11 Weltgeschichte und Heilsgeschichte
A.
Heilsgeschichte ist das Hereinwirken eines Gottesreiches in die
Unheilsgeschichte der Menschheitsgeschichte. Die Heilsgeschichte ist selbst
noch teilweise unheilvoll, wenn sie der Verwaltung gegensätzlicher Religionen
überantwortet ist, die sehr verschiedene Inhalte und Traditionen als
heilbringende verehren und tradieren müssen. Ist das ganze Heil vorerst noch
in verschiedene und einander ausschließende Teil-Heile geteilt, ist das Ganze
des ganzen Heils noch nicht in Verwaltung genommen.
In der Sicht der Religionen ist Weltgeschichte kaum mehr als die jeweils
geschichtliche Gestalt von Religion in den einzelnen Stadien der stammes-,
national-, oder übernational verfassten und sich fortentwickelnden
Menschheitsgeschichte. Diese sei die Hülle von jener als Kern. Das Unheil der
Menschheit scheint in dieser Perspektive nur aus dem unheiligen Geschick der
Weltmächte zu kommen, weil die Heilsmacht der Religionen mit dem ganzen
und endgültigen Heil des Gottesreiches identifiziert wird; – obgleich, bei Licht
besehen, stets nur die eigene Religion mit dem allerheiligsten ganzen Heil
gleichgesetzt wird.
In der Sicht des modernen Atheismus ist Heilsgeschichte kaum mehr als das
unaufgeklärte Gespinst vormoderner Ideologien, und das Unheil der
Menschheitsgeschichte kommt in dieser Perspektive sowohl aus der
scheinhaften Realität einander rivalisierender Religionen wie zugleich aus der
vermeintlich einzig wirklichen Realität der jeweiligen Weltmächte, die
unausweichlich und unerbittlich um die Verwaltung der aktuellen
Weltherrschaft kämpfen müssen. In dieser Sicht kämpfen die Religionen einen
illusionären Kampf um eine fiktive Gottesherrschaft, die politischen Mächte
jedoch den einzig wirklichen Kampf um die einzig wirkliche Weltherrschaft.
Diese sei der Kern und das Ganze, jene nicht einmal Hülle.
Existierte die Menschheitsgeschichte in der Tat allein nur als Weltgeschichte, als
Kampf um die Weltherrschaft im Großen und im Kleinen, im Ganzen und in
allen Teilen, wäre dies der erste und letzte Sinngrund von
Menschheitsgeschichte. Es regierte rechtens und unanklagbar das Spiel der
Mächte, der endlose Kampf von Siegern und Besiegten, der Triumph der
Regierenden über die Regierten, – und überdies noch die unbezwingbare Macht
des Zufalls. Die Weltgeschichte wäre das Monster, als das sie dem modernen
Menschen zumeist erscheint: ein ebenso grandioses wie erbärmliches
Geschehen, – schlechthin jenseits von Gut und Böse, von Heil und Unheil, von
Wahrheit und Unwahrheit. Ein ständig tagendes Weltgericht, das gleichwohl
seine Urteile von gestern heute widerruft.
Jede Klage über Unheil und Unglück der Menschheit wäre nicht nur relativ, sie
wäre absolut sinnlos. Und nicht einmal behaupten könnte man, ein
Wahnschicksal halte die Menschheit seit Anbeginn und noch weiterhin bis an
deren Ende im Würgegriff, weil der Unterschied von Wahn und Nichtwahn eine
weltexterne, eine illusionäre Einführung und Erfindung eines weltlosen
Denkens wäre. Eine rein weltliche Geschichte ist auch wirklich nur eine Welt-
Geschichte: von Menschen für und gegen Menschen gemacht; und zwischen
jenem „für“ und diesem „gegen“ vermittelt und richtet keine göttliche
Gerechtigkeit, kein Heil, kein Sollen und kein Sein. Jedes Welttribunal wäre ein
nur menschliches, ein nur geschichtliches; der Satz: „Irren ist menschlich“,
entblößt seine teuflische Fratze.
