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35 Wissenschaften und (keine) Philosophie

I.

 

Der Vorschlag moderner Wissenschaften, Philosophie möge sich mit dem Klären von Begriffen und Erklären von Sätzen bescheiden, enthält eine Kapitulationserklärung der Philosophie. Ob dieser Vorschlag aus selbst verschuldeter Unmündigkeit erfolgt oder aus einer metaphilosophischen Position, die durch moderne Wissenschaften zugänglich wurde, – das ist die zu klärende Frage.

Die Erkenntnisse und Erfolge der modernen Wissenschaften hätten die der Philosophie eigentümlichen Fragen, den ganzen metaphysischen Komplex samt Zopf und Kragen obsolet gemacht. Und mit den Fragen auch alle Antworten aller Philosophien, sei es ihrer Systeme, sei es ihrer Intuitionen. Einst als Königin der Wissenschaften geachtet, wird Philosophie nun zur Magd, zur Reinigungsfrau des Wissenschaftsbetriebes erniedrigt.

Freundlicher könnte man von einer „Begriffspolizei“, von einer „Rettung auf Abruf“, von einer „Moderation auf Nachfrage“ sprechen, falls sich im Verkehr der Wissenschaften oder innerhalb einzelner Wissenschaften gewisse Vorfälle unerfreulicher und unfriedlicher Art ereignen.

Nachdem die Philosophie die großen und kleinen Gefühle des Menschen und der Menschheit an die Künste delegiert habe, fehle nur noch, auch die großen und kleinen philosophischen Gedanken an die Wissenschaften abzutreten. In diesem Sinne hatte schon der frühe Wittgenstein gelehrt, die Philosophie sei keine Lehre, sie sei eine nützliche Tätigkeit im Dienst anderer Tätigkeiten: Unsauberen Sprachgebrauch im Alltag säubern, zweideutiges Reden in den Wissenschaften eindeutig machen. Nimmer könne Venus zugleich ein Abend- und Morgenstern sein.

Ist der Zweck der Philosophie nicht mehr, durch eigene, philosophisch fundierte Begriffe und Ideen unausweichliche Grundfragen von Mensch und Menschheit zu erörtern, kann es auch keine genuin „philosophischen Sätze“ mehr geben. Schon die Annahme, es gäbe gewisse „Grundfragen von Mensch und Menschheit“ ist als „metaphysische Annahme“ in den Orkus der Sinnlosigkeit abzuführen. Ein Denken, das sich ontologischen und transzendentalphilosophischen oder gar – horribile dictu – „metaphysischen Fragen“ widmet, um „philosophische Sätze“ zu gewinnen, kann nur zur Verwirrung des menschlichen Denkens und Lebens und zur Verdunkelung der Sprache der Wissenschaften führen.

Die Kriterien, nach denen die neue Philosophie daher unseren Gebrauch der Alltagssprache logisch klärt, sind solche eines logischen Sprachgebrauchs. Und die Kriterien, nach denen die moderne Philosophie als Wissenschaftstheorie hilft, Sinnkriterien für das wissenschaftliche Erkennen und Sprechen zu gewinnen, müssen streng wissenschaftliche Sinnkriterien sein. Ein positivistisches Credo im Zentrum der offenen Gesellschaft und Kultur?

Auch Geschichtsphilosophie und Religionsphilosophie, diese beiden Steckenpferde der alten Philosophie vulgo Metaphysik, können nur dann vom Sinnlosigkeitsverdacht dispensiert werden, wenn sie nachweisen, daß ihre fundamentalen Namen – „Geschichte“ und „Gott“ – auf sinnvolle Bedeutungsträger verweisen. Doch nachdem Sir Karl Raimund Popper die Geschichte als sinnlosen Verlauf erkannt, und zuvor schon Rudolf Carnap das Wort „Gott“ mit dem von ihm sinnfrei erfundenen Wort „babig“ verglichen und völlige Identität beider festgestellt hat, steht es schlecht um „Geschichte“ als Grundkategorie einer sinnvollen Geschichtsphilosophie und noch schlechter um „Gott“ als Sinnkriterium für Religionsphilosophie und Theologie.

Zwei Philosophien somit, die zusammen mit ihrer Schwester Metaphysik in den Abgrund der Sinnlosigkeit zu versenken sind. Sinnvolle Sätze über Gott, Mensch und Welt lassen sich künftig nur mehr in jenen Sätzen der Fachwissenschaften finden, denen wissenschaftlich bescheinigt wurde, wirkliche Sätze und nicht Scheinsätze, wirkliche Definitionen und nicht Scheindefinitionen, wirkliche Aussagen über Sachen und nicht Scheinaussagen über Scheinsachen zu sein.

 

II.

