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50 Die Freiheit der Demokratie und ihre ahnungslosen Feinde

1.

Ob einer und welcher Zusammenhang zwischen dem Projekt EU und den liberalistischen Projekten der modernen westlichen Gesellschaft und Kultur besteht, ist eine jener Fragen, die wir gern an die Zunft der Historiker auslagern. Sie sollen „später einmal“ klären, was heute undurchschaubar zu sein scheint. Ein Dschungel von Kausalitäten, der wie ein „Gesamtkunstwerk“ erscheint, von dem Künstler nicht einmal träumen können und auch Romanschriftsteller überfordert wären.

Ein Hauptgrund ist die unüberbietbare Vielschichtigkeit des Politischen, wobei es uns nicht (mehr) hilft, wenn wir diese beiden Worte – Vielschichtigkeit, Dschungel – unter Anführungszeichen setzen oder nicht. Zum einen erscheinen in der jeweils aktuellen Gegenwart (aus dem Dschungel ihrer Kausalitäten) stets wieder unvorhersehbar überraschende Ereignisse, – von Attentaten bis Pandemien, von Kriegsausbrüchen und neuen Friedensabkommen, von (Rück)Eroberungen und neuen Bündnissen, die bisher für unmöglich gehalten wurden.

Zum anderen erscheinen am Horizont der Geschichte – in naher Zukunft menschheitsbeglückend realisierbar – neue Sonnen, die neues Heil und neue Erlösung durch neue Freiheit(en) versprechen. Offensichtlich sind „Vielschichtigkeit“, „Dschungel“, aber auch die Lieblingskategorie unserer Historiker: „Zusammenhang“, unmittelbar verständliche Umschreibungsvokabeln, die der Schminke auf Menschengesichtern gleichen, die sich durch Überbetonung verführerisch herausputzen oder – wie im Karneval – obskurant verbergen möchten.

Die aktuelle Doktrin des „Politisch Korrekten“ muß unter diesen Umständen und Bedingungen als auffälliges Symptom erscheinen, etwa wie das Erscheinen oder besser Verschwinden von Erdgebieten mitten in Ortschaften, oder auch das Ausbrechen von Vulkanen und verheerenden Erdbeben. Doch diese (geologischen) „Verwerfungen“ sind für uns rational erklärbar geworden, die Kausalitäten des „Gesamtkunstwerks“ Erde sind für uns keine Geheimnisse mehr. Auch wenn wir über genaue Vorhersage-Instrumente noch nicht verfügen.

Demgegenüber bleiben die tektonischen Bewegungen der Geschichte ein ewiges Rätsel, ein ewiges Abenteuer und das Politische: ein ewig sich selbst erschaffendes „Gesamtkunstwerk.“

Vielleicht noch zu Anfang dieses Jahrhunderts hätte wohl keine moderne Demokratie ihrer eigenen fundamentalen Doktrin widersprochen: Demokratische Verfassungen sind ohne Meinungs- und Redefreiheit nicht das Papier wert, auf dem sie geschrieben stehen.

Strebt das „demokratische Zeitalter“ seinem Ende zu, wenn neuerdings politisch korrekte gegen politisch inkorrekte Meinungen die Bühne des öffentlichen Meinens besetzen?

Allerdings waren schon bisher gewisse Meinungen, etwa die den Holocaust und andere historische Verbrechen leugnenden Positionen unter öffentliche Strafe gestellt. Aber das Meinen über Gegenwärtiges und Künftiges war bisher noch nicht einer strafbewehrten Korrektheits-Doktrin unterstellt.

