67 Die Gezeiten der modernen Zeiten
Noch ein Blick in das ausgestorbene Konversationslexikon
Werfen wir einen Blick in die Konversationslexika des 19. Jahrhunderts, um zu prüfen, was man
in dieser nahvergangenen Zeit über Raum und Zeit dachte, – welchen allgemeinverbindlichen
Begriffen von Raum und Zeit der damalige Zeitgeist sich verpflichtet wußte -, erleben wir einen
„Kulturschock“: Die Zuversicht der damaligen Artikel-Schreiber, allgemeine und verbindliche
Begriffe über Zeit und Raum liefern zu können, ist mittlerweile vollständig zerstoben und in viele
Sonderbegriffe zerteilt und aufgelöst.
Offensichtlich war es damals noch einmal möglich, unter der unterbewußten Federführung einer
Philosophie, die nach kaum mehr als drei bis fünf Richtungen zählte, das Bildungsgut „allgemeine
Konversation“ über gemeinsame Phänomene erfolgreich zu organisieren und auch für Buchverlage
lukrativ zu gestalten. Es gab eine Mehrheit gemeinsamer Phänomene, über die eine alle Stände
übergreifende und verbindende Konversation für möglich gehalten wurde.
Der damalige kulturelle Small-Talk mußte allerdings noch ohne telegene Talkshows auskommen, –
noch regierte das Buch der Gelehrten, Dichter und Denker als Leitmedium einer Kultur und
Gesellschaft, die eine primär lesende und schreibende gewesen sein muß.
Diversifizierte Begriffe für User
Betrachten wir „Zeit und Raum“ heute, fällt unser erster Blick auf das Angebot von „Wikipedia“:
Der digitale Erbe der ruinierten Lexika-Tradition geht von radikal „diversifizierten“ Begriffen aus,
denn je nach Wissenschaft(en) oder Nichtwissenschaft(en) werden „Informationen“ über Zeit und
Raum „vorsortiert“ und neben- oder besser übereinandergestapelt. Welchen Begriff von Zeit und
Raum der „geneigte User“ sich zu Gemüte führt, bleibt seinen Vor- und Nachlieben überlassen. Der
selbstverständliche Appell, die reiche Vielfalt zu nutzen („usen“) und zwischen den Artikeln
verschiedenster Sortimente „frei zu wählen“, muß nicht mehr eigens erwähnt werden.
Wikipedia definiert sich als „freie Enzyklopädie“, weshalb prinzipiell jeder Interessent, der sich des
Schreibens von Beiträgen für fähig hält, als Autor willkommen ist. Es soll aber dennoch kundige
Redaktionen geben, die über das Sortiment der eingehenden Texte Wache halten. Noch die freieste
digitale Demokratie liebt es nicht, mit gesetzloser Anarchie gleichgesetzt zu werden.
Aber noch eine weitere radikale Revolution hat unser Wissen über alles und nichts erfaßt: es wird
permanent verändert und erweitert. Die Zeit- und Raumartikel der ausgestorbenen
Konversationslexika wurden vermutlich von zwei oder drei Generationen gelesen, sie blieben auch
bei Neuauflagen der Lexika oft unverändert, schon weil sie die Bücherregale ansehnlich gefüllt und
den Besitzer als gutbürgerlich Gebildeten präsentiert hatten.
Heute, im Zeitalter der digitalen Permanenz-Veränderung, wird jeder Artikel von konkurrierenden
Artikelautoren oder Redaktions-Kuratoren auf seine Erneuerungsbedürftigkeit hin geradezu
dauerüberholt. Denn wir leben im Zeitalter einer Wissensexplosion, – obzwar mitten in einem
scheinbar ganz anderen Zeitalter von Bildungsnot und Bildungsverelendung.
Und manche Nachdenker wollen überhaupt herausgefunden haben, daß die heutige Menschheit
erstmals in mehreren Zeitaltern zugleich lebt. Das nächste klopfe bereits an die Tür des pluralistisch
diversifizierten von heute: Nur noch eine letzte Tabuschranke zwinge die aktuell werkenden
Wikipedia-Redaktionen, Artikeln von Autoren der „Künstlichen Intelligenz“, die man früher
vielleicht „Maschinenautoren“ genannt hätte, auszuschließen. Warum soll ein versiertes
Datenprogramm nicht besser als jeder Mensch in der Lage sein, die unübersehbar gewordene
Menge des weltweit gesammelten Wissens über Zeit und Raum übersichtlich zusammenzustellen?
