strategien des Jazz, komplexiert oder durch die Magien des Ohrwurms verschleiert werden, nicht aber kann die entleerte Zentralität überwunden werden, schon weil sie gar nicht überwunden werden soll. Und nur scheinbar kann man sich bei und mit Mozarts „Melodie“ auch „unterhalten“.

Anders als die entelechiale Melodie der universalen Kunststile und ihrer (Meister)Werke muß daher die Originalität des Ohrwurms, Schwund- und Schrumpfstufe der wahrhaft sprechenden Melodie, nach bewussten (reflektierten) Selektionsprinzipien gesucht und gefunden werden. Der Praktiker strategischer Reizintervall-Tüftelei ist die Schwundstufe des Originalgenies tonaler Musiksprache, der begüterte Herr des Musikalisch-Schönen verdingt sich im Ausgedinge als Reiz-Spekulant.

Dadurch wurde ermöglicht, was musikgeschichtlich nach dem Tod der erfüllten Tonalität notwendig wurde: eine sich Musik nennende Dauerunterhaltungs-Klangwelt, in der das einst für unsterblich gehaltene Wesen von Musik einen langsamen Tod stirbt, der zur montierbaren Kürze der einzelnen, nach Millionen zählenden Musiknummern in einem umgekehrten Proportionsverhältnis stehen dürfte. Und das bleibende Ende ist nahe: um in der langen Nacht und nicht mehr platonischen Höhle des DJ ausharren zu können, muß sich Musik auf das Totenbett strecken, muß als austauschbare Nummernmusik gesampelt und gescracht werden, um in ihrer Verdröhnung verschwinden zu können.

 

B.

 

Man sollte meinen, der gravierende Unterschied zweier Grundweisen von Melodie – die eine aus der noch erfüllten Kraftmonade der Tonalität gezeugt, die andere durch deren Erlöschung schier endlos fabrizierbar – müßte doch an der penibel aufgezeichneten Schrift der Musik, am musikwissenschaftlich fetischisierten Notenbild der Sache Musik eindeutig ablesbar sein; unsere ästhetischen Urteile über „E und U“ müssten am Abbilddokument der Musik faktisch hieb- und stichfest argumentierbar sein.

Dieser Nachweis wäre realisierbar, wenn jede Melodie das Exemplar und das Exempel eines Begriffes von Melodie wäre, in dem die Axiome der Melodie(bildung) universalgesetzlich und metageschichtlich festgeschrieben und als Prämissen für alle unsere Urteile und Schlüsse über die Qualität von Musik und Melodie vorausgesetzt werden könnten. Man könnte unmittelbar – auch in Anschauung des Notenbildes der abgebildeten Melodie – erkennen, ob das Exemplar ein Exempel des universalen Regelsystems ist oder nicht. Und selbstverständlich hätte auch der Komponist der entelechial erfüllten Melodie unter dieser Voraussetzung als Meister angewandter Musiklogik komponiert: in more geometrico gesucht und gefunden, konstruiert und vollendet.

In den Begriffsmomenten, die der Begriff des Kreises enthält, sind alle Eigenschaften enthalten, an deren Realisierung wir unmittelbar einen Kreis als Kreis, dessen Verfehlungen als Verzeichnung, dessen Verwandte und Bekannte – Bogen, Ellipse und Vielecke undsofort – nicht nur unmittelbar erkennen, sondern auch eindeutig definieren können, daß und wie sich jeder Kreis von Ellipse und Vieleck undsofort unterscheidet. Wir subsumieren wie Schlafwandler, die nächtens und mit geschlossenen Augen über einen schmalen Balken balancieren, ohne auch nur einen Tritt zu verfehlen.

Noch bevor wir uns auf das Terrain der Geometriker begeben, um mit deren Flächenprojektionen unzählbare Arten von „gekrümmten Kreisen“ zu konstruieren, können wir von „Arten des Kreises“ plaudern, indem wir den Unterschied seiner Quantität als artenbildendes Kriterium einführen und unterscheiden: sehr große (Galaxieumfang)von großen (Sonnensystemumfang), mittelgroße (Erdumfang) von ziemlichgroßen (Stadionumfang), handtellergroße von zentimetergroßen Kreisen.

Sollten sich die Arten der Melodiebildung aller Musik in ähnlicher Weise unterscheiden? Wäre demnach zwischen den Arten aller Melodie- qua Musikbildung ein nur unwesentlicher Unterschied? Warum dann überhaupt Arten und Artenbildung? Aber vielleicht sind diese ohnehin eine Fiktion, lediglich herbeigeplaudert, um uns substantielle Unterschiede oder gar, horribile dictu, essentielle Hierarchien vorzugaukeln, die zu allem Übel auch noch die leidige Wertfrage aufwirbeln?

