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2 Wissenschaft und Religion

A.
Für den wissenschaftlichen Geist des modernen Menschen muß auch seine eigene
Religion, die christliche seiner Kindheit oder wenigstens seiner Freunde und
Mitmenschen, ein Objekt des wissenschaftlichen Interesses werden. Folglich
erscheint sie ihm verkommen zu einer Zivilreligion, aber diese Verkommenheit ist
nichts als das genaue Spiegelbild seiner eigenen Weggekommenheit von Religion als
nichtwissenschaftlicher Lebensform und Wissensweise.

Doch am Beginn des 21. Jahrhunderts, nach gut zweihundertjährigem
Säkularintermezzo auf dem Gelände der Ersten Welt, muß dieser moderne Mensch
der Wissenschaften feststellen, daß immer wieder „Renaissancen des Religiösen“ zu
beobachten sind, verstärkt seit den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts. Darüber
beruhigt ihn sein Wissen von und über Religion: Stets nur neue Varianten von
Zivilreligion könnten erweckt werden, diesmal eine
„Sinnesgesellschaft“, in der sich der unbehauste moderne Mensch, dem das Forschen
und Erkennen der Wissenschaften nicht sinntaugend genug ist, in die Mutterhöhle
der religiösen Riten und Gemeinschaften zurückbegebe, um Gemeinschaft als höhere
und höchste zu erleben.

Statt in sich selbst den Feind der Geborgenheit und die Ursache der Unbehaustheit zu
erkennen – und auch nicht konsequent genug (wie die alten marxistischen und
materialistischen Religionskritiker auf den Wegen von Marx und Nietzsche), die
Religion als globales Übel, als Krankheit und Menschheits- Seuche zu denunzieren,
sinnt der moderne homo scientificus auf ein entleertes neomarxistisches Argument,
um den wahren Feind und die wahre Ursache auszuspähen: den global
triumphierenden Kapitalismus. Dieser sei der wahre Teufel, alles Religiöse nur dessen
Beelzebub.

Der Kapitalismuskritiker neuer Religionskritiker kann nun zwar klagen über seine
Ohnmacht und über sein Nichtwissen darüber, wie dem verdoppelten Entfremdungs-
Übel zu begegnen wäre. Darüber, wie es gekommen und immer wiederkommend sei,
daß die modernen aufgeklärten Wissenschaften nicht mächtig genug sind, das
Weltübel zu beseitigen und zu heilen, nicht aber kann er klagen über sich selbst und
sein Wehe. Jede Kultur, jede Weltanschauung, jede Ideologie erkennt den Beelzebub,
den sie verdient.

Konsequent liest er alle Äußerungen und Innerungen des Religiösen nach dem
Muster der kapitalistischen Fetischisierung innerweltlicher Sinnangebote als
letztmöglicher: Die Sinnesgesellschaft Religion funktioniere dem Marketing einer Heil-
Produkte-Firma gemäß, und schon deshalb seien beide desselben Übels Kinder, und
der „globale Kapitalismus“ siege zu Recht auf ganzer Front.

Da ihn jedoch die bürgerlichen Vorväter seiner soziologischen Weltsicht immer noch
daran erinnern, daß sich der Kapitalismus einer christlichen Askese verdankte, somit
letztlich der Beelzebub Religion in einer verkehrt laufenden Weltgeschichte den Teufel
Kapitalismus am Ende der Neuzeit in diese Welt gesetzt habe, weiß er seit dem Ende
des globalen Kommunismus nicht mehr ein noch aus. Denn etwas anderes als eine
innerweltliche Heilserwartung – Forschen, Erkennen, Wissen – kann auch seine
Wissenschaftsreligion nicht im Sinnköcher haben.

Der Säulenheilige der Wissenschaft – beispielsweise Max Weber – läßt ihn gleichsam
verhoffen, denn zum Verzweifeln am Zustand von Welt ist er allzu saturiert und
pazifistisch, und zum Transzendieren seiner Welt-Perspektiven ist er allzu
wissenschaftlich und weltverbohrt. Daher teilt er uns hoffnungsfroh verzweifelt mit:
die Freude an der Erkenntnis und ein privates Lebensglück seien ihm Religion genug.
Zwar sei Erkenntnis dieser Welt immer auch schmerzhaft, doch Aufklärung ohne
Schmerz sei ohnehin keine.