In der heutigen (letzten?) Übergangszeit erscheinen Philosophie-Lexika manchmal in doppelter
Ausführung: In Druck- und in digitaler Form, damit auch der Besitzer und „User“ eines PCs in
Lage ist, das gedruckte Wort auf seinem „Bildschirm“ lesen zu können, – ein siegreicher
(Marktprodukt-) Name, der den richtigeren von „Textschirm“ erst gar nicht hat aufkommen
lassen. In diesen allerletzten Lexika einer langen Ahnengalerie finden wir üblicherweise einige
standardisierte Sätze auch über Raum und Zeit, die sich wie ein Echo aus Eintragungen in anderen
(letzten) Lexika ausnehmen.
Zwischen Alltag und „aussichtsloser Unternehmung“
Raum und Zeit lesen wir da, sind einerseits in aller Menschen Alltagsmund und Alltagswissen, –
eine Selbstverständlichkeit, über die jeder Mensch seine eigenen Begriffe mit sich herumtrage.
Anderseits sei es ein „aussichtsloses Unternehmen“, in einem Begriffe-Lexikon (auch der
Philosophie) zu versuchen, eine verbindliche Definition von Raum und Zeit vorzuführen.
Natürlich spricht man jetzt nicht mehr von so banalen Dingen wie von einer „Definition“, sondern
stattdessen (vollg,eschwurbelt) von einer – „informativen Explikation der Bedeutung von Raum
und Zeit“.
Doch leider scheint uns der Zugang auch zu dieser edlen Wissensware verwehrt zu sein: Was schon
heute „aussichtlos“ ist, wird in Zukunft noch aussichtsloser sein. Zu viele Wissenschaften sind wie
zu viele Köche in der hohen Haubenküche: Nur noch ein Einheitsbrei, der jeden verbindlichen
Begriff von Zeit- und Raum eher verhöhnt und deren Realität als beliebige Fiktion denunziert, wird
den Menschen der wissenschaftsdominierten modernen Kultur angeboten.
Weil Zeit und Raum wie viele andere Grundbegriffe der modernen Alltagskultur durch eine
babylonische Wissenschaften-Pluralität fragmentiert wurden und erodiert sind, geschieht es
zwangsläufig, daß sich eine große Mehrheit der aktuellen Menschheit jenen Wissenschaften
zuwendet, die es zu Massenpopularität gebracht haben. Begriffe, die bisher für Realitäten von
unproblematischer Wirklichkeit einstanden und dem Leben der Menschen Halt und Orientierung
vermittelten, sind nicht mehr. Fraglos dominiert heute beispielsweise in allen Fragen des Begriffs
der Zeit eine globale Phalanx physikalischer Zeittheorien, mit Einstein als Säulenheiligen einer
vier- und mehrdimensionalen Zeit, der in Deutschland, dank populärjournalistischer Mithilfe,
auch einen großen Schwarm interessierter Jugend animiert.
Und wenn sich gewisse lebensweltliche Dimensionen der Zeit nicht in physikalische Begriffe
übersetzen lassen und dennoch Nöte und Fragen aufwerfen, ist ein Heer von Beratern zur Stelle –
psychologische, psychotherapeutische, soziologische, biologische und andere Berater -, die den
bedrängten Zeit-Genossen zur Seite stehen.
Und die moderne Philosophie? Erschöpft sich ihr Beitrag durch sprachanalytisch „geschulte“ Texte,
die sich mit Wittgenstein die letzten philosophischen Zähne an den unübersehbar vielen
Bedeutungen der ominösen Worte Zeit und Raum ausbeißen?
Offensichtlich fristen nun Bücher mit fundamentalphilosophischen Zeitbegriffen ihr verkanntes
Dasein im Antiquarat für (nicht mehr verkaufbare) philosophische Bücher.
Zwei Zeitbegriffe rumoren am Grund aller anderen
In der babylonischen Wissenschaften-Pluralität der Gegenwart umgarnen uns widersprechende
Botschaften auch über das Wesen der Zeit. Diese scheint ein zunächst nur zweigeteiltes Wesen zu
sein: denn einmal „begegnet sie uns von außen“ als eine „objektive Zeit“, die uns auch als
„physikalische Zeit der Uhren“ vorgestellt wird. Doch irgendwie begegnet sie uns zugleich auch
von innen: denn eine „innere Zeiterfahrung“ könne kein Mensch leugnen, und diese verweise auf
die nicht-physikalische Zeit einer „inneren Zeiterfahrung“.
