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29 Postmoderne Hermeneutik und moderne Kultur

I. Postmoderne Beliebigkeit und moderne Multiperspektivität
Unter den Vorzeichen postmoderner Beliebigkeit hat sich der modernen Kultur
im 20. Jahrhundert eine Art von „Hermeneutik“ und Interpretationsmentalität
bemächtigt, die sich als multiperspektivisches Verstehen und Deuten versteht
und deutet.

Während in der traditionellen Hermeneutik besonders des Rechts und der
Theologie, paradigmatisch der biblischen Hermeneutik, die Sinnaussagen der zu
interpretierenden Texte unter der Vorgabe eines begrenzten, manchmal vier-
oder fünffachen Schriftsinnes gedeutet wurden, scheinen moderne und
postmoderne Multiperspektivik die Palette der Deutungsmöglichkeiten
unendlich erweitert zu haben.

Ist es aber legitim, postmoderne Beliebigkeit und moderne Multiperspektivik
gleichzusetzen und noch dazu der modernen Kultur insgesamt als leitendes
Prinzip, als antinormative Norm zu unterstellen?

Immerhin kennen wir nicht nur eine Moderne der Kunst und ihrer
unbeschränkten Interpretation, sondern auch eine der Politik und Gesellschaft,
weiters moderne Wissenschaft und Technik, und nicht zuletzt die ungeheuren
Areale moderner Real- und Finanzwirtschaft, – und alle diese Aspekte moderner
Gesamtkultur immer zugleich unter lokalen bzw. nationalen sowie unter
internationalen und globalen Aspekten.

Ohne Zweifel wäre die Behauptung, in allen diesen Sektoren der modernen Welt
(die überdies noch als Erste, Zweite und Dritte Welt genau zu unterscheiden
wäre) regierten oder dominierten normfreie Multiperspektivik und Beliebigkeit
als Leitprinzipien, nichts weiter als antimodernes Ressentiment. Vermutlich
geäußert entweder aus postmoderner Willkür-Ranküne oder aus Antipathie
eines vormodernen, vielleicht monarchistischen oder klerikal-kirchlichen
Denkens, – in der islamischen Welt unter analogen Wunschprojektionen einer
verklärten Vergangenheit.

Daß „Moderne“ bzw. Postmoderne“ oft und überwiegend im Kontext von Kunst
und Künsten reproduziert und diskutiert wird, könnte daran liegen, daß der
postmoderne Umschlag moderner Kunst spätestens in den 80er-Jahren des 20.
Jahrhunderts am leichtesten und eingängigsten popularisierbar war.

Doch könnte man auch der These huldigen, Multiperspektivität und Beliebigkeit
resultierten bereits aus dem soeben angedeuteten Faktum einer Welt vieler und
sehr unterschiedlicher „Modernen.“ Die schier infinitesimale
„Ausdifferenzierung“ der modernen Kultur der Ersten Welt zu wuchernden
Sonderkulturen und Sonderprofessionen spezialisierter Fach- und
Unterhaltungswelten sei schon per se eine Pluralwelt von Welten, nicht mehr
eine Welt, nicht mehr eine Moderne unter einem Prinzip von Modernität,
Entwicklung und Fortschritt.

Einerseits als Vielfalt gerühmt und gefeiert, andererseits als Unübersichtlichkeit
beklagt und betrauert, folgen diese „Welten“ keiner verbindlichen Normmitte
mehr, deren vormalige, archaische Existenz optimistisch-nostalgisch unterstellt
wird, – von einer Spätmoderne, deren Freiheit sich radikal individualisiert: Eine
„kreative“ Freiheit, der nur noch Recht und Sitten zur Rechten sowie Geld und
Märkte zur Linken beiseite stehen, – „wenn überhaupt.“

II. Kulturzerfall und postmoderne Alltagshermeneutik
Und unter diesen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen, die mehr als nur
(viele) Rahmen sind, können und müssen schon zentrale Worte und Werte (nicht
zuletzt „Kultur“) in jedem Bereich der modernen Wirklichkeit(en) differente und
gegensätzliche Bedeutungen annehmen. Auch Wort und Begriff von
„Hermeneutik“ sind davon nicht ausgenommen, – in Heideggers Philosophie
beispielsweise entfernt sich der Sinn von Hermeneutik vielleicht am weitesten
von allen vormodernen und bisherigen Definitionen. Verstehen als Welt- und
Selbstverstehen wird in den Rang eines primären Existentials des Menschen
erhoben, als gesuchtes und angeblich gefundenes Merkmal seines modernen
Daseins vorgeführt.