B.
Eine endliche Welt ist eine entfremdete, und eine doppelt entfremdete wird zur
sinnlosen Welt. Und dies müsse man erkennen und wissen. Offensichtlich haben wir
die antike Stoa mit schwachen modernen Organen und Gliedern wiedergeboren. Eine
kaum gehfähige Stoa daher, ein kaum lauffähiges Epikuräertum. Nie lebte der
Mensch von seinem göttlichen Wesen abgekoppelter. Die nächste Ankoppelung wird
daher tiefer und intensiver als alle bisherigen sein (müssen).

Fragen wir unseren homo scientificus, wie er es halte mit seinem Weiterleben und
seiner Vervollkommnung nach seinem Tod, hören wir zuerst das altgediente
Ensemble Feuerbachscher Antworten: eigene Kinder, eigene Bücher, eigene Schüler
und überhaupt sein „System“ lebe fort und trage sein Fortleben im Gedächtnisbauch
der Menschheit weiter.

Dann aber auch ein Lob der säkularen Welt, auch der „westlichen Kultur und
Gesellschaft“, die schon so oft – von wem wohl? – für nicht überlebensfähig erklärt
wurde, und trotz unzähliger prophezeiter Untergänge nicht untergegangen sei.
Diese Kehrtwende vom verschworenen Kapitalismushasser zum begeisterten
Pantoffelhelden des neuerdings „globalen Kapitalismus“, diese Verwirklichung der
innerweltlichen Utopie eines Feuerbach bei gleichzeitig vorgespielter Weltverachtung,
diese Synthese strahlt aus dem Lächeln von Nietzsches überlegen lächelndem
Übermenschen.

Hat er das Glück im Unglück, seinen „festen atheistischen Glauben“ auch noch
weltgeschichtlich rechtfertigen zu können, weil er doch jener Nachkriegsgeneration
entstamme, die auf den Trümmern des zerstörten alten Europa aufwuchs, ist sein
Welt- und Selbsterklärungssystem geschlossen und unwiderlegbar geworden. Im
nächsten Atemzug wird er uns mitteilen, daß die moderne Gesellschaft an höchste
Wahrheiten nicht mehr glaube, sei höchster
Freude Anlaß, denn ausgeschlossen seien damit Religionskriege durch fanatische
Dogmatiker. Stattdessen haben wir die Zirkulation der Werte, mal die Arbeit und die
Selbstverwirklichung, mal die Grünen und den gesunden Wald.

Der heutige Säulenjunge der Wissenschaft kann weder seine Kehrtwenden als solche,
noch seine Widersprüche als solche, noch seine Aporie als solche erkennen. Denn die
postmoderne Beliebigkeitsmoral verkündet ihre späte Entdeckung: wir sind in der
Sackgasse, darum laßt uns darinnen auf und niedergehen, so vergessen wir, wo wir
sind, so bleiben wir, wie wir immer waren. Nur im Abseits ist gut leben und sterben.

Der Soziologe spricht uns gut und gutmütig ins Gewissen: ob jemand rituell am Life-
Style der neuesten Produkte, Stars und Lebensphilosophien oder an religiösen Riten
und Kulten teilnehme, das sei ganz und gar einerlei. Denn was in einer säkular
gottlosen Welt zum Gottesersatz erhoben werde: Fußballverein, Geld, Spiel, Sex,
Rausch, Erfolg, Selbsterfahrung: dies ist nur der stets wechselnde und gänzlich
permeable Stoff, aus dem der „globale Kapitalismus“ und die „formelle Demokratie“
ihre wahrheitslosen Menschen spinnen und gestalten. Deren letzte Wahrheit ist, daß
keine letzten Wahrheiten existieren.

Die Defizite der postmodernen Beliebigkeitsfreiheit sind Legion und nicht mehr
aufzählbar. Nicht nur widersprechen sie den universalen Moralitäts- und
Legalitätsprinzipien der Ersten Welt in ihrem Kampf um die Befreiung der ganzen
Welt; auch das neue Europa wäre verloren, wenn es sich Beliebigkeitsphilosophien
ohne fundamentales Gerüst erwählte, um in den Stürmen des 21. Jahrhunderts
durchzukommen.