Categories Menu

29 Postmoderne Hermeneutik und moderne Kultur

I. Postmoderne Beliebigkeit und moderne Multiperspektivität

 

Unter den Vorzeichen postmoderner Beliebigkeit hat sich der modernen Kultur im 20. Jahrhundert eine Art von „Hermeneutik“ und Interpretationsmentalität bemächtigt, deren Verstehen und Deuten sich als multiperspektivisches versteht und deutet.

Während in der traditionellen Hermeneutik besonders des Rechts und der Theologie, paradigmatisch der biblischen Hermeneutik, die Sinnaussagen der zu interpretierenden Texte unter der Vorgabe eines begrenzten, manchmal vier- oder fünffachen Schriftsinnes gedeutet wurden, scheinen moderne und postmoderne Multiperspektivik die Palette der Deutungsmöglichkeiten unendlich erweitert zu haben.

Ist es aber legitim, postmoderne Beliebigkeit und moderne Multiperspektivik gleichzusetzen und noch dazu der modernen Kultur insgesamt als leitendes Prinzip, als antinormative Norm zu unterstellen?

Immerhin kennen wir nicht nur eine Moderne der Kunst und ihrer unbeschränkten Interpretation, sondern auch eine der Politik und Gesellschaft, weiters moderne Wissenschaft und Technik, und nicht zuletzt die ungeheuren Areale moderner Real- und Finanzwirtschaft, – und alle diese Aspekte moderner Gesamtkultur immer zugleich unter lokalen bzw. nationalen sowie unter internationalen und globalen Aspekten.

Ohne Zweifel wäre die Behauptung, in allen diesen Sektoren der modernen Welt (die überdies noch als Erste, Zweite und Dritte Welt genau zu unterscheiden wären) regierten oder dominierten normfreie Multiperspektivik und Beliebigkeit als Leitprinzipien, nichts weiter als antimodernes Ressentiment. Vermutlich geäußert entweder aus postmoderner Willkür-Ranküne oder aus Antipathie eines vormodernen, vielleicht monarchistischen oder klerikal-kirchlichen Denkens, – in der islamischen Welt unter analogen Wunschprojektionen einer verklärten Vergangenheit.

Daß „Moderne“ bzw. Postmoderne“ oft und überwiegend im Kontext von Kunst und Künsten reproduziert und diskutiert wird, könnte daran liegen, daß der postmoderne Umschlag moderner Kunst spätestens in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts am leichtesten und eingängigsten popularisierbar war.

Doch könnte man auch der These huldigen, Multiperspektivität und Beliebigkeit resultierten bereits aus dem soeben angedeuteten Faktum einer Welt vieler und sehr unterschiedlicher „Modernen.“  Die schier infinitesimale „Ausdifferenzierung“ der modernen Kultur der Ersten Welt zu wuchernden Sonderkulturen und Sonderprofessionen spezialisierter Fach- und Unterhaltungswelten sei schon per se eine Pluralwelt von Welten, nicht mehr eine Welt, nicht mehr eine Moderne unter einem Prinzip von Modernität, Entwicklung und Fortschritt.

Einerseits als Vielfalt gerühmt und gefeiert, andererseits als Unübersichtlichkeit beklagt und betrauert, folgen diese „Welten“ keiner verbindlichen Normmitte mehr, deren vormalige, archaische Existenz vielleicht nur optimistisch-nostalgisch unterstellt wird, sondern eben allein ihrer (sich individualisierenden) Freiheit, der nur Recht und Sitten zur Rechten sowie Geld und Märkte zur Linken beiseite stehen, – „wenn überhaupt.“

 

II. Kulturzerfall und postmoderne Alltagshermeneutik

 

Und unter diesen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen, die mehr als nur (viele) Rahmen sind, können und müssen schon zentrale Worte und Werte (nicht zuletzt „Kultur“) in jedem Bereich der modernen Wirklichkeit(en) differente und oft gegensätzliche Bedeutungen annehmen. Auch Wort und Begriff von „Hermeneutik“ sind davon nicht ausgenommen, – in Heideggers Philosophie beispielsweise entfernt sich der Sinn von Hermeneutik vielleicht am weitesten von allen vormodernen und bisherigen Definitionen. Verstehen als Welt- und Selbstverstehen wird in den Rang eines primären Existentials des Menschen erhoben, als gesuchtes und angeblich gefundenes Merkmal seines modernen Daseins vorgeführt.