Offensichtlich wurde es schwierig und schwer, unter pluralistischen Grund- und
Rahmenbedingungen zu verstehen, was Mensch und Menschsein sein soll. Und
dieser Tatbestand wird von der „ästhetischen Postmoderne“ – erreichtes
Endstadium „ewiger“ Moderne bestätigt. – Diese ist so frei und befreit, Deutern
und Verstehern, aber auch Produzenten und Vermittlern keinerlei autoritative
Fesseln normierender Art mehr aufzuerlegen. Gewiß zum Vorteil der Freiheit,
kaum zum Vorteil der Verbindlichkeit und Notwendigkeit von Produzieren und
Interpretieren innerhalb der „ästhetischen“ Kultur der modernen westlichen
Welt.1

Resultiert nun aus dieser Gemengelage so etwas wie eine postmoderne
Alltagshermeneutik, scheint dies für die Moralität der Gesellschaft erhebliche
Folgen haben zu müssen. Denn da Verstehen und Selbstverstehen im Leben
aller Menschen nicht ein rein kontemplatives oder ästhetische, nicht ein nur
„wissenschaftliches und philosophisches“ Verstehen und Selbstverstehen sein
kann, sondern mehrheitlich zu Entscheidungen für sinnvolle und anerkennbare
Handlungen und Lebensvollzüge führen soll und muß, kann deren Freiheit
gerade nicht den Manen oder Molochen grenzenloser Erweiterung und
beliebiger Multiperspektivität folgen.

Zwar möchte sich das moderne Ich, angeblich nicht mehr Herr im eigenen Haus,
weil bereits vielfach durch wissenschaftliche Entdeckungen „gekränkt“, von
keinem anderen Ich vorschreiben lassen, wie es sich und seine Welt(en) zu
verstehen habe. Aber dasselbe Ich, das sich verbittet, sein Verstehen durch
andere Iche vorverstehen, sein Handeln durch andere Iche vorgemacht zu
bekommen, sucht nicht erst bei jedem zweiten Anlaß die Welt der Experten und
Berater auf, um im Feld der unübersehbaren Sach- und Lebensfragen Bescheid
und Orientierung zu erhalten.

1 Versuche, im modernen Marktbetrieb der vorfilmischen Künste (Architektur, Skulptur, Malerei,
Musik und Dichtung) eine „Zweite Moderne“ auszurufen, die der „Heroischen“ oder gar
„Klassischen“ Moderne gefolgt sei (ab 2000?) oder zu folgen habe, sind sporadisch
wiederkehrend. Ein verzweifelter Versuch, im nicht mehr rückgängig zu machenden Freiheits-
Gelände künstlerisch praktizierter Multiperspektivik abermals festen Grund und Boden zu
gewinnen. Normfreiheit als (neue) Norm auszurufen, ist Teil des Problems einer Moderne, nicht
deren Lösung. Paradox wäre daher zu formulieren: nur Postmoderne ist die Lösung des
unlösbaren Problems, totale Innovation und Freiheit als ewig erneuerbare erhalten zu wollen.
Beliebigkeit und „Erweiterung“ des Kunstbegriffs konvergieren, ebenso der Begriff von Kultur,
wenn er als „Inbegriff“ aller modernen Teil-Kulturen erörtert wird. Oder anders: jeder der beiden
Begriffe (Kunst und Kultur) wird ein Anführungszeichen-Begriff, sein Sinn und Dasein ist von
seinem Als-Ob-Sinn und –Dasein nicht mehr zu unterscheiden. Begriffe ohne Grenzen sind das
vergiftete Eldorado der (post)modernen Kultur.