Stimmte die Kreisanalogie, wären wir von allen Wertfragen verschont, eine Popmelodie wäre desselben Wertes wie eine klassische, eine gregorianische desselben Wertes wie eine barocke, die des Jazz desselben Wertes wie eine dodekaphone und serielle, denn was immer diese Arten auch voneinander trennen mag, es wäre letztlich gleichgültig, denn entscheidend ist einzig dies: Melodie ist Melodie, Musik ist Musik, und nicht (viele) Arten von Musik existieren, sondern nur zwei Arten allein: gute und schlechte Musik und Melodie.

In der Welt des Kreises ist die sogenannten Wertfrage als Inhaltsfrage irrelevant, – ein großer ist so viel wert wie ein kleiner, der größte soviel wie der kleinste, weil der Wert der Übereinstimmung von Realität und Begriff (des Kreises) unabhängig von der Größe des Kreises geschieht oder nicht. Ein Verstoß gegen diese Übereinstimmung muß daher als qualitativer, etwa als Irregularität und Beule, als Ellipse oder sonstwie als Antikreis oder „wertloser Kreis“ erscheinen. Ist aber der materielle Inhalt des Kreises als Wert gemeint, hängt dieser nicht vom Kreis, sondern vom Wert und der Nützlichkeit der Materie ab, den der Kreis umschließt: ein Gummireifenrad rollt besser als ein Eisenrad. Der Wert des Inhaltes hängt nicht von der Kreisform ab, obwohl diese für nicht wenige Dinge dieser Welt unersetzlich ist. (Einkreisen lässt sich alles und nichts.)

 

C.

 

Zwei Thesen stehen somit im Raum des Denkens über Musik: 1.) es gibt tatsächlich anerkennungsfähige Wertunterschiede von Musik- qua Melodiearten, und die Totalität der Musikgeschichte ist der gigantische Prozeß, alle überhaupt möglichen Wertunterschiede zu realisieren. – Dazu lautet die Gegenthese: es gibt keine Arten, und es ist unsinnig, von einer Erschöpfung der Melodiebildung, etwa der (dur-moll-)tonalen, zu reden, denn gerade deren Unerschöpflichkeit werde durch die nimmer endende Melodieproduktion unserer Musikkultur bewiesen. – 2.) Die Wertunterschiede der Artunterschiede von Musik ließen sich nicht am sogenannten Notentext demonstrieren und beweisen. – Dazu lautet die Gegenthese: Sehr wohl ließe sich dieses Demonstrieren und Beweisen bewerkstelligen, wenn nur unsere Methoden, Notentexte richtig zu lesen und wahrhaftig zu erkennen, genügend verfeinert wären.

Nun kann nicht geleugnet werden, daß gerade am „Text“ jeder Melodie deren Parameterinhalt als einzelner Fall einer allgemeinen Struktur, als Anwendung einer Regel, als Rückgriff auf ein vorgegebenes und vorstrukturiertes Material-Arsenal nachgewiesen werden kann. Für Lautstärke und Klangfarbe, für Harmonie/Melodie und Metrum/Rhythmus kann diese Subsumtion von jedem vollzogen werden, der die einfachen Grundlagenkenntnisse der sogenannten Allgemeinen Musiklehre sein eigen nennt. Geradezu mit dem Finger kann gezeigt werden, daß in keiner Melodie ein Einzelnes möglich, das nur Einzelnes wäre.

Es kann – für Notenalphabeten – selbstevident demonstriert werden, daß in dieser Melodie ein Dreivierteltakt mit Halben und Vierteln, eine bestimmte Tonart mit hauseigenen und modulierenden Harmonien und eine bestimmte Auswahl an Tönen und Intervallen als Melos regiert. Aber dieser Forminhalt regiert unter einem höheren Regenten und dient daher dem der Motive und Themen, also der Melodie im sogenannten „engeren Sinne“, und für diesen Regenten, dem alles dient, was an Form und Material angewandt wird, nochmals am Notentext eine allgemeine Struktur, eine anzuwendende Regel, einen Rückgriff auf vorgegebene Material-Arsenale ausfindig zu machen, führt wohl zu den bekannten Strukturen von zwei- oder dreiteiligen Liedformen, Sonatensatz- und Rondoformen und ähnlichen sogenannten „äußeren“ Formen, niemals aber zur Beantwortung der Frage, was die genannten Parameterinhalte im Inneren der Motive, Themen und Melodien eigentlich zusammenhält. Ein Popsong kann dieselbe Dreiteiligkeit, Rhythmik und Harmonik präsentieren wie ein Lied der vormodernen Musikepochen, und es wird dennoch ein moderner Popsong sein und bleiben müssen.