Offensichtlich wurde es schwierig und schwer, unter pluralistischen Grund- und Rahmenbedingungen zu verstehen, was Mensch und Menschsein sein soll.  Und dieser Tatbestand wird von der „ästhetischen Postmoderne“ – erreichtes Endstadium „ewiger“ Moderne nur bestätigt.  – Diese ist so frei und befreit, Deutern und Verstehern, aber auch Produzenten und Vermittlern keinerlei autoritative Fesseln normierender Art mehr aufzuerlegen. Gewiß zum Vorteil der Freiheit, kaum zum Vorteil der Verbindlichkeit und Notwendigkeit von Produzieren und Interpretieren in der „ästhetischen“ Kultur der modernen westlichen Welt.[1]

Resultiert nun aus dieser Gemengelage so etwas wie eine postmoderne Alltagshermeneutik, scheint dies für die Moralität der Gesellschaft erhebliche Folgen haben zu müssen. Denn da Verstehen und Selbstverstehen  im Leben aller Menschen nicht ein rein kontemplatives oder ästhetischen, nicht ein nur „wissenschaftliches und philosophisches“ Verstehen und Selbstverstehen sein kann, sondern mehrheitlich zu Entscheidungen für sinnvolle und anerkennbare Handlungen und Lebensvollzüge führen soll und muß, kann deren Freiheit gerade nicht den Manen oder Molochen grenzenloser Erweiterung und beliebiger Multiperspektivität folgen.

Zwar möchte sich das moderne Ich, angeblich nicht mehr Herr im eigenen Haus, weil bereits vielfach durch wissenschaftliche Entdeckungen „gekränkt“, von keinem anderen Ich vorschreiben lassen, wie es sich und seine Welt(en) zu verstehen habe.  Aber dasselbe Ich, das sich verbittet, sein Verstehen durch andere Iche vorverstehen, sein Handeln durch andere Iche vormachen zu lassen, sucht nicht erst bei jedem zweiten Anlaß die Welt der Experten und Berater auf, um im Feld der unübersehbaren Sach- und Lebensfragen Bescheid und Orientierung zu erhalten.

Daher bleibt die postmoderne Alltagshermeneutik in der Regel auf die Diskurse von „Kunst und Kultur“ beschränkt, auf die Spielfelder der Geistes- und Kulturwissenschaften sowie deren journalistische Zubereitung. Auf diesen Feldern der modernen (Gesamt)Kultur darf und muß dem (De)Konstruktivismus  – als gleichsam „vollendeter Hermeneutik“ – kräftig gehuldigt werden. Was im Alltag moderner Menschen als Multioptionsfalle gefürchtet wird, das läßt sich in Interpretationen und Kommentaren, in „Texten“ und „Kunstwerken“ als Selbstverwirklichung grenzenloser Freiheit vergöttern. Mit nicht geringen Konsequenzen für die Fragen von Moralität und Wahrheit – wiederum der modernen (Gesamt)Kultur.

 

III.    Normfreies Deuten postmoderner Hermeneutik

 

Ist alles Erkennen der Realität nichts weiter als ein grenzenlos liberales und stets verwandelbares Verstehen und Deuten der Realität, erhebt sich die Frage, ob wirkliches Erkennen wirklicher Realität überhaupt noch möglich und erstrebenswert sei. Erkennen als normfreies Deuten ist das Problem, das sich für dessen hermeneutische Lösung hält. Der Preis für diese Lösung ist hoch, sehr hoch, übermenschlich oder eher untermenschlich hoch.