Mit einer Ausnahme: Revolutionen am Anfang neuer und am Ende alter Gesellschaftssysteme mußten das Denken und Meinen über Künftiges und Gewesenes mitrevolutionieren. Was den Revolutionären der Wohlfahrtsausschüsse nach 1789 widersprach, war nicht nur „inkorrekt“, es war ein Verbrechen gegen die Republik und seinen neuen Souverän, den Bürger. Dessen Terror der Tugend (die Gefängnisse waren überfüllt, berichtet Anatole France in seinem fast dokumentarischen Roman „Die Götter dürstet“ (1912)), forderte viele Tausend Todesopfer. Eine kleine Zahl verglichen mit jener, die der kommunistische Tugend-Terror von und nach 1917 in Rußland und weltweit forderte.

2.

Doch jenseits aller politischen und sonstigen Ausnahmesituationen ruht die moderne Demokratie bekanntermaßen auf ihren zentralen politischen Dogmen, worunter das Dogma der Meinungs- und Redefreiheit nicht zufällig einen sakrosankten Rang behauptet(e). Dabei ging und geht es primär nicht um theoretische Wahrheiten der Wissenschaften (theologische der Religionen, ästhetische der Künste), sondern vordringlich um die pragmatischen der politischen Handlungswahrheiten.

Daß diese je nach weltgeschichtlicher Notlage wechseln und sich permanent verändern, macht sie nicht harmloser, sondern wesentlich gefährlicher, – einzigartig gefährlich. Ein Streit innerhalb der Wissenschaften (auch der Künste, auch der Religionen) kann diesen überlassen bleiben; berührt derselbe jedoch politische Handlungsgüter, wird jede Verfehlung gebüßt oder deren Verhinderung als wahrer Fortschritt reklamiert.

Die Leugnung der Mondlandung von 1961 fällt noch unter (pseudo)wissenschaftliche Kollateralschäden, die aktuelle Leugnung todbringender Viren nicht mehr. Hätten sich Kerenskis demokratische Ideen vor 1917 in Rußland durchgesetzt, wie viele Millionen Tote wären der Menschheit erspart geblieben? Erst 80 Jahre später wußte eine erleuchtete Mehrheit der Menschheit, daß es sich beim Marxismus-Leninismus um einen pseudowissenschaftliche Rohrkrepierer der Weltgeschichte handelt. (Was durch den Erfolg des kapitalistisch agierenden Staatskommunismus‘ Chinas nur bestätigt wird.)

Die Doktrin der freien Meinung und Rede fordert ihrem freien Prinzip gemäß: Erst durch einen freien Austausch der Meinungen über einen aktuellen politischen Inhalt sei eine gemeinsame Wahrheitssuche von und für alle Beteiligten möglich. Der Souverän wird somit, anders als der begnadete Monarch, als suchende Instanz vorgestellt. Nicht daß Monarchen oder auch Päpste und Kardinäle als solitäre Machtindividuen gedacht und gehandelt hätten.

Aber in den vormodernen Kulturen Europas war die politische Entscheidungsstruktur über viele Jahrhunderte mehr oder weniger festgefügt – vormoderne Freiheit. Dieses stabile Fundament hat die Demokratie über den Haufen geworfen und damit habe sie (nach (freier) Meinung Vieler noch heute), auch allen transzendenten Grund ihres eigenen Denkens und Tuns zerstört. Immerwährender Streit und (spaßerfüllte) Leere statt Gottvertrauen und Bindung an vorgegebene Ordnungen.

In dieser freien Entwicklung haben wir heute offensichtlich einen wiederum neuen und daher späteren und vermutlich sehr späten Punkt erreicht, – eine neue Station der Freiheit. Insofern ist die neue Bühne, auf der nun politisch korrekte mit politisch inkorrekten Geistern interagieren, unvermeidlich.

Dabei sollte evident sein, wie schon erwähnt, daß eine Geschichte der Freiheit nicht von vornherein weniger bedrohlich ist als eine Geschichte der Unfreiheit. Nur deren geschichtliche Zieleinläufe unterscheiden sich radikal. Was natürlich die Frage aufwirft, ob die Extreme beider „Enden“ nicht ähnliches Unheil erzeugen. Versinken multipluralistische Demokratien in ihrer selbsterzeugten Anarchie, mögen weniger Todesopfer zu beklagen sein als am Ende von Monarchien und Diktaturen. Aber wer möchte das zynische Spiel eines Auf- und Zurechnens von Menschenopfern mitspielen?