Wird nun der objektiven Zeit eine objektive Erfahrung zugeordnet, der inneren Zeit aber eine nur
subjektive Erfahrung, schon weil die Warteminuten beim Zahnarzt länger sind als beim
Fußballspiel, erhebt sich die Frage, ob eine objektive Erfahrung, die nicht zugleich auch eine
subjektive Erfahrung wäre, überhaupt möglich ist. Oder noch penibler: wodurch wird eine
objektive Erfahrung eigentlich „objektiv“? Um das Frage- und Antworte-Spiel abzukürzen und das
heutzutage mehrheitsfähige Resultat vorwegzunehmen: Was physisch gegeben ist und daher
physikalisch untersuchbar ist, das existiert objektiv: Alles andere jedoch, speziell aber
Erfahrungen, die sich als „innere“ vorstellen und auf einen inneren Sinn berufen, könnten auch
Fiktion und Einbildung sein. Ein Beweis ihrer Objektivität ist vorerst noch zur Fahndung
ausgeschrieben.
Aber diese einfache Zweiteilung der Zeit ist eine noch relativ harmlose Pluralität: Wenn wir ihr
vertrauen, folgt lediglich ein zweifacher Zustand von Zeit und Zeitlichkeit für alle Menschen: Sie
sind Teilhaber und Vollzieher einer physikalischen und einer psychologischen Zeit. (Die Analogie
auf das Existieren des Raumes in und außer uns, – als subjektiver Erlebnisraum und/oder
objektiver Real-Raum ist unvermeidlich.)
Der Bürger zweier Zeitenwelten
Aber als Teilhaber an der physikalischen Zeit sind alle Menschen, wenn wir unser astronomisch
erweitertes Weltbild nicht unterschlagen, Bürger vieler Zeitenwelten. Und nur die Tatsache, daß wir
unserer Erdzeit den Vorzug erteilen, weil wir nach der Bewegung und Geschwindigkeit des
Sonnenumlaufs unseres Planeten unsere Kalender und Uhrzeiten (trotz einiger Irregularitäten) aus-
und eingerichtet haben, erlaubt uns den selbstgeschenkten Luxus, in einer und nur einer
planetarischen Weltzeit zu existieren.
In Wahrheit ist die „Uhrzeit“ unserer Erde nur eine unter vielen, und in der Relation zum Kosmos
betrachtet, eine eher nur marginale „Weltzeit.“ Schon unsere Galaxie kreist nach einem anderen
Zeitplan um sich und durch den Kosmos, ebenso alle anderen (Myriaden von) Galaxien und deren
Sonnen und Planeten. Und selbst unsere „Nachbarsonnen“ wie Sirius und Verwandte sind nicht
gesonnen, dem Diktum unserer Sonne und einem ihrer auserwählten Planeten unter einer Handvoll
anderer Planeten zu folgen.
Und auch den Unterschied von „Teilhaben und Vollziehen“, den die physikalischen Zeittheorien
gern unterschlagen, sollten wir nicht ignorieren. Die Tageszeit eines Umlaufs der Erde um die
Sonne vollziehen wir nicht als körperliche „Mitflieger“, obwohl wir mit unserer Erde um die Sonne
mitkreisen und am Wechsel des Lichtes auch die physische Bewegung der Erdkörper bemerken.
Die Bewegung selbst bemerken wir aber nicht als physische Teilhaber, da wir nicht einmal die
eigene Rotationsgeschwindigkeit der Erde bemerken (können): Diese scheint stillzustehen, wenn
wir uns auf der ruhenden Erde mit unseren Eigengeschwindigkeiten (vom Spaziergänger aufwärts)
bewegen, indes die Erde niemals aufhört, mit etwa 1000 Kilometer in der Stunde um ihre Achse zu
rotieren.