Denn ohne Zweifel muß der universale Hermeneut voraussetzen, daß immer nur gedeutete, niemals wirklich erkannte Realität als Welt und Wirklichkeit zugänglich sei. Ob unsere Deutungen der Welt auch wirkliche Erkenntnis der Welt sind, – wie vermöchte der modern-postmoderne Hermeneut diese Frage zu beantworten? Schon der Versuch einer Antwort würde ihn als Hermeneuten desavouieren und destruieren.[2]

Ist aber Erkenntnis von Welt jenseits des Deutens von Welt unmöglich, ist auch Welt ohne Deutung nicht zugänglich. Und ist jede Deutung möglich, ist keine unmöglich. Der Hermeneut als Weltherrscher und Welterzeuger: eine scheinbar humanisierte Variante des Willens zur Macht wird erkennbar.

Ist aber Welt ohne Deutung nicht möglich und wirklich, ist Vieldeutigkeit der Welt notwendige Konsequenz. Eine selbsterzeugte Konsequenz, die als Voraussetzung gelten soll. Eine totale und totalitäre Konsequenz einer scheinbar vollkommen toleranten Erkenntnis- und Weltlehre. Denn was könnte toleranter sein als das Prinzip: jede Deutung von Welt sei als gedeutete Welt möglich und wirklich?[3]

Gilt die These der Deutbarkeit der Welt als Prinzip von Erkenntnis und Welt, ist Vieldeutigkeit der Welt und damit der Zerfall der Welt in viele Welten bereits mitgesetzt. Denn welche Perspektive welcher Deutung könnte vor anderen Perspektiven anderer Deutungen einen Vorrang oder Nachrang haben? Vielfältiges Verstehen und vieldeutige Welt als transzendentales Prinzip menschlichen Weltverhaltens sind weder so harmlos, wie die harmlosen ihrer Vertreter wähnen, noch so begründungs- und normfähig wie die ideologischen ihrer Vertreter glauben.

Denn ist mit der Vieldeutigkeit des Deutens die Vieldeutigkeit der Welt ausgemacht und vorgegeben, ist die Eindeutigkeit von Realität und Welt nicht mehr zu retten. Welche Norm oder Instanz könnte die Deutungsspiele der Deuter hindern, gar verbieten oder reglementieren?

Ist kein Teil, kein Ding dessen, was zur Welt gehört, nochmals eindeutig zu erkennen, ist guter Rat teuer. Zwar mögen die Namen von Welt und Weltdingen noch eindeutig erscheinen wie „Sonne“ und „Mond“, wie „Sirius“ und „Milchstraße“, wie „Dreieck“ und „Kreis“, wie „Dürer“ und „Picasso“, wie „Bach“ und „Chopin“,  wie „Mensch“ und „Tier“, „Geist und Gehirn“ – ungewiß und damit deutungsbedürftig wird, wie die durch die hermeneutische Einsicht durchschaubar gewordene Einfachheit der Namen von Erkennen und Welt zu deuten sei. Denn von den naiven Perspektiven der vorhermeneutischen Weltansichten hat der modern-postmoderne Hermeneut für immer Abschied genommen. Er wäre sonst nicht, was er durch kluge Einsicht geworden ist.

Für ihn ist die namentliche Eindeutigkeit vorgeblich identischer Sachen und Sachverhalte nur die Vorgabe, nur der Startplatz, nur der Anfang und Anstoß, nur der Auftakt der zu deutenden Sache, die erst nach dem Durchlauf durch die diesmalige Deutungsstrecke als vieldeutige und vielnamige Sache durchschaubar wird. Und der letzte Takt der diesmaligen Melodie beendet nur die diesmalige Melodie, denn viele und unendlichmalige Deutungsmelodien sind gefordert und möglich.