 

Neulich ereignete sich im Wissenschaftsbetrieb der Astronomie und Astrophysik ein unerfreulicher und unfriedlicher Vorfall, der angetan schien, die Begriffspolizei Philosophie auf den Plan zu rufen. Doch was geschah? Ganz ohne Philosophie waren die Fachexperten der genannten Wissenschaften imstande, die Sache unter sich auszumachen und über die Definitionsfrage, was ein Planet und was keiner (mehr) sei, objektiv gültig zu entscheiden.

Und auch über die umstrittenen Aspekte ihrer Übereinstimmung, waren sie weder bereit noch interessiert, bei den sprachlogischen Instituten der modernen Philosophie nachzufragen. Haben sie damit bereits als moderne Philosophen gedacht und entschieden, oder verfügen sie als moderne Fachwissenschaftler über genügend Wissen und Denkhandwerkzeug, um ihre Streitfragen eigenständig und ohne philosophierende Wissenschafts-Polizei zu klären?

1930 entdeckt, genoß Pluto bis zum 24. August 2006 einen angesehenen Rang als Planet, den erlauchten Status des neunten und äußersten Planeten unseres Sonnensystems. Doch dann wurde die Internationale Astronomische Union (IAU) tätig und degradierte Pluto zu einem Plutoiden vulgo Kleinplanet. Das Unglück des Planeten Pluto war nicht, daß er nur ein Drittel des Volumens des Erdmondes besitzt. Zum Verhängnis wurde ihm die Entdeckung unzähliger weiterer Plutoiden und Kleinplaneten im Kuipergürtel. Diese Entdeckung neuer Arten von (Schein)Planeten zwang die definierende Wissenschaftsbehörde, den Begriff Planet genauer als bisher zu definieren.

Doch dazu mußte sie bei keiner philosophischen Oberbehörde, bei keiner Sektion der modernen Logikphilosophie um Erlaubnis nachsuchen. Es genügte, das intuitiv verinnerlichte (philosophische) Wissen, wie das Klassen-Schema der Subordinierung von Gattungs- und Artbegriffen anzuwenden sei, wenn neue reale Arten von Himmelskörpern auf dem Beobachtungsschirm der Fachwissenschaft erscheinen.

Das Know-how der (ur)alten Philosophie lehrt: Die höchste Gattung kann nicht Art einer anderen Art sein, aber jede Art muß eine Art ihrer Gattung sein. Angewandt auf den vorkommenden Fall von Planet als oberster Gattung: dieser Gattung müssen alle ihre Arten, die schon beobachteten und die noch nicht beobachteten Arten von Planeten untergeordnet sein. Folglich muß die Gattung, obgleich „höher“ als die Arten, doch gewisse und mehrere Eigenschaften enthalten, um als bestimmte Gattung definiert werden zu können.

Und durch die begrenzte Anzahl der Eigenschaften hält sich die Gattung auch die Möglichkeit offen, weitere Arten zu generieren. Finden wir in der Gattung beispielsweise drei Eigenschaften, genügt der Verlust oder die nähere Präzisierung einer Eigenschaft, um eine bestimmte Art der Gattung erkennen und definieren zu können.

Keineswegs sind daher alle Arten gleich, liberale Toleranz ist kein Motiv wissenschaftlicher Sachlogik. Wäre jede Art in ihrer Art so gut und wahr und vollständig wie jede andere Art in ihrer Art, hätten wir das intuitiv verinnerlichte (philosophische) Wissen, wie das Schema der Subordinierung von Gattungs- und Artbegriffen anzuwenden sei, durch eine sinnlose Tautologie gekündigt. Erschiene unter diesen „Rahmenbedingungen“ ein Streitfall, könnten wir nur noch eine normfreie Philosophie der hypertoleranten Postmoderne als Streitschlichter anrufen.

Wie aber soll überhaupt ein Problem, wie soll auch nur der geringste Streit entstehen können, wenn jede Art jeder anderen Art gleichwertig ist, folglich jede gegen jede andere sich so friedlich verhält wie jene gegen diese? Der Friede aller gegen alle hätte auf wundersame Weise den Krieg aller gegen alle (Hobbes) abgelöst.

In jedem Einführungsbuch in die Philosophie werden wir unter dem Stichwort „Begriffspyramide“ über das Kleine Einmaleins des hausverständigen Philosophierens belehrt: Die jeweils „höchste Gattung“ umfasse unter ihren Fittichen viele Artbegriffe, weshalb sich auf dem Weg vom Oberbegriff zu den Unterbegriffen der Inhalt der Begriffe vervielfältige. Ganz oben herrscht die karge Einfachheit des abstrakten Allgemeinbegriffes, ganz unten das bunte Leben des erfüllten Individualbegriffes. Während die höheren Arten zu weiteren Sub-Arten auseinandergehen, könne die niedrigste Art nicht mehr weiter „eingeteilt“ werden. An dieser Stelle des logischen Exerzitiums pflegen die Einführungsbücher allerdings mit unschöner Regelmäßigkeit über den übersehenen oder ignorierten Unterschied von Individuum und unterster Art zu stolpern.