Daher bleibt die postmoderne Alltagshermeneutik in der Regel auf die Diskurse
von „Kunst und Kultur“ beschränkt, auf die Spielfelder der Geistes- und
Kulturwissenschaften sowie deren journalistische Zubereitung. Auf diesen
Feldern der modernen (Gesamt)Kultur wird dem (De)Konstruktivismus – als
gleichsam „vollendeter Hermeneutik“ – kräftig gehuldigt. Was im Alltag
moderner Menschen als Multioptionsfalle gefürchtet wird, das läßt sich in
Interpretationen und Kommentaren, in „Texten“ und „Kunstwerken“ als
Selbstverwirklichung grenzenloser Freiheit vergöttern. Mit nicht geringen
Konsequenzen für die Fragen von Moralität und Wahrheit in der modernen
(Gesamt)Kultur.

III. Normfreies Deuten postmoderner Hermeneutik
Ist alles Erkennen der Realität nichts weiter als ein grenzenlos liberales und
stets verwandelbares Verstehen und Deuten der Realität, erhebt sich die Frage,
ob wirkliches Erkennen wirklicher Realität überhaupt noch möglich und
erstrebenswert sei. Erkennen als normfreies Deuten ist das Problem, das sich
für dessen hermeneutische Lösung hält. Der Preis für diese Lösung ist hoch,
sehr hoch, übermenschlich oder eher untermenschlich hoch.

Denn ohne Zweifel muß der universale Hermeneut voraussetzen, daß immer
nur eine (anders) gedeutete, niemals einer wirklich erkennbare Realität als Welt
und Wirklichkeit zugänglich sei. Ob unsere Deutungen der Welt auch eine
wirkliche Erkenntnis der Welt sind, – wie vermöchte der modern-postmoderne
Hermeneut diese Frage zu beantworten? Schon der Versuch einer Antwort
würde ihn als Hermeneuten desavouieren und destruieren.2

Ist aber Erkenntnis von Welt jenseits des Deutens von Welt unmöglich, ist auch
Welt ohne Deutung nicht zugänglich. Und ist jede Deutung möglich, ist keine
unmöglich. Der Hermeneut als Weltherrscher und Welterzeuger: eine scheinbar
humanisierte Variante des Willens zur Macht wird erkennbar.

2 Keine Erkenntnis ohne Deutung; aber nicht jede Deutung ist schon wirkliche Erkenntnis. Gäbe
es immer nur vorläufige, niemals endgültige Erkenntnis, wäre der Name Erkenntnis diesen nicht
wert. Irgendwann könnten wir doch noch in ein mythisches Weltbild zurückkehren.

Ist aber Welt ohne Deutung nicht möglich und wirklich, ist Vieldeutigkeit der
Welt notwendige Konsequenz. Eine selbsterzeugte Konsequenz, die als
Voraussetzung gelten soll. Eine totale und totalitäre Konsequenz einer
scheinbar vollkommen toleranten Erkenntnis- und Weltlehre. Denn was könnte
toleranter sein als das Prinzip: jede Deutung von Welt sei als gedeutete Welt
möglich und wirklich?3

Gilt die These der Deutbarkeit der Welt als Prinzip von Erkenntnis und Welt, ist
Vieldeutigkeit der Welt und damit der Zerfall der Welt in viele Welten bereits
mitgesetzt. Denn welche Perspektive welcher Deutung könnte vor anderen
Perspektiven anderer Deutungen einen Vorrang oder Nachrang haben?
Vielfältiges Verstehen und vieldeutige Welt als transzendentales Prinzip
menschlichen Weltverhaltens sind weder so harmlos, wie die harmlosen ihrer
Vertreter wähnen, noch so begründungs- und normfähig wie die ideologischen
ihrer Vertreter glauben.

Denn ist mit der Vieldeutigkeit des Deutens die Vieldeutigkeit der Welt
ausgemacht und vorgegeben, ist die Eindeutigkeit von Realität und Welt nicht
mehr zu retten. Welche Norm oder Instanz könnte die Deutungsspiele der
Deuter hindern, gar verbieten oder reglementieren?