 

IV. Kultur und Ironie. Zwei oder drei Reichshälften?

 

Daß der Standpunkt radikaler postmoderner Hermeneutik lediglich in der geistes- bzw.- kulturwissenschaftliche Reichshälfte der modernen Welt Stimme und Ansehen genießt, wurde bereits angedeutet. Sogar Theorien, die den Status unbewiesener Hypothesen noch nicht abgeworfen haben, genießen in der Welt der Naturwissenschaften einen höheren Rang als den von („kulturellen“) Deutungen und Wertungen, die jederzeit durch Um- und Neudeutungen umgestoßen werden können. Dies erklärt sich aus simplem Grund: Das Kriterium der empirischen Verifizierbarkeit bzw. Falsifizierbarkeit, durch das naturwissenschaftliche Theorien approbiert oder guillotiniert werden, scheint allen geistes- bzw.- kulturwissenschaftlichen Methoden, also auch allen philosophischen, zu fehlen. (Hitlers Drittes Reich könnte eines Tages als gutes, der ontologische Satz, das Sein ist, könnte eines Tages als falscher gedeutet werden.)

Denn die Hermeneutik versteht sich als radikalisierte Erbin aller Philosophie, hat folglich deren vormoderne Kriterien als naive dogmatische Annahmen vermeintlich unumdeutbarer Wahrheitsaussagen weit hinter sich gelassen. Zwar dürfte die dialektische Untrennbarkeit von Vieldeutigkeit und Eindeutigkeit auch jedem denkenden Hermeneuten eindeutig auszudeuten sein. Doch wird der Hermeneut mit Recht an diesem allgemeinen Begriff von Bedeutung den Makel allzu allgemeiner Unbestimmtheit kritisieren.  Doch wichtiger als diese philosophieinterne Diskussion um das Wesen und Treiben von vieldeutiger Eindeutigkeit ist folgender Tatbestand moderner Kultur.

Zwischen der geistes- bzw. kulturwissenschaftlichen und der naturwissenschaftlichen Reichshälfte liegt eine dritte Reichshälfte, eine Anomalie von Zählung und Ganzheit (drei Teile als zwei Hälften), deren Ironie das Wesen modernen Kultur bestimmt. Denn die dritte Hälfte pflegt von den beiden anderen in aller Regel als dritte („fremde“) Hälfte, somit als Unkultur behauptet, bewertet und erlebt zu werden. Die Suppen, die in und durch Politik, Ökonomie und Recht gekocht werden, seien jedenfalls andere, als jene, die in den Naturwissenschaften einerseits, in den Geistes- und Kulturwissenschaften andererseits gekocht werden.[4]

An das Recht hängt sich bekanntlich, gleichfalls mit dialektischer Untrennbarkeit, die Sphäre des Moralischen und Ethischen, wobei der letztgenannte Ausdruck den verblichenen und unverständlich gewordenen Ausdruck „Sittlichkeit“ abgelöst zu haben scheint. Hermeneutische Vieldeutigkeit in der Sphäre des Moralischen und Ethischen ist unter der Prärogative des modernen Multikulturalismus bekanntlich nicht nur möglich, sondern überaus wirklich und beliebt. Fremde Sitten, fremde Menschen, also einander fremde Kulturen und Moralen; und zwar nicht wenige: Kein Mangel an Vieldeutigkeit, ganz im Gegenteil, ein Paradies an Vieldeutigkeit dessen, was Menschen auf dieser Erde für gut und schlecht, für moralisch und unmoralisch halten. Die Hermeneutik scheint auf fahrende Züge aufzuspringen, indem sie den gegenwärtigen Kosmos moralischer Vielheit rühmt und begießt.

Aber auch in ihrer eigenen Sphäre  – der Methode und Methodologie der Hermeneutik –  ist der Quell der Vieldeutigkeit wirksam. Denn zwei Grundarten der Hermeneutik müssen diesem Quell unausweichlich entspringen. Einmal eine (vormoderne) Hermeneutik, die das Verstehen und Deuten deutbarer Weltgegenstände (immer noch) teleologisch auf das Ziel ausrichtet, das identische Wesen des zu erkennenden Etwas im Rahmen beschränkter Deutungsmöglichkeiten wirklich zu erkennen. Diese sich selbst aufhebende Hermeneutik wird als eindeutig erkennende Hermeneutik selbstverständlich auf Kriterien der Beweisbarkeit ihrer Ergebnisse angewiesen sein.