Seit Einführung der neuen Doktrin – sie erfolgt informell (schleichend) oder durch offenes politisches Handeln – kennen wir mittlerweile eine Vielzahl politisch korrekter und eine noch größere Anzahl politisch inkorrekter Meinungen, Thesen, Programme usf.

Daher erhebt sich die unvermeidlich Frage: Wurden diese beiden neuen öffentlichen Pranger vor oder nach erfolgreicher Wahrheitssuche aufgestellt? Wurde die geforderte (demokratische) Wahrheitssuche bereits erfolgreich abschlossen, weshalb man die unwahren Meinungen als politisch inkorrekte ausschließt, oder möchte man mit der Ausrufung der neuen Doktrin den Mühen und Prozessen der Wahrheitssuche ausweichen, um die durch eigene Fortune erkannte Wahrheit als alleinseligmachende durchzusetzen?

Auf diese Frage ist eine allgemeine Antwort unmöglich,- wie immer, wenn eine Frage zu allgemein gestellt wird. Denn erstens ist die Anzahl der speziellen Felder und einzelnen Inhalte des politischen Handelns schier unübersehbar. Und zweitens ist das freie Fließen dieses Handelns, in allen pragmatischen Prozessen der politischen Moderne, unabschließbar, permanent auf Kurs. Sollte aber der Findungsprozess in einigen, vielleicht sogar vielen pragmatischen Krisen-Feldern noch nicht abgeschlossen sein, ist für diesen Fall eines gewiß: Ein Wahrheitsprozeß kann nicht wirklich frei und offen geführt werden, wenn sich die Diskurspartner von vornherein als Stigmatisierte gegenüberstehen, – als politisch korrekte und als politisch inkorrekte. Beide sitzen einander gegenüber, aber mit geballten Fäusten und ausgefahrenen Krallen.

Dennoch dürften beide Kontrahenten in einem Punkt (noch) übereinstimmen: Da die Freiheit des freien Redens, Denkens und Meinens gegen eine Phalanx vormoderner Mächte wie Fürsten und Monarchen, Adel und Kirche errungen wurde, dürfe diese Errungenschaft nicht durch die Installierung eines neuen Adels, neuer Monarchien und neuer Kirchen und Religionen als Hütern ewiger Wahrheiten, die zugleich politische sein sollen, rückgängig gemacht werden. Eine Kultur, in der wenige herrschende Stände das Sagen, alle nicht herrschenden nur das Gehorchen haben, kann kein Vernünftiger nochmals anstreben.

Und auch eine Rückkehr in die dunklen Zeiten der politischen Moderne Europas steht kaum noch als politisches Vernunftangebot zur Verfügung. Auch wenn besonders stramme Linke (wieder in Deutschland) den Glauben an das Heil ihrer marxistischen Botschaft noch nicht überwunden zu haben scheinen. Eine Gesellschaft, in der sich eine Ideologie und Partei als exklusive Besitzerin der politischen Handlungswahrheit ad diktatorem durchsetzen könnte, würde allem Streit um korrekte oder inkorrekte Meinungen ein vorzeitiges Ende bereiten.

3.

Bleibt die bedrängend gegenwärtige Frage, ob eine schleichende, entweder informelle oder journalistische, oder eine juridische bzw. bereits parlamentarische Durchsetzung gewisser „politisch korrekter“ Wahrheiten Gefahr läuft, als Vorstufe einer realen Meinungsdiktatur zu dienen, die wiederum das Endziel einer realen politischen Diktatur in greifbare Nähe rückt. Man hätte die „offensten Ideen“ durchgesetzt, um just dadurch eine neue geschlossene Gesellschaft und deren Unfreiheit heraufzuführen.