Ist kein Teil, kein Ding dessen, was zur Welt gehört, nochmals eindeutig zu
erkennen, ist guter Rat teuer. Zwar mögen die Namen von Welt und Weltdingen
noch eindeutig erscheinen wie „Sonne“ und „Mond“, wie „Sirius“ und
„Milchstraße“, wie „Dreieck“ und „Kreis“, wie „Dürer“ und „Picasso“, wie „Bach“
und „Chopin“, wie „Mensch“ und „Tier“, „Geist und Gehirn“ – ungewiß und damit
deutungsbedürftig wird, wie die „hermeneutisch durchschaute Welt der Namen
von Erkennen und Welt zu deuten wäre. Denn von den naiven Perspektiven der
vorhermeneutischen Weltansichten hat der modern-postmoderne Hermeneut
für immer Abschied genommen. Er wäre sonst nicht, was er durch kluge Einsicht
geworden ist.

Für ihn ist die namentliche Eindeutigkeit vorgeblich identischer Sachen und
Sachverhalte nur die Vorgabe, nur der Startplatz, nur der Anfang und Anstoß,
nur der Auftakt der zu deutenden Sache, die erst nach dem Durchlauf durch die
diesmalige Deutungsstrecke als vieldeutige und vielnamige Sache
durchschaubar wird. Und der letzte Takt der diesmaligen Melodie beendet nur

3 Ist zu jeder Deutung eine Gegendeutung möglich, werden beide als wahre Deutung behauptet.
Doch kann die Sonne nicht zugleich ein Stern und ein Gott sein.

die diesmalige Melodie, denn viele und unendlichmalige Deutungsmelodien
sind gefordert und möglich.

IV. Kultur und Ironie. Zwei oder drei Reichshälften?
Daß der Standpunkt radikaler postmoderner Hermeneutik lediglich in der
geistes- bzw.- kulturwissenschaftliche Reichshälfte der modernen Welt Stimme
und Ansehen genießt, wurde bereits angedeutet. Sogar Theorien, die den Status
unbewiesener Hypothesen noch nicht abgeworfen haben, genießen in der Welt
der Naturwissenschaften einen höheren Rang als den von („kulturellen“)
Deutungen und Wertungen, die jederzeit durch Um- und Neudeutungen
umgestoßen werden können. Dies erklärt sich aus simplem Grund: Das
Kriterium der empirischen Verifizierbarkeit bzw. Falsifizierbarkeit, durch das
naturwissenschaftliche Theorien approbiert oder guillotiniert werden, scheint
allen geistes- bzw.- kulturwissenschaftlichen Methoden, also auch allen
philosophischen, zu fehlen. (Hitlers Drittes Reich könnte eines Tages als gutes
Reich, der ontologische Satz, das Sein ist, könnte eines Tages als falscher
gedeutet werden.)

Denn die Hermeneutik versteht sich als radikalisierte Erbin aller Philosophie, hat
folglich deren vormodernen Kriterien als naive dogmatische Annahmen
vermeintlich unumdeutbarer Wahrheitsaussagen weit hinter sich gelassen.
Zwar dürfte die dialektische Untrennbarkeit von Vieldeutigkeit und Eindeutigkeit
auch jedem denkenden Hermeneuten eindeutig auszudeuten sein. Doch wird
der Hermeneut mit Recht an diesem allgemeinen Begriff von Bedeutung den
Makel allzu allgemeiner Unbestimmtheit kritisieren. Doch wichtiger als diese
philosophieinterne Diskussion um das Wesen und Treiben von vieldeutiger
Eindeutigkeit ist folgender Tatbestand moderner Kultur.

Zwischen der geistes- bzw. kulturwissenschaftlichen und der
naturwissenschaftlichen Reichshälfte liegt eine dritte Reichshälfte, eine
Anomalie von Zählung und Ganzheit (drei Teile als zwei Hälften), deren Ironie
das Wesen modernen Kultur bestimmt. Denn die dritte Hälfte pflegt von den
beiden anderen in aller Regel als dritte („fremde“) Hälfte, somit als Unkultur
behauptet, bewertet und erlebt zu werden. Die Suppen, die in und durch Politik,
Ökonomie und Recht gekocht werden, seien jedenfalls andere, als jene, die in
den Naturwissenschaften einerseits, in den Geistes- und Kulturwissenschaften
andererseits gekocht werden.4