 

D.

 

Im Gelände des höheren Regenten können wird zwar sagen, und sagen dies auch permanent mit den Floskelphrasen unserer modernen Wissenschaftssprache, daß in den Motiven, Themen und Melodien die Forminhalte der verschiedenen Parameter verbunden sind, daß sie deren wirklicher Inhalt sind, wie sich selbstevident nachweisen lässt, aber eben dieser eindeutige Nachweis lässt auch erkennen, was er ausgeblendet hat: den Kern der Sache, das innerste Prinzip, das wahre Gesetz, die formierende Hand, welche die Parameterinhalte zur wirklichen Melodie bildet.

Dieses innerste Wirken in Worten und Begriffen wiedergeben zu wollen, scheint eine überflüssige Tat, eine bloße Zutat zu sein, weil die Melodie nichts anderes ist als die Realität und Realisierung des Prinzips. Aber wer das Prinzip und Innerste ausblendet, kann über den Wertunterschied der Einheit der Parameter in den Motiven und Themen keine vernünftigen Aussagen tätigen, denn er hat das Entscheidende versäumt und verkannt. Er weiß wohl, worin die Melodie besteht, nicht aber, woraus sie besteht.

Weil die allgemeine Synthesis der Parameter, die schon die Setzung und Erkennbarkeit der individuellen Synthesis der Melodie ermöglicht, unbestimmt bleibt, wird schon die Möglichkeit einer Definition der Arten von Musikstilen, die sich durch die konkrete Spezifikation der allgemeinen Synthesis bestimmen, verunmöglicht. Diese Spezifikation einer allgemeinen zu einer individuellen Synthesis gilt auch noch für die moderne Pop- und Jazzmusik, aber sie galt wesentlich bestimmter und rigider für die vormoderne Musik, – für deren Stile und Sprachweisen in den vokalen und instrumentalen Gattungen.

Die moderne Auskunft, die vorauszusetzende Synthesis werde allein vom Komponisten, nach dessen Wollen und Belieben, Absichten und Zwecken gebildet, ist eine nur moderne Auskunft, die lediglich rekapituliert, was dem nominalistischen Verstand des modernen Melodiebildners noch verblieben ist: die Allmacht des Machens um den Preis einer Ohnmacht von Müssen und Können. Die Lehre des nominalistischen Verstandes vollendet jeder Komponist und Improvisator, der sich jenseits der Tonalität bewegt, aber auch jeder, der sich in rückschauender Wiederverwendung tonaler Sprachweisen und Materialen bedient: Cross Over und postmoderne Einfachheit als second hand shop der Musikgeschichte.

Die nominalistische Moderne verkennt, daß in jenem gigantischen Prozeß der Musikgeschichte nicht der Herr der Willkür, sondern der Herr der Sprachen von Musik das Sagen hatte. Wird dessen Beschränkung des in Musik Möglichem bezweifelt oder bestritten, dann allerdings brauchten wir nicht mehr zwischen der Melodie eines Schubert und der Melodie eines Udo Jürgens zu unterscheiden und nach Art- und Wertunterschieden zwischen beiden zu fahnden.

Denn beide haben dasselbe Material, dieselben Parameter, dieselbe Tonalität und unter Umständen sogar dieselbe Liedform. Wir könnten daher das beliebte Sophisma bemühen, daß jede Melodie in ihrer Art so gut wie jede andere in ihrer Art ist. Wer rettet die Musik vor der nichtigen Allmacht des nominalistischen Paradigmas? Deren Erinnerung an ihre Geschichte, in der das Gegenteil möglich war und wirklich wurde?

 

E.

 

Mendelssohns „Lieder ohne Worte“ vergleichen sich in unserem historisch-panoptischen Hören von Musik unwillkürlich und daher zunächst stets unbedacht mit den nächsten Verwandten: Chopins Préludes, Liszts Etuden, Schumanns und Schuberts Klavierwerk; – dann aber auch mit den ferner stehenden Verwandten der vormodernen Musikgeschichte: mit der Claviermusik von Bach, Händel, Scarlatti, Couperin und anderen. Von diesem Vergleich sind jene mit der Klavierliteratur von Webern, Schönberg, Stockhausen und unzähligen anderen modernen Komponisten zwar nicht ausgeschlossen, aber sie erfolgen über eine Grenze hinweg, die uns von einer nur mehr künstlich aufrecht erhaltenen Verwandtschaft zu reden zwingt.