(In diesem Zusammenhang ist der historische Tatbestand interessant, daß zwischen vormoderner und moderner Unfreiheit durchaus Verbindungen bestanden und bestehen. – Wenn der Vatikan den Aufstieg des Faschismus in Italien, oder die Deutschen Christen den Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland förderten und bejubelten, worin ihnen die orthodoxen Christen der Sowjetunion mit ihrem Faible für „Väterchen Stalin“ kaum nachstanden, haben wir Lehrstücke einer politischen Unvernunft vor uns, die in Europa unvergessen sind.)

Die Anfangsfrage lautete, ob einer und welcher Zusammenhang zwischen dem Projekt EU und den liberalistischen Projekten der modernen westlichen Kultur bestehen könnte.

Ist das politische EU-Projekt, das die Nationen zusammenführen möchte – sei es in einer vertraglich verknüpften Union teilnehmender Nationen, sei es in einer bundesstaatlichen Verknüpfung der europäischen Nationen, in der diese ihre Eigenständigkeit aufgeben und verlieren, ein politisches Großprojekt, in dem die liberalistischen Projekte mit ihrer Neudefinition von Mensch und Sozialität als ableitbare und systemimmanente Teilprojekte realisiert werden?

Daß zwischen dem ökonomischen Projekt Schengenraum und der Installierung einer Bologna-Universität ein Zusammenhang besteht, dürfte evident sein. Und daß dieser Raum zugleich ein Raum gemeinsamer Rechte sein muß, ebenso. Aber eine verschulte Universität, die mit Humboldts Universität nur noch, wenn überhaupt, den Namen gemeinsam hat, dürfte kaum noch mit „liberalistischen Ideen“ assoziierbar sein, – im Gegenteil. Die EU-Austauschprogramme zwischen den Universitäten der Mitgliedsstaaten können den Qualitätsverslust der einst führenden Bildungsinstitute des Kontinents gewiß nicht ausgleichen.

Fragen ließe sich, ob der universitäre Qualitätsverlust schon vor Bologna so weit fortgeschritten war, daß die „Bologna-Universität“ der sterbenden alteuropäischen Institution nur noch den letzten Todesstoß versetzen sollte, oder ob die neue Universität als weiteres Teilsystem eines gänzlich neuen Bildungssystems, von dem vorerst nur einige embryonale Anfänge erkennbar sind, auf den Plan gerufen wurde. Dieser Unsicherheit entspricht vermutlich, daß die Einführung von „Bologna“ durch interne bildungspolitische Entscheidungsprozesse erfolgte, die das öffentliche Meinen kaum interessierte. Was korrekt in die EU-Bildungspläne paßte, das konnte nicht politisch inkorrekt sein?

Und auch die Einführung von multiplen, jährlich wechselnden „Kulturhauptstädten“ wurde durch eine Entscheider-Elite ersonnen und durchgesetzt, die über Sinn und Zweckmäßigkeit ihres Projekts keines der Völker Europas befragen mußte. Als wären diese nicht mehr Kulturvölker oder/und sollten in einer gemeinsamen Europa-Kultur verschwinden. Die Stimme derer, die meinten oder immer noch meinen, Europa hätte das EU-Projekt nicht mit Kohle und Stahl, sondern mit der Vielfalt der Künste, Künstler und Kunstwerke beginnen sollen, – eine selbst nur künstlerische Idee – ist mittlerweile als (alteuropäische) Schelmenstimme erkannt und ad acta gelegt.

Auch eine gemeinsame Armee wäre, so sie möglich und notwendig werden sollte, nur unter der Voraussetzung eines gemeinsamen Rechtsraumes, nun aber in militärischer Applikation, realisierbar. Und darüber müßte unter gleichberechtigten, nicht unter diffamierten Gesprächspartnern verhandelt werden.