Welcher Art Pluto als Nichtmehrplanet auch immer angehören mag, er ist nicht nur ein Artling, er ist auch ein Dingling, er ist ein Individuum seiner Art. Anders ist die Lehrbuch-Weisheit, daß alle Arten, die nicht an der obersten Spitze oder an der untersten Breite angesiedelt sind, dem Gesetz der „dazwischenliegenden“ Arten unterliegen, nicht als rationale Lehre zu behaupten.

Diese lautet: Eine Art ist, obgleich Art der nächsthöheren Gattung, zugleich Gattung (genus proximum) für die nächstniedrigeren Arten. Falls die Art des Pluto (Plutoide) weitere Unterarten zuläßt, wird auch die Wissenschaft bereit sein, dies anzuerkennen. Und falls die Gattung Planet keinen Meta-Planeten als Meta-Art zuläßt, dürfen wir versichert sein, daß auch diese Grenze respektiert wird.

Diesen Respekt hat die definierende Astronomie-Behörde dem logischen Exerzitium des philosophischen Kleinen Einmaleins bereitwillig erwiesen, als sie das Problem Pluto – ein zu degradierender Planet – sachgerecht löste.

In einem ersten Schritt mußte der wissenschaftliche Gerichtshof eine hieb- und stichfeste Definition der Gattung Planet festsetzen. Und diese mußte innerhalb seines Gremiums durch allgemeine (mehrheitliche) Zustimmung besiegelt werden. Mit dem Schritt von der logischen Allgemeinheit zur personalen Mehrheit erfolgt die Politisierung des Problems, aber hier noch innerhalb einer Wissenschaft, die sich selbst als astropolitische Institution versteht.

Die besiegelte Definition erhob drei Grundeigenschaften in den Rang behördlich beeideter Grenzwächter: Planet sei ein Himmelskörper genannt, dessen Bahn eine Sonne umläuft (a); dessen Masse genügend Größe besitzt, um sich als kugelähnliche Gestalt in einem hydrostatischen Gleichgewicht zu erhalten(b); und drittens ein Gravitationsfeld besitzt, das über die Kraft verfügt, die Bahn seines Planeten von möglichen Begleitplaneten frei zu halten (c).

Der Dominant (Herrscher) seiner Umlaufbahn muß als Kugelgestalt seine Sonne mit relativ konstanter Geschwindigkeit umlaufen. Die (von mir) hinzugefügte Eigenschaft ‚Geschwindigkeit‘ deutet an, daß aus den drei Grundeigenschaften geradezu spielerisch unzählige weitere Eigenschaften folgen – auch der Begriff ‚konstante Geschwindigkeit‘ läßt sich vielfältig näher bestimmen und zu weiteren Subarten „einteilen.“ Doch sind die Folgeeigenschaften für die Definition des Allgemeinbegriffes unerheblich, sie bleiben zunächst im Talon des Klassifikationsspieles der Artbegriffe liegen. Vielleicht kommt ihre Chance in der Phase der Artendefinitionen, wenn deren Eigenschaftsbegriffe einen Zuschlag erhalten.

Mit ihrer Planetendefinition hatte die Internationale Astronomische Union (IAU) das Todesurteil des Planeten Pluto unterzeichnet. Denn Pluto besitzt zwar die Eigenschaften a) und b) der Gattung Planet, nicht aber die Eigenschaft c). Im fehlt die Kraft, seine Begleiter auf Distanz zu halten. Folglich schien seine Degradierung zum Zwergplanten ohne Widerspruch über die Bühne zu gehen.

Dennoch wurde eingewandt, man könne doch die Klasse „Doppelplanet“ zulassen, um das Plutoproblem zugunsten des umstrittenen Planeten zu lösen. Genaugenommen hätte man allerdings die neue Art „Mehrfach-Planet“ zulassen müssen. Denn das System des Pluto umfaßt mit Charon, Nix, Hydra, Kerberos und Styx mehrere Begleitnachbarn, die um ein gemeinsames Baryzentrum kreisen. Doch die genaue Definition der Gattung Planet machte alle Gegenargumente zu Makulatur. Dennoch bedurfte man, um das Gegenargument zu widerlegen, einer genaueren Präzision der Eigenschaft c).