Und selbstverständlich ist der postmoderne Komponist der wirklich befreite Virtuose des Aufrichtens weiterer und unendlich erweiterter „Verwandtschaften“. Warum wir jedoch Clayderman und Genossen, ebenso alle („hochkarätigen“) Jazzpianisten „vom Feinsten“, von diesem postmodernen Spiel ausnehmen, sollte bedacht werden: Wissenschaft der Musik zumindest hätte jedem Niedergang der (Klavier)Musik mit präzisem (Wert)Urteil nachzugehen.

Warum aber beispielsweise die Klavierstücke Chopins, Schuberts und Schumanns „ergreifender“ auf uns wirken als jene Mendelssohns, und ob dieses Komparativum überhaupt Anrecht auf Realität hat, führt auf Fragen über diese und jene Musik, die nur durch Antworten von jenseits des gewöhnlichen Horizontes unserer Urteile über Musik beantwortbar sind. Eine Summe dieser Antworten lautet: die interessanteren Geister der musikalischen Romantik des 19.Jahhrunderts sind „interessanter“ und „ergreifender“, weil sie wahrheitsgemäßer auf die nahende Grenze des Todes, nicht der Komponisten, die leben heute noch, sondern des Musikalisch-Schönen, auf das Ende von Sprache und Individuation des erfüllten Ideals reagieren.

 

F.

 

Mendelssohn hält dieses Nahen von sich fern, keineswegs absichtlich, denn es ist sein Naturell; aber nicht ist sein Naturell die Ursache der nahenden Grenze, sondern umgekehrt: deren Nahen ermöglicht im 19.Jahrhundert nochmals die (Schein)Lösung einer Einkehr in klassizistischen Versionen von „Romantik“, und wessen Naturell darauf „anspricht“, der übernimmt dessen Sprachmöglichkeit, Mendelssohn war nicht der einzige. Und daher sind auch Mendelssohns „Lieder ohne Worte, obwohl großartig und ohne Zweifel schön, von schwächerer Gnade, obwohl sie wesentlich „genialer“ sind als beispielsweise die Werke eines Saint-Saens, dessen Individuation des Ideals noch formeller ausgefallen ist. Was an Tiefe und Schmerz fehlt, kann durch die virtuose Gestaltung der Form nicht ersetzt werden.

Die psychologische Erklärung jedoch ist zweitrangig: Mendelssohn war Mendelssohn. Schon die unwiederholbare und somit einmalige musikhistorische Position eines ‚Mendelssohn’ sollte unserem musikverständigen Urteil über diese und jene Musik zu denken geben, der Prozeß des Ideals in seiner irreversiblen Geschichte ist nicht auf psychologische Determinanten zu reduzieren.

Nicht zufällig daher, daß wir – jeder der mit den Kunst-Intarsien des 19. Jahrhunderts nur flüchtig Vertraute – die Bilderwelt der deutschen Märchen-Romantik, die Idyllen von Ludwig Richter und Karl Friedrich Schinkel und vielleicht sogar noch die Kinderbücher der eigenen Kindheit assoziierend wieder erblicken, wenn wir Mendelssohns „Lieder ohne Worte“ zufällig oder absichtlich (von CD) wiederhören, da sie dem Repertoire des Konzertpodiums fern bleiben mussten.

nd Idyllen, sagen wir heute, und noch die Erhabenheiten, zu denen sie sich aufschwingen, werden durch gefällige Schönheit gemildert. Daran hat das im 19. Jahrhundert noch mögliche Ausdruckssegment „im Volkston“ Anteil, ein „Ton“, dessen Einfachheit bei Mendelssohn noch nicht der aufgesetzten Inszeniertheit von Wagners Meistersinger-Ton bedarf. Wovon die romantische Kunstmusik Abschied nehmen musste, das durfte und konnte sie noch einmal als Komparserie gleichsam auf die Bühne bringen. Die Operette wird deren letzten Abgesang gestalten, im Musical wird sie lächerlich werden.

 

G.

 

Indem die Avantgarde der musikalischen Romantik an die Grenze dessen geht, was die universale Individuation des Ideals nochmals ermöglicht, wird das Schönheits-Individual als endliches, als erschöpfbares entdeckt und auskomponiert. Was unendlich zu sein schien, was ein unendliches Band zwischen Ideal und Individuum zu sein schien, das offenbarte seinen Schein als nicht nur geschichtlich verursachten.