Und obwohl unser physischer Mensch als realer Körper mit allen Himmelskörpern „mitfliegt“, ist
die Trennung von Teilhaben und Vollziehen unhintergehbar: Indem wir die sogenannte
Himmelsmechanik der sogenannten Himmelskörper, restringiert auf die Mechanik eines Planeten,
unseren Zeitmaßen zugrunde legen, ist dies nicht eine Wirkung unseres „Mitfliegens“, sondern die
Wirkung unseres (allerdings transzendentalen) Bewußteins und dessen Zeitbegriffs, der uns erlaubt
und nötigt, nicht ohne den Dauerwechsel von Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit „durch die
Zeit zu gehen.“
Dieses Bewußtsein ist allem („subjektiven“) psychologischen Bewußtsein vorausliegend wie
zugleich inliegend, wir müssen es als ein logisches Bewußtsein erkennen, das stets auf konkrete
Inhalte (nicht nur der Zeit) bezogen bleibt und auch beim Feststellen und Vollziehen fixierter
„Himmelsuhrzeiten“ immer schon die „Regie“, wenn auch nicht die alleinige übernommen hat, wie
der „Fall Ptolemäus“ beweist.
Der Fall Ptolemäus
Aber durch das Denken des transzendentalen Bewußtseins wissen wir, daß die jeweils individuell
gestalteten Bewegungen und Geschwindigkeiten der Himmelskörper nicht durch „direkte“
Abbildung oder „direkte“ Wahrnehmung etc. in unser Bewußtsein (das kein Fotoapparat und kein
Hörapparat ist) „hineinkommen“. Wenn wir die Himmelskörper mit unseren Augen oder
Teleskopen beobachten, sind die transzendentalen Kategorien immer schon am Werk. Wir
beobachten denkend, im konkreten (Himmelskörper-)Fall: immer auch mathematisierend, weil wir
die quantitativ bestimmten Relationen aller an der Bewegung beteiligten Faktoren transzendental
und mittlerweile auch empirisch einzusehen vermögen. (Wir können bereits Supernovae in unserer
und anderen Galaxien realistisch prophezeien.)
Und dennoch irrte Ptolemäus und mit ihm die Menschheit durch einige Jahrtausende? Man sah
nicht, was man schon vor Kopernikus (und dessen vermutende Vorläufer in der Antike) hätte sehen
können: daß sich nicht die Sonne um die Erde, sondern diese um jene bewegt? Allerdings. Aber
der Irrtum des Ptolemäus klärt uns auch über den Irrtum der ins christliche Mittelalter tradierten
philosophierenden Antike auf, die ihre Fassung des transzendentalen Bewußtseins als alleinigen
Wissensgrund für alles Wissen über das Universum auffasste.
Wäre diese Auffassung durchführbar, hätten wir ohne die Entdeckungen der empirischen
Wissenschaften entdecken können, was wir nur durch Fernrohre, Teleskope und andere empirische
und stets mathematisierende Wissenschaften entdecken konnten.
Weder reine Mathematik, noch reine (formale) Logik eines nur durch selbsterzeugte Begriffe
amtierenden transzendentalen Bewußtseins konnten den mächtigen Ptolemäus niederzwingen. Und
am wenigsten waren dazu Kirche und Theologie des Mittelalters fähig, die sich als ahnungslose
Mitläufer schuldig machten, indem sie das ptolemäische Weltbild mit einer gottgegebenen
Offenbarung verwechselten.
Aber trotz dieses längst entschiedenen Kampfes gegen Ptolemäus und die Seinen ist die vorhin
genannte Trennung von Teilhaben und Vollziehen beim Feststellen und Festlegen von verbindlichen
Zeitmaßen unhintergehbar. Überaus glücklicher- und dankenswerterweise sind körperliche
Vollzugsteilhabe („Mitfliegen“) und transzendentaler Vollzug (Erkenntnis durch kluges Köpfchen)
absolut getrennt und unhintergehbar. Wir können uns noch so anstrengen, durch neue
(„vieldimensionale“) Zeitbegriffe eine von der Menschheit unabhängige „objektive“ Weltzeit
ausfindig zu machen, wie wir auch niemals Himmelskörpern begegnen werden, die ihre Umlauf-
Zeiten mit der eigenen Uhr in der fiktiven Hand vermessen und befolgen.
Was uns zu Teilen der Bewegungen aller Himmelskörper werden läßt, (unser Körper „fliegt“
beispielsweise mit unserer Galaxie auf den Großen Attraktor „ohne zu säumen“ zu) ist nicht das,
was uns ermöglicht, Eigenzeiten von Planeten(-Bewegungen) und prinzipiell allen anderen
kosmischen Bewegungssystemen von Sonnen und Galaxien bis hin zur Expansion des gesamten
Universums als Grundlagen von „Uhrzeiten“ festzulegen.