Demnach ist ein Planet nur dann ein wirklicher, wenn dessen Masse die Gesamtmasse seiner Begleitgenossen übertrifft. Und dies trifft für Pluto nicht zu. Auch das Argument „gemeinsames Baryzentrum“ wäre noch kein Einwand gegen Plutos Planetenstatus gewesen, denn auch Erde und Mond umkreisen ein gemeinsames Baryzentrum. Dieses liegt, wegen der weit größeren Masse der Erde innerhalb der Erde, wenn auch nicht im Erdmittelpunkt. Das Baryzentrum des Plutosystems liegt aber 1200 km über Plutos Oberfläche.

Noch aus einem anderen Grund war der Planetenstatus Plutos längst schon gefährdet. Seine unverschämte Langsamkeit wurde ihm übel angerechnet. Ein radikaler Vorschlag hatte die scientific community der Astronomen unterwandert: Himmelskörper des Sonnensystems, die für ihren Umlauf um die Sonne mehr als 200 Jahre benötigen, sollten aus dem illustren Kreis der Planeten ausgeschlossen werden. Allenfalls könnten sie auf den Titel „Plutonen“ Anspruch erheben.

Doch wurde diese Argumentationsstraße verlassen, als die Schwäche des Pluto, Herr seiner Bahn inmitten seiner Zwerggenossen zu sein, zum Hauptargument erhoben wurde und zu seiner universal anerkannten Degradierung führte. Ob damit das Plutoproblem für alle Zeiten gelöst ist, steht freilich dahin; andere Zeiten andere Wissenschaftler, andere Optionen, andere Definitionen.

Zahllose Plutonen (Zwergplaneten) im Kuiper-Gürtel sind nämlich relativ groß (Ceres, Sedna usf.), und falls man in ferner Zukunft den Merkur zur Mindest-Maßeinheit (untere Obergrenze) für die Gattung Planet erhöbe, könnte man die bisherige dritte Eigenschaft (c) durch eine neue ersetzen. Mit einem Schlag wäre unser Sonnensystem um einige Hundert neue Planeten reicher. Jeder Himmelskörper, der in unserem Sonnen-System die Größe des Merkurs erreicht, wäre frei von allen Sorgen um seine drohende Degradierung.

Nach seiner Degradierung mußte über Pluto auch noch ein verbindliches Art-Urteil gesprochen werden. Um seine neue „Klasse“ anerkennungsfähig zu machen, mußten die vorhandenen Eigenschaften aus dem Talon des Plutos geholt und als Begriffe, mit präzisierenden Neu-Namen versehen, auf den Tisch gelegt werden. Eine hieb- und stichfeste Definition der neuen Art mußte durch Abstimmungsmehrheit zustimmungsfähig und danach ratifiziert werden.

Im Zuge dieses Verfahrens konnte die entscheidungsberechtigte Wissenschaftsbehörde auf den reichen Erfahrungsschatz ihres enorm erweiterten Beobachtungswissens der modernen Astronomie zurückgreifen. Eine Fülle neuer Klassen von Planeten hatte das Licht der Wissenschafts-Welt erblickt, und die Frage, warum und wie die Klassenbegriffe der Wissenschaften mit den real existierenden Planetenarten übereinstimmen, warum diese von jenen richtig und wahrhaft „getroffen“ (nominell begriffen) werden, wäre vermutlich als „metaphysische Frage“ aussortiert worden. (Über unbedingte Bedingungen der eigenen Wissenschaft zu reflektieren, ist keine Aufgabe der modernen Wissenschaften.)

Die Tatsache, daß die Generalversammlung scheinbar nach Belieben aus dem Talon der realen Eigenschaften auswählen konnte, beweist zum einen, daß keine einzelne Eigenschaft einer Objekt-Art (Himmelskörper, Planeten) die Klassifikationen der Wissenschaften determiniert. Freie Wahl ist möglich und auch notwendig, weil das Schema des Begriffsbaumes zwar unverzichtbar ist, dennoch nur regulative Wirksamkeit besitzt. Daraus folgen gravierende Prämissen für Wissenschaft und Welt. Etwa die damit bewiesene Tatsache, daß die reale Konstitution (Erschaffung) des Planetensystems unserer Sonne aus anderen Gründen und Ursachen in die Welt gekommen ist.

Unsere Begriffsbäume wachsen zwar über den Realitäten dieser Welt, nicht aber begründen und produzieren sie Himmelskörper. Folglich wissen wir auch, daß in unserem apriorischen (Vernunft)Denken kein Planet existiert, der als rein theoretischer, etwa mathematisch fundierter Begriff eines Planeten einen realen Planeten deduzierbar macht. Aus Begriffen folgt nicht die Realität beobachtbarer Himmelskörper, und die Erkennbarkeit der Himmelskörper zwar aus deren Begriffen, doch nur in Gemeinschaft mit den fortschreitenden Beobachtungen an realen Himmelskörpern.