An das Recht hängt sich bekanntlich, gleichfalls mit dialektischer
Untrennbarkeit, die Sphäre des Moralischen und Ethischen, wobei der
letztgenannte Ausdruck den verblichenen und unverständlich gewordenen
Ausdruck „Sittlichkeit“ abgelöst zu haben scheint. Hermeneutische
Vieldeutigkeit in der Sphäre des Moralischen und Ethischen ist unter der
Prärogative des modernen Multikulturalismus bekanntlich nicht nur möglich,
sondern überaus wirklich und beliebt. Fremde Sitten, fremde Menschen, also
einander fremde Kulturen und Moralen; und zwar nicht wenige: Kein Mangel an
Vieldeutigkeit, ganz im Gegenteil, ein Paradies an Vieldeutigkeit dessen, was
Menschen auf dieser Erde für gut und schlecht, für moralisch und unmoralisch
halten. Die Hermeneutik scheint auf fahrende Züge aufzuspringen, indem sie
den gegenwärtigen Kosmos moralischer Vielheit rühmt und begießt.

Aber auch in ihrer eigenen Sphäre – der Methode und Methodologie der
Hermeneutik – ist der Quell der Vieldeutigkeit wirksam. Denn zwei Grundarten
der Hermeneutik müssen diesem Quell unausweichlich entspringen. Einmal eine
(vormoderne) Hermeneutik, die das Verstehen und Deuten deutbarer
Weltgegenstände (immer noch) teleologisch auf das Ziel ausrichtet, das
identische Wesen des zu erkennenden Etwas im Rahmen beschränkter
Deutungsmöglichkeiten wirklich zu erkennen. Diese sich selbst erreichende und
erfüllende Hermeneutik wird als eindeutig erkennende Hermeneutik
selbstverständlich auf Kriterien der Beweisbarkeit ihrer Ergebnisse angewiesen
sein.

Zum anderen eine (moderne) Hermeneutik, die in der genauen Gegenrichtung
Kurs auf ein vieldeutiges Deuten und Erkennen der Weltgegenstände nimmt,
weil das Ziel der sich selbst (in wahre Erkenntnis) aufhebenden Hermeneutik
Illusion und irrende Annahme sei. Schon die Annahme der Identität von
Gegenständen habe die Differenz der sich differenzierenden Gegenstände, ihr
unaufhaltsames und unbegrenzbares Anderswerden nicht begriffen.
Hermeneutik steht gegen Hermeneutik, – zwei Quellen oder eine, ein Ziel oder
keines – das ist hier die Frage.

4 Daher der postmoderne Satz: Kunst ist Kunst, Kultur ist Kultur, und alles andere ist alles
andere.

V. „Ästhetisches“ Denken und Kants Kritik der menschlichen Vernunft

Es war bekanntlich die postmoderne Vernunftkritik des französischen
Dekonstruktivismus, die der Hermeneutik vorwarf, an überholten Sinn- und
Identitätsvorstellungen festzuhalten. Die Hermeneutik sei somit nicht in
Richtung Erkenntnis des Identischen im Nichtidentischen, sondern in Richtung
einer Erkenntnis totaler Nichtidentität und Differenz aufzuheben. Alles ist nicht
„sein Anderes“, sondern ein fremdes Anderes, – der totalitäre Skeptizismus der
Antike in neuem, in modernem Gewand, – negativistische Vernunft samt ihren
Eitelkeiten und Absurditäten als Non-Plus-Ultra praktizierter („postmoderner“)
Freiheit.

Ist dieser Punkt erreicht, dürfen und müssen die althergebrachten Fragen
erneuert werden, weil vernunftfreies Denken nur als „ästhetisches“, nicht als
wissenschaftliches, nicht als moralisches, nicht als politisches, nicht als
ökonomisches, auch nicht als religiöses und schon gar nicht als philosophisches
Denken haltbar ist. Jenseits von wahr und falsch ist „gut“ und „sensationell“
plaudern, aber die Verfallszeit provozierender Novitäten und verbaler
Ohrwürmer ist kurz. Langeweile folgt der leeren Sensation wie der Schatten
seinem Ding.