Wenn aber alle Projekte, die der utopischen Vision einer „diversen Menschheit“ folgen, gleichfalls als gemeinsamer Rechtsraum vorangetrieben werden, dann gewinnt das Potential eines Streits zwischen Korrekten und Inkorrekten das Potential eines veritablen Kulturkampfes, der mittlerweile auch wirklich auf der Ebene der Nationen ausgebrochen ist, wie der Kampf der EU-Zentrale gegen einige Staaten Osteuropas beweist.

„Wenn nichts dazwischen kommt“, dann, so lautete die unverzichtbare Klausel Aristoteles‘ über alle Entelechien in dieser Welt, dann sei ihr Gang gesichert, ihre Entwicklung vollende sich in ihrem Ziel.

Aber im Fall der Entelechie EU, wenden deren Befürworter, Planer und Ausführende ein, sei es anders, ganz anders: Je größer und multipler die Krisen, umso grandioser und reichhaltiger die Chancen und Aussichten.

4.

Auch wenn das Wort „politisch korrekt“ in den Gründerjahren der EU noch keine öffentlichen Wellen schlug, war es zweifellos demokratisch legitimiert, daß sich einige europäische Staaten sukzessive zur Teilnahme am EU-Projekt entschlossen. Auch wenn die Mehrheiten der zur Abstimmung aufgerufenen Staatsvölker zumeist sehr knapp ausfielen und einige EU-Vorschläge zu vertieften Gemeinschaftsverträgen mehrmals zurückgewiesen wurden.

Wer gegen das große völkervereinigende Friedensprojekt war, war entweder „rückständig national“ oder „hyperkritisch“ oder sonstwie „nicht auf der Höhe der Zeit.“ Denn ein gemeinsamer Wirtschaftsraum, eine neue große Reisefreiheit und vor allem eine gemeinsame Währung, das waren drei überzeugende Trümpfe, mit denen das neue Europa zudem erstmals im Konzert der Weltmächte als gleichberechtigter Partner mitspielen könne.

Aber dieser großpolitischen Wende war noch keine mentalitätspolitische Wende beigesellt: niemand wäre auf den Gedanken gekommen, die Zweifler am EU-Projekt als Angehörige einer minderbemittelten Kaste namens „politisch inkorrekt“ zu diffamieren.

Wie in allen Demokratien war auch in der anvisierten multinationalen EU-Demokratie die zentrale Kategorie des Umstritten-Seins intakt und als unumgehbare Selbstverständlichkeit akzeptiert. Ebenso, daß die jeweilige Mehrheit, wenn auch noch so knapp gewählt, die Entscheidungsmacht über das politische Ganze an sich zieht.

Und an diesen (Ab)Gründen der demokratiepolitischen Geschichte Europas konnte auch das mentalitätspolitische Zwischenspiel von korrekt versus inkorrekt vorerst wenig bis nichts ändern. Das großpolitische EU-Projekt ist der richtige Zug in die Zukunft, meinen die einen, ein Zug in eine problematische und vielleicht unmögliche Zukunft, meinen die anderen.

Doch ist ein Zug, der seine Lokomotiven und seine Waggons während seiner Fahrt in die Zukunft permanent verändert und wechselt, eine Art „Gesamtkunstwerk“, wie schon erwähnt: Mehr als ein Kunstprojekt, ein „richtiges“ Lebensprojekt, und daher ebenso real faszinierend wie real erschreckend. Denn alle politischen „Gesamtkunstwerke“ spielen mit der Karte „alles oder nichts“, sie agieren im „richtigen Leben“, nicht in den erfundenen der Künste.

Auf dem Spieltisch der EU-Gründerjahre lagen viele Karten, aber eine noch nicht: Die Karte einer „globalen“ multikulturellen Demokratie fand sich noch nicht auf dem europäischen Spieltisch.