Die scheinbare Beliebigkeit der Auswahl im Talon der Eigenschaften, beweist stringent, daß das regulative Schema des „Begriffsbaumes“ die Freiheit der Forschung begründet und sichert. Wissenschaften bilden die Realität nicht ab, auch nicht eine Realität, die angeblich in unseren Gehirnen vorgebildet bereit liegt. Es ist weder der Planet, der uns diktiert, ihn als solchen anzuerkennen, noch das Gehirn, das uns dekretiert, artspezifizierte Himmelskörper anzunehmen.

Zudem hat jede Eigenschaft der Himmelskörper eine Entdeckungsgeschichte hinter sich und eine weiterführende Deutungsgeschichte vor sich. Eigenschaften erscheinen für uns nur in den Filtern unserer wissenschaftlichen Klassifikationssysteme. Dies bedeutet weder, daß wir unser Sonnensystem nach dem jeweiligen Entwicklungsstand unserer Welt-Systeme konstruieren, noch daß jede Eigenschaft relativ sei, jede nach Belieben neu und anders gedeutet werden könne.

Dieses postmoderne Bekenntnis ziert nur die kulturelle Freiheit der modernen Welt, nicht deren (natur)wissenschaftliche. Nur in der modernen Kunst läßt sich beispielsweise die Sonne nochmals als Osiris und die Erde als Erdmutter Gaia „deuten“ und darstellen. In der modernen Wissenschaft käme ein Zurück in vormoderne und mythische Deutungen einer Kapitulation des wissenschaftlichen Weltbildes gleich. Einen Paradigmenwechsel durch Schubumkehr der Geschichte spielt es nur auf science fiction, im Abteil Zeitreise.

Noch vor den 1990er Jahren hatte man die extrem elliptische Umlaufbahn des Pluto wie auch die geringe Größe seiner Kugelgestalt erkannt. Damals wurde er bereits als transneptunisches Objekt geführt, verlor aber nicht seinen Planetentitel. Seine Bahn schleudert ihn weit über die Bahn des Neptuns – äußerster Gasplanet unseres Sonnensystems – hinaus, und diese Eigenschaft teilt er mit vielen Verwandten im Kuipergürtel. Bisher wurden an die 100 TNO gezählt, vermutet werden aber über 10 000, deren Durchmesser über 100 km liegen könnte. Im Rückblick läßt sich daher sagen, daß Pluto das einzige transneptunische Objekt gewesen sein wird, das für gewisse Zeit (1930-2006) als Planet existierte.

Er teilt nun als (bislang) größter Plutino das Schicksal von Asteroiden, beispielsweise von 153 Hilda, der sich mit Dutzenden anderer Objekte seiner Gruppe am Rande des Kuipergürtels um die Sonne bewegt. Folgende Sätze sind damit zweifelsfrei wahr: Pluto bewahrt seine (sich entwickelnde) Identität durch Millionen Jahre, aber wir (welterkennende Menschen) wechseln die Klassifikationssysteme, mit denen wir seine Identität bewerten und beurteilen.

Nach den vormodernen und archaisch-mythischen, in denen er als einer unter Göttern oder immerhin noch in der Astrologie eine prominente Rolle spielte, folgten die modernen wissenschaftlichen, die nun – vorerst – abgeschlossen sind. Die naheliegende Frage, ob Pluto (und seine Verwandten) nicht neuerlich einem Wechsel des Klassifikationssystems ausgeliefert werden könnten, hängt von der Antwort auf die Frage ab, ob neue stimmige Regulationssysteme im planetarischen Begriffsbaum aufgefunden werden.

Dieses Definitions-Schicksal des Pluto in der Geschichte der modernen Astronomie kann als pars pro toto-Beispiel genommen werden. Alle modernen Fachwissenschaften sind spätestens seit dem 20. Jahrhundert autark und autonom geworden. Sie haben sich von ihrer Mutter Philosophie, der die meisten entstammen, vollständig gelöst. Nicht nur wählen sie ihre Gegenstände selbst, sie suchen auch nach je eigenen, gegenstandsadäquaten Methoden der Forschung, um ihre Erkenntnisse in spezielle, mittlerweile unübersehbar gewordene Wissenssysteme zu überführen.

Und doch hängen sie sozusagen noch an einer unsichtbaren mütterlichen (philosophischen) Nabelschur, wenn sie, wie vorhin gezeigt, intuitiv und mit großer Selbstverständlichkeit der Logik des Porphyrios folgen, die wiederum auf Aristoteles‘ Kategorien-Logik zurückgeht. Damit scheint die moderne Philosophie, die sich als Sprachpolizei und Sinnbehörde den modernen Wissenschaften andienen wollte, offenbar nicht gerechnet zu haben. Sie steht nun mit leeren Händen im leeren Raum zwischen den modernen Fachwissenschaften und wird daher von diesen entweder ignoriert oder verachtet. In allen fachspezifischen Sachen und Fragen sind philosophische Sachen und Fragen verpönt.