Wer der Hermeneutik unterstellt, diese unterstelle, daß wir als Deutende der
Welt diese anders erkennten, als sie tatsächlich sei, dürfte den Ernst der Lage
noch unterschätzen. Denn eine „tatsächlich“ vorgegebene Welt, über die daher
Aussagen mit „verläßlichem“ Wahrheitsgehalt zu tätigen seien, ist gerade nicht
Sache und Voraussetzung moderner Hermeneutik. Sie scheint es insofern mit
Kant oder einem (antikantisch radikalisierten) Neukantianismus zu halten: Da
unsere Deutungen ohnehin nur Aussagen über Erscheinungen, niemals über
das Sein und Wesen der Sachen selbst seien, ist auch der Wahrheitsgehalt nur
einer von (stets) wechselnden Erscheinungen.

Wäre dies die Ansicht Kants gewesen, hätte er seine Kritik der menschlichen
Vernunft vergeblich geschrieben. Denn sein Anliegen, unter den Prämissen
transzendentaler Subjektivitäts-Vernunft dennoch objektive Erkenntnisse der
Welt und des Menschen für möglich und notwendig zu halten, wäre selbst nur
ein hermeneutischer Irrläufer gewesen.

Also ist Kant gerade nicht der Ansicht des modernen Hermeneuten, daß es
jenseits seiner wechselnden Perspektivstandpunkte keinen objektiven, keinen
neutralen Standpunkt gäbe, der fähig wäre, das aller Wahrnehmung und
Erkenntnis von Welt(en) vorausliegende Substrat namens Wirklichkeit zu
erreichen. Zwar begründet Kant seine transzendentale Lehre zunächst für die
modernen Naturwissenschaften, die im Gefolge ihrer neuzeitlichen Erfolge –
etwa durch Galilei, Kopernikus, Kepler, Newton und andere – genügend
stichhaltige Wahrheitsbeweise ihrer Erkenntnisse der Erscheinungswelt
aufgewiesen hatten. Doch sind auch Kants Begründungen einer Praktischen
Vernunft im Zeichen der Moralität und einer Urteilenden Vernunft im Zeichen des
Schönen und gewisser Naturzwecke gleichfalls nicht mit den Prämissen und
Konsequenzen der modernen und radikalisiert postmodernen Hermeneutik
vereinbar.

VI. Unvernunft und „science war“
Gegen die bisherigen Argumente könnte eingewandt werden, daß sich der
anfängliche Erfolg der „Postmoderne“ weniger hermeneutischen und
dekonstruktivistischen Faktoren, als vielmehr einem forschen Antimodernismus-
Eid verdankte. Daß die Mainstream-Tage der Postmoderne mittlerweile
abgelaufen sind, sollte dennoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß deren
problematische Grundaxiome und Resultate die notwendige Konsequenz der
pluralistischen Moderne sind, deren Entwicklung unumkehrbar geworden ist.
Und die Eigenart dieser Entwicklung, im Gegensatz zu aller vormodernen
Entwicklung, zu erkennen und auszusprechen, ist zum Schibboleth vernünftiger
Rede über Moderne und Postmoderne geworden.

Im Schwindel der rasanten Bewegung mußte es dem europäischen Denken
verlockend, ja unausweichlich erscheinen, Vernunft und Aufklärung über Bord
werfen und ohne Kurs auf Fortschritt vernünftiger Entwicklungen übers Meer
der Geschichte (weiter)fahren zu können. Noch dazu als es – um 1989 – schien,
das Ende der Geschichte sei ohnehin erreicht.

Damals war die Karriere des 1979 mit großer Zustimmung gestarteten
„Postmodernen Wissens“, das mit Jean-François Lyotards „Der Widerstreit“
(1989) eine letzte Grundlegung erhalten sollte, bereits am Verlöschen. Heute ist
das Wort „Postmoderne“ verbraucht und nur mehr von Zeitgeistdenkern und
Kulturjournalisten – mit schlechtem Gewissen – verwendet. Irgendetwas am
„postmodernen Wissen“ könnte noch brauchbar sein, wenn man erklären soll,
weshalb die Erscheinungen der modernen Kultur nicht selten widersprüchlich
und „vernunftfrei“ erscheinen.