Doch seit diese Karte seit 2015 unwiderruflich auf dem Tisch liegt, haben sich die Spaltungen im großen Vereinigungswerk stark vertieft. Ob es diese Karte allein war, die als eine Karte zuviel ins Spiel kam und dadurch den Spaltpilz innerhalb der EU extrem vertiefte, oder ob schon davor die Verträge für eine Union der europäischen Nationen viele Keime für gefährliche Spaltpilze enthielten, wird der Stoff sein, aus dem die künftigen Historiker ihre endlosen Bücher mit endlos hin und her schwankenden Deutungen schneidern werden.

Doch seit 2020 sind wir nochmals neu belehrt, noch eine „Karte zuviel“ wurde ins europäische Vereinigungsspiel geworfen: Das Virus einer Pandemie, die offenbar die Macht besitzt, das Herzstück der europäischen Vereinigung, ihren Aufstieg zu einer Welt-Wirtschaftsmacht, direkt zu attackieren und nachhaltig zu unterminieren.

Während die Angriffe auf die Kultur und Sozialwirtschaft Europas durch unkontrollierte „Migration“ entweder noch schöngeredet oder den nächsten Generationen Europas in die Schuhe geschoben werden können, ist dies mit der Pandemiekrise, die eine Wirtschaftskrise samt wiederkehrender Massenarbeitslosigkeit nach sich ziehen könnte, nur noch bedingt und eingeschränkt möglich. Mit einer funktionierenden Wirtschaft lassen sich viele Pferde in Umlauf halten, ohne funktionierende Wirtschaft ist das politische Ganze am Ende.

Doch auch an der Doktrin des „Politisch (Un)Korrekten“ haftet ein tragischer Aspekt: denn mit jeder neuen Krise wird der Fächer des Politisch (Un)Korrekten zwangsläufig erweitert: Mit den neuen und neuesten Varianten des politisch Richtigen („Jede Krise eine neue Chance“) steigern sich konsequent auch die des politisch Unrichtigen. Ein wechselwirkendes Kapillarsystem entsteht, weil das Richtige vom Unrichtigen und umgekehrt und beides von der richtigen und unrichtigen Perspektive ihrer Schuldner und Gläubiger immer untrennbarer dependiert. Ein Selbststrangulierungsmotor beginnt zu arbeiten, der bald „jeden gegen jeden“ in eine rechthabende Raserei abführt.

5.

Daher dürfte evident sein: Auch wenn das Merkeljahr 2015 nicht geschehen wäre, wäre die „Ehe für alle“, wäre ein Klimanotstand für alle, eine Gendernot für alle und ein Rassismus-Notstand für alle sowie ein Schwarmdutzend Neugeschlechter auf Europas Nationen und Staaten niedergegangen.

Oder wenn deutsche katholische Bischöfe erklären, daß ihr Katechismus in vielen Punkten neu zu schreiben wäre, weil der bisherige (auf den sie ihren Priestereid geschworen haben) nicht mehr den Forderungen unserer Zeit gerecht wird, dann sind diese theologischen Neuerungswünsche aus einer neuen und eigenständigen kirchenpolitischen Korrektheit, nicht aus den Wendungen und Windungen der europäischen Großpolitik ableitbar.

Die Freiheit der Revolutionäre von 1776 und 1789 hatte jedenfalls noch keine diverse Freiheit im Sinn. Sie waren noch Täter und Opfer der ersten Aufklärung, und dieser Zählung zufolge könnten sich die (post)modernen Intellektuellen unserer Tage und deren Nach- und Mitläufer der liberalistischen Revolution als Täter und Opfer einer dritten oder vierten Aufklärung verstehen,- könnten nicht nur, sie tun es auch.

Nicht die Gefährdung der Meinungsfreiheit, sondern deren umfassende und alles durchringende Verwirklichung wäre demnach das strategische Ziel der liberalistischen Folgeaufklärungen? Aber kann Freiheit Sünde sein?