 

III.

 

Während die Künste der vormodernen Epochen aus den Mythen der antiken Religionen hervorgegangen sind, entstammen fast alle modernen Einzelwissenschaften der Philosophie. Ein Prozeß, der in der Wissenschaftsgeschichte der Neuzeit einsetzte, um sich im 19. Jahrhundert zu verschärfen und ultimativ zu beschleunigen. Lediglich Theologie, Rechtswissenschaft und Medizin zählten immer schon zu den großen Ausnahmen: besondere Praxen erfordern auch besondere Wissenschaften. Pfarrer, Juristen und Ärzte sind Könige ihres Fachs, dennoch mußten sie an der mittelalterlichen Universität die untere Fakultät der Philosophie durchlaufen. Als „Philosophikum“ lebte deren letzte Ruine der alma mater noch vor kurzer Zeit an der Universität des 20. Jahrhunderts.

Nachdem Thomas von Aquin die Autonomie der Philosophie gegen die mittelalterliche Theologie gefestigt hatte, konnte ihr der basale Rang einer propädeutischen (unteren) Fakultät nicht mehr verwehrt werden. Noch wurde beachtet, daß auch das Denken des Menschen einer Schulung bedürfe. Danach fand man sich in den speziellen Gängen der drei höheren Fakultäten – Theologie, Jurisprudenz, Medizin – zuzüglich der allgemeinen Lehrerausbildung. Kein Lehrer ohne abgeschlossenes Studium an der „Artistenfakultät“, wie die höheren genannt wurden, um ihre Herkunft aus den gelehrten artes liberales zu tradieren.

Diese höhere oder „Artistenfakultät“ mutierte schließlich auf dem Weg vom 15. in das 18. Jahrhundert in die bürgerliche Philosophische Fakultät, aus der später die speziellen weiteren Fakultäten (anfangs: geisteswissenschaftliche, naturwissenschaftliche, mathematische und juridische) hervorgingen. Mit einem Wort: die Verselbständigung der Wissenschaften, ihre vollständige Abnabelung von der Philosophie hatte auf die höchste Institution der Wissenschaften eine umfassende und gravierende Wirkung. Mittlerweile ist auch dieser traditionelle Rang der Universität gefährdet.

Womit auch der Fakultäts-Ort der Philosophie ungewisser denn je wurde. Was ihr Gegenstand, ihre Methode, ihr Sinn und Ziel, ihr Ort im Ganzen der Wissenschaften sein könnte, wird als „umstritten“ taxiert und unter dieser postmodernen Beliebigkeits-Floskel als irrelevanter Luxus eines Denkens sui generis – für alle und niemand – abgelegt. Von ihrer altgewordenen Mutter, der verstoßenen Matrone, wollen die entlaufenen Kinder der alma mater philosophia nichts mehr wissen.

Auf dem dreihundertjährigen Weg zu ihrer Autonomie und Autarkie, zu ihrer Eigenständigkeit in der Auswahl ihrer Gegenstände und Selbständigkeit in ihren Methoden, lösten sich auch alle Kulturwissenschaften vollständig aus den Systemen der Kunstphilosophie und Ästhetik. Die Wissenschaften der Künste nutzten die Woge des Historismus im 19. Jahrhundert, um endlich frei von allen philosophischen Vorurteilen über Ideale und Schönheit, den ganzen Stoff, das unübersehbare Panoptikum der Künste-Geschichte und der immer noch expandierenden Künste-Gegenwart zu taxonomieren und zu beschreiben.

Am Ende des 19. Jahrhunderts wurde auch die Psychologie, ein wichtiges Stammfach der früheren Philosophie des Geistes, selbständig und philosophiefrei betreibbar. Und die politische Philosophie (Hobbes, Montesquieu, Locke Kant, Hegel,) hatte noch keine Politologie, auch keine Soziologie und keine der vielen modernen Gesellschafts- und Verhaltenswissenschaften aus sich entlassen. Selbst die Pädagogik, bis ins späte 19. Jahrhundert ein zentral bemühtes Fach der Philosophie, segelt nun als eigene Fakultät im Fächermeer der modernen Universität. Und daß die Naturwissenschaften anfangs unter Naturphilosophie wanderten, hat Sir Isaac Newton mit dem Titel seines Hauptwerkes von 1687 festgehalten: „Philosophiae naturalis principia mathematica.“

Die Selbstentmachtung der Philosophie (nicht nur) durch den Wiener Kreis und die Philosophien des logischen Sprachgebrauchs waren Wirkung und Folge einer epochalen Ursache: der Selbstermächtigung der Fachwissenschaften durch selbständig errungene Autarkie und Autonomie. Vor allem der auch technologisch verwertbare Erfolg der modernen Naturwissenschaften marginalisierte die vormoderne Mutter aller Wissenschaften. „Wozu noch Philosophie?“ lautet seither ihre Schicksalsfrage im Fakultäten-Raum der Universitäten.