Es ist nicht die „böse Gesellschaft“, deren beginnende Moderne samt Industrialisierung und Prosaisierung, die das Ideal zum Rückzug zwingt. Der Musik und ihrer Entwicklung als Kunst liegt keine Natur zugrunde, kein metahistorisches Arsenal, kein metaphysisches Genialitätsprinzip, dem ohne Ende Arten und Werke von gleich bleibendem Schönheitswert entlockt werden könnten.

Dennoch bleibt die klassizistische Romantik eines Mendelssohn, bleibt die lyrische und gefällige Seele seiner Musik als eine Seite des Ideals, die einmal universal möglich war, im Gedächtnis der Musik bestehen. Daß sie einmal mit den Seelen der Eliten der bürgerlichen Gesellschaft übereinstimmte, als deren Wir-Ausdruck fungieren konnte, ist für uns von nur mehr historischem Belang.

Seine Musik „aus seiner Zeit heraus“ verstehen wollen, ist daher ein gefährliches Motto, dessen Widerspruch erkannt worden sein muß, will man der Scheinunendlichkeit von Musik als „ewiger Substanz“ der Geschichte nicht in die Falle gehen. Was nur „aus seiner Zeit heraus“ geboren wird, wie etwa die Mode einer Zeit, hat keinen Auftrag und keine Kraft, die eigene Zeit zu überdauern.

Im Vergleich der Mendelssohnschen Klaviermusik mit jener von Bach, Scarlatti, Couperin, Händel und den anderen Meistern des Barock wird der unaufhebbare und universale Unterschied des Ideals offenbar: um das Klassische als Vollendung der Geschichte des Ideals sich lagernd, waren die Arten des Barocken und des Romantischen als vorbereitendes und absingendes Sub-Ideal möglich und notwendig, obgleich und weil sie als „eigenständige“ Ideale können verstanden und gepflegt werden.

Auch sie wurden geschichtlich durch eine Übereinstimmung und innere Beauftragung von Musik und Kunst mit den und durch die gesellschaftlichen Eliten ihrer Zeit ermöglicht, und auch diese Übereinstimmung ist für uns irrelevant geworden. Und von dieser geschichtlichen Ermöglichung der Musik als Kunst ist deren absolute Ermöglichung durch das Ideal und dessen Geschichte konkret und korrekt zu unterscheiden.

Daß die barocke Musikschönheit von den beiden anderen absolut different, hören wir noch heute, obwohl sich das Repertoire von Konzert und Bühne nach Kräften bemühte und bemüht, die absoluten Unterschiede zu relativieren und zu nivellieren („die Musik der Meister“), indem es – wie wenn man Bilder der unterschiedlichsten Kunstepochen in einem einzigen Museumssaal präsentierte – eine Konzertkultur des historischen Panoramas und Panoptikums bis heute praktiziert, die alle Subideale und dazu noch die Modi des ideallosen Moderne-Ideals und womöglich auch noch die der Unterhaltungsmusiken und Jazzversionen an einem Konzertabend dem modernen Gemüte zu Ungemüte führt.

Ebenso trug zu dieser Einebnung die falsche Teleologie der modernen Musikideologie bei, derzufolge die moderne Kunstmusik das Telos der vormodernen Kunstmusik sei oder sein solle. Eine Teleologie und ein „Ideal“, das noch heute die öffentlichen Meinungsfelder des nachbürgerlichen Musiklebens besetzt hält.

 

H.

 

Das Problem ist vertrackt, um das Mindeste zu sagen. Denn einen absoluten Geschichtsverlauf als absoluten darzustellen, ist unmöglich, wenn man nicht weiß, daß er es ist. Im mehr als späten Rückblick tun wir uns leicht, sämtliche Stationen der griechischen Kulturgeschichte nicht nur geschichtlich-chronologisch zu verorten, sondern als Entwicklung ihrer realisierbaren Substanz an Geist und Freiheit zu verstehen und zu genießen.

Wir überschauen sub specie aeternitatis die Knotenlinie mit ihren Entwicklungs-Phasen und deren Schürzungen, die Bildung zentraler Knoten und Gipfelpunkte, die Vollendungen und Verflachungen, weil uns das Ende des Ganzen einsichtig wurde. Und auch der Verlust des unzählbar Verlorenen trug zur „Übersichtlichkeit“ nicht wenig bei.