Zum anderen eine (moderne) Hermeneutik, die in der genauen Gegenrichtung Kurs auf ein vieldeutiges Deuten und Erkennen der Weltgegenstände nimmt, weil das Ziel der sich selbst (in wahre Erkenntnis) aufhebenden Hermeneutik Illusion und irrende Annahme sei. Schon die Annahme der Identität von Gegenständen habe die Differenz der sich differenzierenden Gegenstände, ihr unaufhaltsames und unbegrenzbares Anderswerden nicht begriffen. Hermeneutik steht gegen Hermeneutik, – zwei Quellen oder eine, ein Ziel oder keines –  das ist hier die Frage.

 

V. „Ästhetisches“ Denken und Kants Kritik der menschlichen Vernunft

 

Es war bekanntlich die postmoderne Vernunftkritik des französischen Dekonstruktivismus, die der Hermeneutik vorwarf, an überholten Sinn- und Identitätsvorstellungen festzuhalten. Die Hermeneutik sei somit nicht in Richtung Erkenntnis des Identischen im Nichtidentischen, sondern in Richtung einer Erkenntnis totaler Nichtidentität und Differenz aufzuheben. Alles ist nicht „sein Anderes“, sondern ein fremdes Anderes, – der totalitäre Skeptizismus der Antike in neuem, in modernem Gewand, – negativistische Vernunft samt ihren Eitelkeiten und Absurditäten als Non-Plus-Ultra praktizierter („postmoderner“) Freiheit.

Ist dieser Punkt erreicht, dürfen und müssen die althergebrachten Fragen erneuert werden, weil vernunftfreies Denken nur als „ästhetisches“, nicht als wissenschaftliches, nicht als moralisches, nicht als politisches, nicht als ökonomisches, auch nicht als religiöses und schon gar nicht als philosophisches Denken haltbar ist. Jenseits von wahr und falsch ist „gut“ und „sensationell“ plaudern, aber die Verfallszeit provozierender Novitäten und verbaler Ohrwürmer ist kurz. Langeweile folgt der leeren Sensation wie der Schatten seinem Ding.

Wer freilich der Hermeneutik unterstellt, diese unterstelle, daß wir als Deutende der Welt diese anders erkennten, als sie tatsächlich sei, dürfte den Ernst der Lage noch unterschätzen. Denn eine „tatsächlich“ vorgegebene Welt, über die daher Aussagen mit „verläßlichen“ Wahrheitsgehalt zu tätigen seien, ist gerade nicht Sache und Voraussetzung moderner Hermeneutik. Sie scheint es insofern mit Kant oder einem (antikantisch radikalisierten) Neukantianismus zu halten: Da unsere Deutungen ohnehin nur Aussagen über Erscheinungen, niemals über das Sein und Wesen der Sachen selbst seien, ist auch der Wahrheitsgehalt einer von (stets) wechselnden Erscheinungen.

Wäre dies die Ansicht Kants gewesen, hätte er seine Kritik der menschlichen Vernunft vergeblich geschrieben. Denn sein Anliegen, unter den Prämissen transzendentaler Subjektivitäts-Vernunft dennoch objektive Erkenntnisse der Welt und des Menschen für möglich und notwendig zu halten, wäre selbst nur ein hermeneutischer Irrläufer gewesen.

Also ist Kant gerade nicht der Ansicht des modernen Hermeneuten, daß es jenseits seiner wechselnden Perspektivstandpunkte keinen objektiven, keinen neutralen Standpunkt gäbe, der fähig wäre, das aller Wahrnehmung und Erkenntnis von Welt(en) vorausliegende Substrat namens Wirklichkeit zu erreichen. Zwar begründet Kant seine transzendentale Lehre zunächst für die modernen Naturwissenschaften, die im Gefolge ihrer neuzeitlichen Erfolge – etwa durch Galilei, Kopernikus, Kepler, Newton und andere – genügend stichhaltige Wahrheitsbeweise ihrer Erkenntnisse der Erscheinungswelt aufgewiesen hatten. Doch sind auch Kants Begründungen einer Praktischen Vernunft im Zeichen der Moralität und einer Urteilenden Vernunft im Zeichen des Schönen und gewisser Naturzwecke gleichfalls nicht mit den Prämissen und Konsequenzen der modernen und radikalisiert postmodernen Hermeneutik vereinbar.