Wenn nur noch wissenschaftliches Wissen Anspruch auf wahres Wissen erhebt, können auch nur noch wissenschaftliche Fragen und Antworten die ersten und letzten Rätsel der Menschheit erörtern. Doch dieser Primat der Wissenschaften im Selbstverständnis des modernen Menschen wird bereits durch die konkurrierende Vielheit vieler und oft einander widersprechender Wissenschaften gebrochen.

Und im angebrochenen Zeitalter vordigitaler und digitaler Medien wird die Phalanx der Experten für jedes Wissensgebiet zur dominanten Quelle, aus der sich das öffentliche Meinen über die letzten und ersten Fragen speist. Das Meinungswissen des sogenannten Normalmenschen ist gleichsam das Meer, in dem die Wasser aller Quellen zusammenströmen.

Folglich erhebt sich die beklemmende Frage, ob das Schicksal nicht längst schon entschieden hat: Sind philosophische Lehrstühle für „Nicht-normative Ästhetik“, für „Nicht-normative Ethik“, für „Nicht-normative Soziologie“, für „Nicht-normatives Recht“, für „Nicht-normative Politik“ und gleichfalls auch universitäre Institutionen für „offene Theologie und Religion“ sowie „offene Kultur und Gesellschaft“ ebenso unausweichlich wie überflüssig geworden?

Die These nicht weniger moderner (Natur) Wissenschaften, ihre Position sei als streng wissenschaftliche Position zugleich eine metaphilosophische Position, – die Vielfalt der Wissenschaften sei die philosophia prima des künftigen Weltzeitalters – demonstriert durch sich selbst die selbst verschuldete Unmündigkeit ihrer Position. Man versteht sich als Universalphilosophie, indem man nicht mehr versteht, was Aufgabe von Philosophie sein muß.

 

IV.

 

Leibniz‘ Entschluß, nur Wissenschaften mit Spezialgebieten und entsprechender Spezialforschung in die von ihm begründeten europäischen Akademien aufzunehmen, nicht aber die Philosophie, steht für eine Epoche der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte, die der Philosophie kein eigenes Gebiet, wohl aber ein eigenes Denken zubilligte.

Denn nur die Philosophie  – ausgelagert an freie Gelehrte, die zwischen allen Wissensgebieten pendelten – sollte jene ordnende Gesamtwissenschaft alles Wissens sein können, die allen Wissenschaften ihre Plätze im Gesamt der Wissenschaften, allen ihren Inhalten ihren Teilort im ganzen Kreis aller Inhalte zuerkennen könne. Auch aus heutiger Sicht kein irrationaler Gedanke, denn nur wenn „Alles Chemie“ oder „Alles Physik“ oder „Alles Konstruktion“ (jeweiliges kulturelles Denken) ist, ließe sich die Frage nach der Einheit des gesamten wissenschaftlichen Wissens durch eine der genannten Spezial-Wissenschaften beantworten. Chemie oder Physik wären unsere neue Philosophie, oder – im Falle von „Alles ist Konstruktion“ – eine unserer postmodernen Kulturwissenschaften, die ihre Herkunft aus den französischen Varianten der modernen Dekonstruktionsphilosophien nicht verleugnen.

Sind aber die Unterschiede der Wissenschaften durch objektive Unterschiede differenter Sachen und Wirklichkeiten begründet, ist die Frage nach der Einheit des Wissens, nach einer möglichen Überschaubarkeit ihrer Ergebnisse und auch nach einer Begründung ihrer Prinzipien und möglichen hierarchischen Ordnung keine Illusion, keine „konservative Projektion.“ War das enzyklopädische Denken der Aufklärung (Diderot, d’ Alembert, Herder u.a.) noch harmonisierend und essayistisch strukturiert, erreichte die philosophische Enzyklopädie mit Hegel ihren monistischen Höhepunkt.

Aus einem absoluten Begriff von Vernunft wurden alle Teilwirklichkeiten dieser Welt als ebensoviele Sub-Vernünfte abgeleitet. Aus der Philosophie der absoluten Idee generierten alle speziellen Realphilosophien. Mehr Übersicht war nie, das extreme Gegenteil der späteren Moderne war erreicht. Die modernen Daten-Enzyklopädien erlauben es mittlerweile jedermann, sich nach Lust und Laune, nach subjektiven oder kollektiven Zwecken (nicht nur in der Astronomie arbeiten Amateure und Experten institutionell zusammen) des ständig weiter wachsenden Wissens zu bedienen.