Und dazu kommt noch ein wesentlicher und oft übersehener Irrtum der physikalischen
Zeittheorien: Auch in den legendären Raumschiffen Einsteins wird die biologische Eigenzeit des
menschlichen Körpers nicht durch eine „rasante Geschwindigkeit“ von künstlichen
Himmelskörper- Geschwindigkeiten (Raketen) außer Kraft gesetzt. „Zwillingsschwestern“, die von
der Erde gleichalt starten, dann aber als Gäste verschieden rasch fliegender Raumschiffe einander
an Lebenszeit überholen, sodaß die Zukunft der einen schon unerreichbar entwichen ist, während
die Gegenwart der andern noch in ihrer Kindheit spielt, sind unterhaltsame Spiele für
Astrophysiker, mehr nicht.
Und selbstverständlich ist auch die biologische Eigenzeit des Menschen keine nur innere, keine
nur subjektive oder nur „psychologische“ Zeit, obwohl das Klagen des Menschen über sein
Altwerden vermutlich so alt ist, wie das Alter der Menschheit selbst. (Biologische und
psychologische Zeit sind im und für den Menschen untrennbar, aber niemals identisch, weil jeder
Mensch seine Lebenszeit immer auch frei- individuell – erfährt und daher mehr oder weniger
bejammert.)
Als ausschließlich physikalische Zeit müßte die Zeit eigentlich nach übersehbar vielen und sehr
verschiedenen Bewegungen und Geschwindigkeiten der Gestirne „gestaffelt“ sein. Weil wir uns
aber, wie gezeigt, streng und ausschließend an nur eine planetarische Bewegungsart und
Geschwindigkeit halten, bleibt uns eine Zeiten-Vielfalt, die zu einer katastrophalen Desorientierung
der Menschheit führen würde, erspart.
Wer subordiniert wen?
Den physikalischen Zeittheorien steht eine große Anzahl nicht-physikalischer Zeittheorien
gegenüber, und zwischen beiden scheint entweder ein unüberbrückbarer Abgrund zu liegen, oder
eine der beiden Seiten subordiniert sich die andere: für den überzeugten Vertreter der
physikalischen Zeit ist alle sogenannte „innere Zeit“ nichts als ein durchschaubarer Reflex einer
„äußeren Naturzeit“, die auf die Bewegungsarsenale von Planeten, Sonnen und Galaxien usf.
verweist.
Für die Verfechter der Theorie eines „inneren“ Zeitbewußtseins (ein obskurer Ausdruck) gilt das
Gegenteil: daß und wie beispielsweise die drei Zeitdimensionen für das Universum gelten, halten
sie für begründbar. Folglich auch eine universale Gleichzeitigkeit aller Systemzeiten (der
Galaxien, der Sonnensysteme, der Planeten-Mond-Systeme usf.), die wir als geborene Nicht-
Einsteinianer ohnehin als selbstverständlich annehmen. Was für uns in der Zeit erscheint, kann uns
nur in einer gleichzeitigen Zeit erscheinen.
Diese Gleichzeitigkeit gilt auch für extrem fernliegende Systeme, weil wir exakt wissen, vor wie
vielen Millionen Lichtjahren das Licht der unermesslich weit entfernten Galaxien an uns abgesandt
wurde. Mögen diese daher in unser heutigen Jetztzeit nicht mehr existieren, weil sie das „Zeitliche
längst schon gesegnet haben“, existiert doch diese vielleicht schon erreichte Nichtexistenz
gleichzeitig mit unserer gegenwärtigen Existenz. Wir wissen lediglich nicht, ob die fernen Welten
noch oder nicht mehr existieren. Aber wir reservieren ihnen kein eigenes Zeitabteil im Zug des
Kosmos.
Ein physikalistischer Zeitendenker, der das relativistische Zeitdenken seiner Säulenheiligen
verinnerlicht hat, muß dem widersprechen: Jede Galaxie, jedes Sonnensystem und sogar jeder
Planet verfügen über ein eigenes Zeitabteil: Wohin man blickt: nichts als (unübersehbar viele)
„Zeitzonen“, nirgendwo auch nur ein Rest von gemeinsamer kosmischer Weltzeit.