 

VI. Unvernunft und „science war“

 

Gegen die bisherigen Argumente könnte eingewandt werden, daß sich der anfängliche Erfolg der „Postmoderne“ weniger hermeneutischen und dekonstruktivistischen Faktoren, als vielmehr einem forschen Antimodernismuseid verdankte. Daß die Mainstream-Tage der Postmoderne mittlerweile abgelaufen sind, sollte dennoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß deren problematische Grundaxiome und Resultate die notwendige Konsequenz der Pluralen Moderne sind, deren Entwicklung unumkehrbar geworden ist. Und die Eigenart dieser Entwicklung, im Gegensatz zu aller vormodernen Entwicklung, zu erkennen und auszusprechen, ist zum Schibboleth vernünftiger Rede geworden über Moderne und Postmoderne geworden.

Im Schwindel der rasanten Bewegung mußte es dem europäischen Denken verlockend, ja unausweichlich erscheinen, Vernunft und Aufklärung über Bord werfen und ohne Kurs auf Fortschritt vernünftiger Entwicklungen übers Meer der Geschichte (weiter)fahren zu können.  Noch dazu als es – um 1989 –  schien, das Ende der Geschichte sei ohnehin erreicht.

Damals war die Karriere des 1979 mit großer Zustimmung gestarteten „Postmodernen Wissens“, das mit Jean-François Lyotards „Der Widerstreit“ (1989) eine letzte Grundlegung erhalten sollte, bereits am Verlöschen. Heute ist das Wort „Postmoderne“ verbraucht und nur mehr von Zeitgeistdenkern und Kulturjournalisten  – mit schlechtem Gewissen – verwendet. Irgendetwas am „postmodernen Wissen“ könnte noch brauchbar sein, wenn man erklären soll, weshalb die Erscheinungen der modernen Kultur nicht selten widersprüchlich und „vernunftfrei“ erscheinen.

Auch aus der Ecke derer, die man zunächst der Postmoderne zuzurechnen pflegte, erfolgte Einspruch – etwa durch  Michel Foucaults Weckruf von 1982 (in: „Raum, Wissen und Macht“): Die Philosophie der Postmoderne laufe Gefahr, „der Irrationalität zu verfallen“, wenn sie das Werk von Kant und Weber als verfehlte Aufklärung diskreditiere. Gerade unter modernen Zuständen und Entwicklungen sei unabdingbar, „möglichst nahe an der Frage nach der Beschaffenheit und Genese der Vernunft zu bleiben, die wir benutzen.“ Nicht sei „die  Vernunft der Feind, den wir beseitigen müßten, “wer glaube, sie beseitigen zu können, könne den „Irrationalitäten“ der politischen Massenmord-Ideologien des Jahrhunderts nichts entgegenhalten.

Als zehn Jahre später – in den Neunzigern des 20. Jahrhunderts – im Zuge der Sokal-Affäre ein „science war“ zwischen dem naturwissenschaftlichen und dem kulturwissenschaftlichen Sektor der modernen Kultur ausbrach, wurde die Auseinandersetzung auch wissenschaftlich konkret.

Eine postmoderne Zeitschrift, deren Redaktion, postmoderner Freiheit folgend, ohne unabhängige Gutachter arbeitete, veröffentlichte einen Artikel eines amerikanischen Physikers (Alan Sokal), der in postmoderner Sprache a là Baudrillard nachwies, daß die  Quantengravitation ein sprachliches und soziales Konstrukt sei, woraus folge, daß Quantenphysik und postmoderne Philosophie ungefähr aus denselben Gründen den naturwissenschaftlichen Realismus und Objektivismus als bloßen Diskurs(aber)glauben entlarvten und bekämpften. Doch schob Sokal diese Meinung nur vor, um das (de)konstruktivistische Denken der kulturwissenschaftlichen Postmoderne zu blamieren. Das Gelingen dieses Versuchs, so Sokal, habe einmal mehr die „mangelhaften intellektuellen Standards und den Mißbrauch mathematisch-naturwissenschaftlicher Metaphern in der postmodernen geistes- und sozialwissenschaftlichen Szene aufgezeigt.“ [5]