Aber der Name „Enzyklopädie“ hat sich in sein (nicht mehr philosophisches) Gegenteil verkehrt. Aggregat wurde, was Einheit gewesen. Und auch die Institution, die Hegel als Heimstätte seiner philosophischen Enzyklopädie aller Wissenschaften auserkoren hatte, die entstehende Universität Humboldts, dürfte die Stürme der modernen Entwicklungen kaum überleben.

Doch zwischen Leibniz und Hegel lag Kant, der die Relation von Philosophie und Wissenschaften abermals anders bestimmte. Nach seinem Ansatz sollte auch die Philosophie eine Spezialwissenschaft sein oder werden: Vernunft als apriorisches Wesen ist ihr Gegenstand, deren transzendentale Behandlung ihre Methode. Die Kritik der reinen Vernunft legt die rationalen erkenntnistheoretischen Wurzeln alles wissenschaftlichen Erkennens dar, die Kritik der praktischen Vernunft liefert die Grundlagen der Beurteilung moralisch-sittlichen Handelns, die Kritik der Urteilskraft darüber hinaus die Grundlagen und Grenzen der ästhetischen Beurteilung. Theoretische und praktische Vernunft, solcherart dargelegt und eingegrenzt, geben im Weiteren auch die Grundlagen für eine allgemeine (allerdings nur utopische) Beurteilung der Weltgeschichte und Grundlagen für eine Beurteilung aller Religionen „innerhalb der Grenzen bloßer Vernunft.“

So wenig aber Hegels System-Enzyklopädie im 19. Jahrhundert weiterverfolgt und wissenschaftsmächtig wurde, so wenig war Kants Ansatz innerhalb der Philosophiegeschichte des 19. Jahrhunderts anschlußfähig. Seither gehen die Wissenschaften, grenzenloser Spezialisierung und Ausdifferenzierung überantwortet, und die Philosophie, gleichfalls eigener Differenzierung und zugleich der Vermischung aller Philosophie-Spielarten überantwortet, ihre eigenen und getrennten Wege.

Bereits Schopenhauer reduzierte das Vernunft-System Kants auf Erkenntnistheorie. Und mit der Ablehnung der praktischen Philosophie Kants legte Schopenhauer auch die Grundlagen für Nietzsches Philosophie der Anti-Vernunft, mit allen Konsequenzen kommender (amoralischer) Ästhetisierung der Kunst und Amoralisierung von Politik und Gesellschaft. Nicht nur das deutsche Volk wurde „reif“ für die kommenden Ideologien und Diktaturen des 20. Jahrhunderts.

Andererseits bedürfen die modernen Wissenschaften nach Kants Lehre keiner „enzyklopädischen“ Rückbindung und keiner „metaphysischen“ Zusatzdeutung mehr. Deren Entwicklung ist frei gegeben, womit die Frage nach einer neuen Ethik, die sich mit den Grenzen der Wissenschaften beschäftigt, unausweichlich wird. Gegen die moralischen Grenzfragen der modernen Wissenschaftskultur sind die Fragen nach Plutos Nicht-mehr-Planetenstatus von biedermeierlicher Harmlosigkeit.

Ob die Atombombe politisch-moralisch nochmals „eingehegt“ werden soll, und wie die Menschheit den erwartbaren nationalen oder übernationalen politischen Mehrheiten für die Selbstermächtigungen der modernen Medizin, beispielsweise durch künstliche Befruchtungen und „menschenumschaffende“ Embryonen-Forschung, begegnen soll, das sind Fragen, die den Horizont von Kants System der praktischen Vernunft weit übersteigen.

Während Hegels System alles Wissen aller Wissenschaften inhaltlich durchdringen und in einer absoluten Vernunft verankern möchte, möchte Kants transzendentale Prinzipien-Philosophie „nur“ die apriorischen Grundlagen des Gesamtwissens und Gesamthandelns der menschlichen Kultur erkennen und festschreiben. Ist dort die mittlerweile Realität gewordene Erschöpfung der System-Vernunft unausweichlich, ist hier die freie, aber mit ungewisser Zukunft verbundene Entwicklung alles Wissens und Handelns unvermeidlich.

Eine Philosophie, welche die rein begrifflichen (apriorischen) Grundlagen der Wissenschaften, der Moralität und Sittlichkeit, des Rechts und der Politik, der Kunst und Künste, der Religion und Religionen und auch noch der Menschheitsgeschichte erkennt und herausarbeitet, hat die empirische Erfassung und Weiterentwicklung durch Individuen und Kollektive und deren Institutionen außer sich. In beiden System-Fällen, Hegel und Kant, hat die philosophische Vernunft als Leitwissenschaft abgedankt. Dieser äußerst bedenkliche und überaus gefährliche Befund ist aber bekannt und der modernen Welt vertraut – sie lebt mit dem Risiko eines selbstverschuldeten Untergangs.

Leo Dorner, Juli 2017