Dagegen stellt sich unser altmodischer Anti-Einsteinianer bereits vor, wie sich eine in den
nächsten Jahrhunderten interplanetar vernetzte Menschheit im System von zwanzig und mehr
(Planeten-)Zeitzonen arrangieren wird: Zwischen Erde, Mars und Pluto sowie Saturn und
den unzähligen Monden anderer Planeten pendeln die neuen Raumschiffe hin und her und
planen rechtzeitig die richtigen Ankunfts- und Abflugzeiten der nächsten „Landehäfen“ ein.
Und „natürlich“ tragen die Flugkapitäne eine Armbanduhr, die sich bei jedem Ein- und Ausflug in und
aus einer der vielen Zeitzonen automatisch umstellt. Diese Generaluhr unseres Sonnensystems mag
fürs Erste genügen, sie wird aber nicht mehr genügen, wenn wir eines Tages das Nachbarsystem
von Alpha Centauri erreicht und erobert haben, um unter dessen vielen Planeten (und sogar
mehreren Sonnen) zielgerecht hin und her zu pendeln.
Epilog
Obwohl nun die äußere Zeit alias physikalische Zeit ein unendlich größeres Angebot an Zeituhren
anbietet als alle „inneren“ Zeitbestimmer des „inneren“ Bewußtseins der Menschheit, das immer
noch glaubt, mit drei fundamentalen, aber „altvorderen“ Zeitdimensionen operieren zu können und
zu müssen, und da überdies die physikalischen Zeitbestimmer und Zeitmesser an (physischer)
Intensität nichts zu wünschen übriglassen: wie erwähnt, rotiert unser Planet samt Oberfläche mit
mehr als tausend Stundenkilometern und lädt uns dennoch jederzeit zu einem erholsamen
Spaziergang ein. Auch deshalb sind wir als Ewiggestrige und geborene Wissenschaftsbanausen
überzeugt, daß unser dreidimensionales „inneres“ Zeitbewußtsein nicht nur mit unserem Handeln,
sondern auch mit unserem Selbst- und Weltverständnis (das wissenschaftliche nicht
ausgeschlossen!) primär und fast ausschließlich verbunden ist.
Nicht durch eine Brücke, nicht durch einen äußeren Vermittler, nicht durch einen Boten und Sender
verbunden, sondern unmittelbar verbunden. Dieses Faktum kann auch Einstein nicht verborgen
geblieben sein, auch wenn er vielleicht einen Blick auf seine Uhr zu Hilfe nehmen mußte, um
festzustellen, daß während oder nach seiner Arbeit an den Geheimnissen und Gesetzen seiner
vierdimensionalen Raumzeit, das Jetzt der Zeit die bekannten drei altvorderen („trivialen“)
Dimensionen der Zeit unaufhörlich gewechselt haben mußte. Jedes gegenwärtige Jetzt, das soeben
noch ein künftiges war, wurde von einem vergehenden verschlungen und zu realer Vergangenheit
umgebettet.
Und dieser „Chronos“ funktioniert überall im Universum, wo Menschenwesen autark und autonom
herumspazieren, gleichgültig ob sich der Himmelskörper unter den Füßen des chronisch
(trinitar-)zeitlichen Menschen rasch oder langsam durch das All bewegt. Es sei denn, es gäbe
andere, „ganz andere“ Wesen, – menschen(un)ähnliche Wesen, deren Augenblicksakte völlig
anders ticken. Eine Möglichkeit, die uns unsere natürlichen Tiere als Wirklichkeit vorführen: Ihre
Zeit verharrt in einem unbeweglichen Augenblick, den Nietzsche auf den nicht unpassenden
Namen „Pflock des Augenblicks“ taufte.
Mit anderen Worten: Im tiefsten Grund der modernen Zeiten-Vielfalt begegnet der Chronos
unserer trinitarischen Zeit den Chronen unserer physikalischen Zeiten, deren prinzipielle Pluralität
aufgezeigt wurde. Diese prinzipielle Pluralität hat auch Einstein umgetrieben und zur Findung
einer zunächst (nur) vierdimensionalen Raumzeit animiert. Nicht hat ihn die Frage interessiert, wie
und ob die trinitarische Zeit mit den physikalischen Zeiten bzw. diese mit jener vereinbar sein
könnten.
Leo Dorner, April 2023