Mit anderen Worten: Wer die Vernunft hat abdanken lassen, darf sich nicht beklagen, wenn seine (Sonder)Rationalität von einer anderen (Sonder)Rationalität verschaukelt wird. Hier steht eben nicht der Widerstreit zweier Diskurse zur Debatte, sondern der ungelöste Widerspruch zweier Denk- und Sprachwelten. Für den de(konstruierenden) Postmodernisten mag alles und jedes als nach Belieben umdeutbares Konstrukt und Sprachspiel erscheinen, – der moderne Naturwissenschaftler hingegen ist andere Sitten und Normen gewohnt. Und diese kann er nur um den Preis einer Selbstaufgabe seiner Profession verleugnen und verraten.

Die Philosophie eines radikalen Postmodernisten hingegen, folgt sie der sophistischen Logik freispielender Sprachspiele, kann alles verraten: zu allem zu wie auch abraten. Das postmoderne Wissen ist so frei, über alles vermeintlich tatsächliche oder vernünftige Wissen erhaben zu sein. Eine Erhabenheit, die vor allem der modernen Kunst zugesprochen wurde und wird, – nicht zufällig stand der Begriff des Erhabenen lange Zeit im Zentrum postmoderner Begriffsbildung.

 

(Leo Dorner, Januar 2015)

 

[1] Versuche, im modernen Marktbetrieb der vorfilmischen Künste (Architektur, Skulptur, Malerei, Musik und Dichtung) eine „Zweite Moderne“ auszurufen, die der „Heroischen“ oder gar „Klassischen“ Moderne gefolgt sei (ab 2000?) oder zu folgen habe, sind sporadisch wiederkehrend. Ein verzweifelter Versuch, im nicht mehr rückgängig zu machenden Freiheits-Gelände künstlerisch praktizierter Multiperspektivik abermals festen Grund und Boden zu gewinnen. Normfreiheit als (neue) Norm auszurufen, ist Teil des Problems einer Moderne, nicht deren Lösung. Paradox wäre daher zu formulieren: nur Postmoderne ist die Lösung des unlösbaren Problems, totale Innovation und Freiheit als ewig erneuerbare erhalten zu wollen. Beliebigkeit und „Erweiterung“ des Kunstbegriffs konvergieren, ebenso der Begriff von Kultur, wenn er als „Inbegriff“ aller modernen Teil-Kulturen erörtert wird. Oder anders: jeder der beiden Begriffe (Kunst und Kultur) wird ein Anführungszeichen-Begriff, sein Sinn und Dasein ist von seinem Als-Ob-Sinn und –Dasein nicht mehr zu unterscheiden. Begriffe ohne Grenzen sind das vergiftete Eldorado der (post)modernen Kultur.

[2] Keine Erkenntnis ohne Deutung; aber nicht jede Deutung ist schon wirkliche Erkenntnis. Gäbe es immer nur vorläufige, niemals endgültige Erkenntnis, wäre der Name Erkenntnis diesen nicht wert. Irgendwann könnten wir doch noch in ein mythisches Weltbild zurückkehren.

[3] Ist zu jeder Deutung eine Gegendeutung möglich, werden beide als wahre Deutung behauptet. Doch kann die Sonne nicht zugleich ein Stern und ein Gott sein.

[4] Daher der postmoderne Satz: Kunst ist Kunst, Kultur ist Kultur, und alles andere ist alles andere.

[5] The Sokal Hoax: The Sham That Shook the Academy. University of Nebraska Press 2000. Alan Sokal, Jean Bricmont: Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften mißbrauchen, München, 1999. – Ein Buch, das in den Schriften vieler postmoderner Autoren zahlreiche „physiko-mathematische Mystifikationen“ nachweist.