Käme die (post)moderne Selbstmultiplikation der Freiheit allein aus dem Begriff und Prinzip der Freiheit, wäre allein die Philosophie zuständig, die Gefahren, Wege und Aporien einer sich endlos befreienden Freiheit zu klären. Freiheit könnte so dämonisch sein wie die Vernunft in den Händen von Marat und Robespierre.

Weil aber die jeweiligen Instrumente, mit denen sich Freiheit geschichtlich anwendet und verwirklicht, stets andere werden und sind, fällt dieser Aspekt primär in das Feld der realen Geschichte der Menschheit.

(Beide Aspekte – der philosophische und der geschichtliche – harmonieren selten, und wenn, dann meist unter falschen Vereinigungsvorzeichen: Der freie Naturdenker Rousseau war den Revolutionären von 1789 mehr als ein Gott der Philosophen, Marx war den Leninisten mehr als ein Vernunftdenker. – Dabei hatte Platon die Tragikomödie des Philosophen als Politiker bereits „unsterblich“ in Syrakus (388, 366 und 361 v. Chr.) vorweggenommen. – Besser daher, die einander Unversöhnbaren trennen sich zu gegenseitiger Ignoranz: Aristoteles wußte viel über Freiheit und Politik zu sagen, doch über das aktuelle Global-Projekt Alexander schwieg er sich aus. Als wollte er die aktuelle weltgeschichtliche Wende (ab Chaironeia 338 v. Chr.) vorerst einmal abwarten, um deren Früchte post fest kommentieren zu können. – Hegels Eule der Minerva versuchte ein ähnliches Spiel, das die Hegelsche Linke und Marx zum Widerstand reizen mußte.)

Wie und wodurch sollte Freiheit jemals in Unfreiheit umschlagen können, und mit der umgeschlagenen Freiheit zugleich die moderne Demokratie in noch unbekannte Formen unregierbarer Anarchie und als Reaktion darauf in noch unbekannte Formen moderner, vermutlich technologischer Diktatur? (Wenn wir die importierte Gefahr eines islamischen Gottesstaates in Europa für einen Moment vernachlässigen, ebenso das Desaster einer europäischen Schuldenunion und hyperinflationären Weltwirtschaft.)

Existentialisten haben die liberalistische Version der Freiheit seit jeher befürwortet. In ihrem Gefolge loben moderne Intellektuelle die Diversion der Diversität und freuen sich darüber: „Ich bin Viele.“

Aber sie unterschätzen das Problem: wie zuviele Hunde des Hasen Tod sind, könnten zuviele verschiedene Freiheiten und Identitäten jeder Orientierungssuche den Garaus gemacht haben, noch ehe die (demokratische) Suche organisiert und begonnen wurde. Und wenn sich dieses Problem mit den Problemen einer technologischen Gesellschaft verbindet, deren Meinungskultur zu grenzenloser Vielfalt führt, dann befinden wir uns bereits mitten im angekündigten Umschlagsgeschehen: In den medialen Erregungsgesellschaften der Gegenwart sind die Eigentümer der sozialen Medien, (Privatfirmen im Rang digitaler Großkonzerne), die neuen Gutsbesitzer, die neuen Herren ihrer digitalen Leibeigenen.

Wie groß war die Vorfreude am Beginn der digitalen Kulturrevolution: Endlich jeder mit jedem vernetzt, endlich erhält jeder Mensch ein digitales Organ als Posaune, die sein Meinen noch am entferntesten Ort „zeitgleich“ verkünden wird, und daher: Was für ein Gewinn für die freie Demokratie, deren liberalistischer Fortschritt schien gesichert für Jahrtausende. Droht unser „Gesamtkunstwerk“ zu explodieren, weil es implodiert?

Jedenfalls hat sich die scheinbare Harmlosigkeit der Anfangsfrage in ihr Gegenteil verkehrt: Ob einer und welcher Zusammenhang zwischen dem Projekt EU und den liberalistischen Projekten der modernen westlichen Gesellschaft und Kultur besteht?

Leo Dorner, Jänner 2021