Auch aus der Ecke derer, die man zunächst der Postmoderne zuzurechnen
pflegte, erfolgte Einspruch – etwa durch Michel Foucaults Weckruf von 1982 (in:
„Raum, Wissen und Macht“): Die Philosophie der Postmoderne laufe Gefahr,
„der Irrationalität zu verfallen“, wenn sie das Werk von Kant und Weber als
verfehlte Aufklärung diskreditiere. Gerade unter modernen Zuständen und
Entwicklungen sei unabdingbar, „möglichst nahe an der Frage nach der
Beschaffenheit und Genese der Vernunft zu bleiben, die wir benutzen.“ Nicht sei
„die Vernunft der Feind, den wir beseitigen müssten, “wer glaube, sie beseitigen
zu können, könne den „Irrationalitäten“ der politischen Massenmord-Ideologien
des Jahrhunderts nichts entgegenhalten.

Als zehn Jahre später – in den Neunzigern des 20. Jahrhunderts – im Zuge der
Sokal-Affäre ein „science war“ zwischen dem naturwissenschaftlichen und dem
kulturwissenschaftlichen Sektor der modernen Kultur ausbrach, wurde die
Auseinandersetzung auch wissenschaftlich konkret.

Eine postmoderne Zeitschrift, deren Redaktion, postmoderner Freiheit folgend,
ohne unabhängige Gutachter arbeitete, veröffentlichte einen Artikel eines
amerikanischen Physikers (Alan Sokal), der in postmoderner Sprache à la
Baudrillard nachwies, daß die Quantengravitation ein sprachliches und soziales
Konstrukt sei, woraus folge, daß Quantenphysik und postmoderne Philosophie
ungefähr aus denselben Gründen den naturwissenschaftlichen Realismus und
Objektivismus als bloßen Diskurs(aber)glauben entlarvten und bekämpften.
Doch schob Sokal diese Meinung nur vor, um das (de)konstruktivistische
Denken der kulturwissenschaftlichen Postmoderne zu blamieren. Das Gelingen
dieses Versuchs, so Sokal, habe einmal mehr die „mangelhaften intellektuellen
Standards und den Missbrauch mathematisch-naturwissenschaftlicher
Metaphern in der postmodernen geistes- und sozialwissenschaftlichen Szene
aufgezeigt.“ 5

Mit anderen Worten: Wer die Vernunft hat abdanken lassen, darf sich nicht
beklagen, wenn seine (Sonder)Rationalität von einer anderen
(Sonder)Rationalität verschaukelt wird. Hier steht eben nicht der Widerstreit
zweier Diskurse zur Debatte, sondern der ungelöste Widerspruch zweier Denk-
und Sprachwelten. Für den de(konstruierenden) Postmodernisten mag alles und
jedes als ein nach Belieben umdeutbares Konstrukt und Sprachspiel erscheinen,
– der moderne Naturwissenschaftler hingegen ist andere Sitten und Normen
gewohnt. Und diese kann er nur um den Preis einer Selbstaufgabe seiner
Profession verleugnen und verraten.

Die Philosophie eines radikalen Postmodernisten hingegen, folgt sie der
sophistischen Logik freispielender Sprachspiele, kann alles verraten: zu allem
zu- wie auch abraten. Das postmoderne Wissen ist so frei, über alles
vermeintlich tatsächliche oder vernünftige Wissen erhaben zu sein. Eine
Erhabenheit, die vor allem der modernen Kunst zugesprochen wurde und wird,
– nicht zufällig stand der Begriff des Erhabenen lange Zeit im Zentrum
postmoderner Begriffsbildung.

(Leo Dorner, Januar 2015)
5 The Sokal Hoax: The Sham That Shook the Academy. University of Nebraska Press 2000. Alan
Sokal, Jean Bricmont: Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften
mißbrauchen, München, 1999. – Ein Buch, das in den Schriften vieler postmoderner Autoren
zahlreiche „physiko-mathematische Mystifikationen“ nachweist.
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