Mendelssohn wollte, als er die „historische Musik“ für den bürgerlichen Konzertsaal entdeckte, diesen zu einer Art Tempel einer neuen Art von autonomer Musikreligion machen. Aber wie hätte er mit dem „Repertoire“ des Ideals und seinen Sub-Idealen verfahren sollen, – unter den Bedingungen seines eigenen geschichtlichen Ortes am Beginn des 19. Jahrhundert, als sich das künftige Schicksal der „romantischen Musik“ noch im Dunkel uneinsehbarer Zukunft verhüllte?

Welche Regel zur Kultbildung hätte er befolgen sollen im Angesicht des unübersehbaren Angebots gegenwärtiger und vergangener Musik? Wer hätte ihm einen Kanon einer auszuwählenden Hierarchie an Werken oder Stilen oder beidem bieten können? Wer den Kult einer Musikreligion organisieren können, die sogleich als multihistorische auf der Bühne der Musikgeschichte erschien?

Bis heute werden die allermeisten Programme von Konzerten mit Kunstmusik entweder „erwürfelt“ oder nach äußerlichen Leitfaden zusammengestellt. Hätte sich dies verhindern lassen, wenn man über die historische Logik des Logos der Musik Einsicht gehabt und dieser Einsicht auch noch zu öffentlichem Durchbruch verholfen hätte?

Wunders nicht, daß das panoptische und panoptikale Paradigma obsiegte, indes das entgegengesetzte, das uns zwingt, an einem Abend nur einem der vielen Messiasse der Musik-Geschichte zuzuhören, die Ausnahme blieb. Und dennoch hätte die Ausnahme-Variante eher dem Vernunftsinn der Musik-Geschichte zugearbeitet als die Panorama-Variante, die im 20. Jahrhundert unausweichlich dem Unterhaltungssinn zum Opfer fallen musste, der sich schlussendlich auch in der Konzertrezeption der Musik-Geschichte durchgesetzt hat.

 

I.

 

Die Genese der Entelechie des Ideals aus seiner religiöser Vorgeschichte und seinen Vorformen der Musik im Übergang vom Mittelalter zur Renaissance, ohne die das Entstehen einer autonomen Kunstmusik mit autonomer Musikschönheit weder Sinn noch Berechtigung gehabt hätte, ist eine geschichtliche Genese, deren Geltung und Lenkung eine metageschichtliche Prinzipiierung und Vorsehung. Das Ideal sollte, konnte und musste einmal in der Menschheitsgeschichte sein. Aufgabe einer wirklichen Wissenschaft der Musik daher: an der Genese deren Geltungsprinzipien sowohl historisch wie metahistorisch zu entschlüsseln.

Die Eroberung eines kunstfähigen Materials setzt kunstfähige Inhalte voraus, für die kunstfähige Formen erobert werden müssen. Ohne Inhalte keine Formen; ohne Formen keine Inhalte, ohne Material keine Formen, ohne Formen kein Material. Die Durchgestaltung der Momente des Ideals erfolgt unter vormodernen Ermöglichungsgründen als vollkommener Ausgleich aller Faktoren des Inhaltes, der Form und des Materials. Zwischen ihnen regieren daher durch Gesetz und Regel fundierte Mittel-Zweck-Relationen, die nur durch ihren Selbstverbrauch in die nächste Vollkommenheitsgestalt überführt werden können.

Der Prozeß des Ideals ist irreversibel, und er führt allerdings in moderne Ermöglichungsgründe, die völlig freie Mittel-Zweck-Relationen zwischen den Faktoren ermöglichen und realisieren. Das übersinnliche Substrat von geltenden Gesetzen und Regeln für Gattungen, Stille und Werke hat sich geopfert, um vollständig freie Kunst und Künstler hervorzubringen.

Der Tod der Entelechie ist die Bedingung der Möglichkeit wirklicher Freiheit in und durch Kunst. Dennoch bleibt die Trauer um diesen Tod ein Thema auch der modernen Kunstexistenz, gerade die Populare Musikgestalt („Pop“), seit dem 20. Jahrhundert historisch dominant und unhintergehbar, gibt dieser Trauer unwissend und unreflektiert Ausdruck: durch Gesetze und Regeln, die nochmals „Gattungen, Stile und Werke“ ermöglichen: auf säkularem und postentelechialem Niveau. Wissenden und reflektierten und daher mehr als melancholischen Ausdruck dieser Trauer gibt die nicht mehr tonale, nicht mehr oder nur mehr von außen auf die Entelechie-Geschichte des Ideals bezogene Neue Musik.

Der Kollaps vernunftgemäß organisierter Mehrstimmigkeit war sowohl conditio sine qua non wie zugleich Resultat von Neuer Musik, deren formale Ur-Setzung, oder wie Schönberg artikulierte: jede Beziehung zwischen Klängen, die ein Komponist setzt, ist eine wirklich musikalische Beziehung. Und Cage, nicht Webern, zog die vollständige Konsequenz dieses Paradigmenwechsels. Aber die popmusikalische Konsequenz gehört dazu, sie ist die andere Seite derselben geteilten Medaille.

In den Untiefen des 19. Jahrhunderts vom Schlager eröffnet und vom globalen Erfolg der Popmusik vollstreckt: Mimikry an die Entelechie sichert den „musikalischen Welterfolgen“ deren Garantie, einen Massengeschmack artikuliert zu haben, der sich musikalisch objektivieren konnte und sollte. „La Paloma“ (und ähnliche) steigen zu „Welthits“ auf, deren Präsenz (in unzähligen Adaptionen und Bearbeitungen) als „Weltmusik“ nicht möglich wäre, wäre nicht weltweit Übereinstimmung darüber, von „schöner Musik“ überwältigt worden zu sein.

 

J.

 

Für diesen Welt-Geschmack ist die popmusikalische Mimikry selbstverständlich keine Mimikry, sondern eine originäre Weiterentwicklung und Überbietung der vormodernen Universal-Entelechien dar. Ähnlich wie der Geist Neuer Musik meint, erst in seiner vollständig befreiten Art von Musik sei die Geschichte der vier Groß-Arten der Entelechie: Renaissance, Barock, Klassik und Romantik, weiterentwickelt und überboten worden. Ein Doppelglaube, der seine Widerlegung als Glaube präsentiert, – im Posthistoire der Musik bedarf das Basis-Schisma des Musikgeschmackes keines Glaubenskrieges mehr, der Gegensatz von moderni und antiqui ist verschwunden. Jeder darf glauben, was er glauben will und kann.

Wer glaubt, der Inhalt der Passion Christi könne in der Form eines Musicals und dessen Material und Sprache ausgedrückt werden, der findet am Gegenglauben, derselbe Inhalt könne auch in der Form eines modernen Oratoriums mit experimenteller Klangsprache ausgedrückt werden, keinen Widerspruch, sondern nur eine andere Version der vollendeten Freiheit von Musik als Kunst. Dieser Glaube wird von der modernen Prämisse getragen, daß jeder Inhalt, und sei es die Passion Christi, zu jeder Zeit in eine von Komponisten zu wählende Musik-Form gesetzt werden könne, woraus dann folgt, daß Bachs Matthäus-Passion eine unter vielen sei, eine vormoderne und unfreie Individualisierung der Art.

In der Tat ist dies die befreite Freiheit des modernen Komponisten: zu jedem Inhalt jede Form, zu jeder Form jedes Material wählen und verwirklichen zu können. Dies aber (auch nur) als Möglichkeit für den Komponisten Johann Sebastian Bach zu unterstellen, ist unvernünftig. – Für den modernen Unterhaltungsgeschmack ist Bachs „Air“ ein fast schon gelungener Versuch, einen Welthit auf die Beine zu stellen; für Anton Webern galt hingegen, daß der zweite Satz seiner Klaviervariationen eine moderne Überbietung von Bachs „Air“ sei. Der Irrtum des modernen Denkens liegt in der Annahme, die Inhalte, die in Musik eingehen könnten, seien gleichsam stationär, „immer dieselben“, obwohl doch klar sein sollte, daß die Inhalte sich verändern mit dem Gang des Geistes durch seine Geschichte.

Nur scheinbar kann daher ein Inhalt, etwa jener der Passion Christi, zu jeder Zeit in die Form eines Oratoriums (das wie eine metahistorische Art fungieren könnte) gesetzt werden, – in Wahrheit kann er nur unter den vormodernen Ermöglichungsbedingungen vollendeter Entelechiebildung zu einer wirklich sinnerfüllten Form finden, – in der die vollkommene Einheit zwischen den Faktoren der Entelechie: Inhalt, Form, Material – als vollkommen geistiger Ausdruck dieser Einheit erscheint.

Da niemals der ganze Geist – einer Gesellschaft, einer Epoche, einer Religion, einer Handlung, eines Menschen – in die Form der Musik als deren Inhalt eingehen kann, kann nur jener Teil eingehen, der eingehen kann. Diese scheinbare Tautologie anerkennt, daß Musik nur ein Teil dieser Welt, nicht die ganze sein kann, bekanntlich nicht einmal die ganze Kunst und auch nicht die „eigentliche Kunst.“ Der Inhalt der Passion Christi kann ‚eingehen’, wenn ihr Wort präsent bleibt, weil ohne dieses keine Klänge dieser Welt mit der Botschaft des Inhaltes sinnvoll zu verbinden wären.

 

K.

 

Im Inneren der Entelechie von Musik – der vokalen wie der instrumentalen – stellt sich daher ein Reigen von Gretchenfragen wie folgt. Wie übersetzt sich der Inhalt, der an ihm selbst zunächst außermusikalisch existiert, durch die Ergreifung eines Komponisten in einen musikalischen Inhalt, der durch eine ihm entsprechende Form musikalisch soll ausgedrückt werden? Der Inhalt, zunächst der Musik noch äußerlich, aber in der Ergreifung zugleich noch ganz innerlich, soll durch die Form wieder äußerlich werden, anders kann Musik nicht als Entäußerung von Inhalt sich realisieren. Aber die Form ist nichts ohne Materie; wie also übersetzt sich der Formakt, der den Inhaltsakt ergriffen hat, in ein Material, das der Form zu entsprechen hat, wenn es als dessen Form, als des Materials eigene Form, soll möglich sein? Die Form ist also wiederum zunächst innerlich, in der Inhaltsergreifung, um zugleich als Selbstmaterialisation des Inhaltes äußerlich werden zu müssen.

Der Übersetzung des ersten Inhaltes in den zweiten entspricht die Übersetzung der ersten Form in die zweite; daher ist auch das Material ein inneres und ein äußeres, jenes, wenn es die mit Inhalt erfüllte Form materialisiert, dieses, wenn es selbständig und verselbständigbar der ersten Materialität gegenüberzutreten scheint. Ein notwendiger Schein von Selbständigkeit, aus dem im Übergang vom vormodernen zu modernen Ideal ein Sein wird: denn im modern freigesetzten Ideal sind alle Faktoren: Form, Inhalt und Material vollständig für sich verselbständigbar, die können nach freiem Belieben und Nichtbelieben ineinander scheinen. Nur unter dieser modernen Verselbständigung sind auch wirklich freie – gesetz- und regellose – Mittel-Zweck-Relationen zwischen und in den Faktoren möglich: jeder Komponist kann und soll für jedes neue Werk jeweils neue realisieren.

Die Entelechie entäußert sich ihrer Innerlichkeit einmal durch deren primäre oder originäre Geschichte; ist diese historisch vollbracht, kann im Resultat des musikgeschichtlichen Posthistoire eine sekundäre Geschichte beginnen als einerseits freie Verfügung über alle Momente der fragmentierten Entelechie: Neue Musik, – und als andererseits reduktive Mimikry an die vollendet entäußerte Entelechie. Wie in der Musikwelt der Fragmentierung der Schein einer neuerlichen primären Entäußerungsgeschichte entsteht, wenn die primäre Geschichte real oder tendenziell vergessen wird, entsteht in der Musikwelt der Mimikry der Schein einer gleichfalls eigenständig originären Entäußerungsgeschichte: der Unterschied von Entelechie und Mimikry und auch der von Kitsch und Nichtkitsch wird unwahrnehmbar. Dort innoviert sich die Innovation, hier recovert sich der Hit.

Es ist oft bemerkt worden, daß in Bachs Musiksprache Motiv und Thema mit dem Material und dessen geistigem Inhalt in einer Weise identisch sind, daß man geradezu sagen könnte, die Tonalität sei noch Motiv und Thema. Die innere Form des Materials entspricht noch der inneren Form des Inhaltes, die Faktoren koinzidieren in einer vollkommen sprechenden Sprache von Tönen, der Inhalt entspricht der Form, der Geist dem Klang, die Rede ihren Motiven und Themen, eine vollkommen von innen heraus sprechende Musiksprache.

Das Beethovensche Motiv und Thema teilt diese Vollkommenheit durchaus, aber zugleich will es darüber noch hinaus, setzt somit die Tonalität zum Mittel höherer Zwecke herab, und kommt an dieser Hochgemutheit zu Fall, weil das Material, die Tonalität, zum beliebig setzbaren und fragmentierbaren Mittel herabsinkt. Der späte Beethoven vollzieht die Zeugungsstunde der Neuen wie der Unterhaltungsmusik, – des nicht mehr tonalen wie des nur mehr kitschig tonalen Motivs und Themas.

April 2008