Weil die moderne Perspektive ihren säkularen Prämissen nicht entrinnen kann,
sie wäre sonst moderne nicht mehr, muß sie an den rein weltlichen Gang von
Menschheitsgeschichte auf Gedeih und Verderben glauben. Ein Glauben, der
vom Gedeih und Verderb der zweifelhaften Gesellen Optimismus und
Pessimismus abhängt. Deren Glauben ist ebenso blind wie ihr Unglauben.
B.
In dieser Verzweiflung über einen nichtvorhanden geglaubten Sinn von Welt
und Geschichte beruhigt sich das säkulare Gemüt des modernen Menschen
durch den wissenschaftlichen Aberglauben an eine Evolutionslogik, die das
Ganze schon richten werde, weil sie es immer schon (aus- und ein)gerichtet
habe: als sich selbst organisierende Materie, die souverän mit der
Milliardenanzahl möglicher Zufälle in jedem Augenblick der Natur- und
Menschheitsgeschichte umzuspringen wisse. Eine Schein(er)lösung, die
lediglich die Verzweiflung über den Verlust von Sinn und Zweck des ganzen, des
geteilten und des individuellen Lebens übertüncht.
In der evolutionistischen Sicht des modernen Bewusstseins erscheint schon das
Wesen von Religion als Ruine einer vorwissenschaftlichen und daher
vorrationalen Stufe von Geschichte und Menschheit. Nur eine Frage der Zeit,
und der letzte Ruinenbewohner werde in der Gegenwart angekommen sein.
Die vermeinten Ruinenbewohner im Gegenzug meinen, dass die säkularen
Bewohner der Moderne in unbehausbaren Häusern hausen, in dächer- und
schutzlosen, in letztlich sinn- und zwecklosen, jedem nur möglichen Unheil und
Unglück wehr- und erbarmungslos ausgeliefert.
Während die Weltgläubigen an Kausalitäten des Geschehens von Welt und
Geschichte glauben, die allesamt das Gesetz einer universalen Evolutionslogik
heiligen sollen, glauben die Reichsgläubigen an ihren Fundus von Heiligen Schriften, Ursprüngen, Offenbarungen und Traditionen.
Die Dekrete der Wissenschaft stehen gegen die Dekrete der Religion: in einer
und derselben Welt zwei verschiedene. Dort die Verwalter und Entwickler eines
ultimativen wissenschaftlichen Welt- Wissens, hier die Verwalter und Entwickler
heiliger Anfangs- und Endgeschichten, denen jahrtausendjährige
Wirkungsgeschichten entsprangen. Drei monotheistische Religionen nebst
einem großen Schwarm weiterer Religionen; wenigstens drei stets führende
Wissenschaften der Weltnatur nebst einem großen Schwarm weiterer
Wissenschaften derselben Weltnatur. Und kein Stuhl zwischen beiden Welten
frei.
Vorausgesetzt nun, ein Reich Gottes existiert und es ist der Geschichte der
Menschheit als eschatologische Finalität präexistent: Welche Fragen ergeben
sich aus dieser Prämisse für das Reich der Geschichte, dessen reale Existenz
nicht vorausgesetzt zu werden pflegt, weil sie als selbstevident vorausgesetzt
wird?
Erste Hauptfrage: wenn ein Reich des Ewigen präexistiert, warum nicht in
ewiger – unveränderlicher – Relation zu Welt und Menschheit? Warum eine
Geschichte und Entwicklung von Religion und Religionen, noch dazu eine, die
kein Blutvergießen und Menschheitsverbrechen scheut, und die auch innerhalb
jeder Religion eine Unzahl an Spaltungen und Richtungen, Schismen und
Glaubenskriegen als Stigma der Menschheitsgeschichte vorführt?
Ist das Reich des Ewigen das Reich der absolut und endgültigen Wahrheiten,
könnten und sollten dessen Inhalte und Machtansprüche doch nur durch
Institutionen verwaltet und weitergegeben werden, die sich einer zumindest
analogen Ewigkeit in ihren Verwaltungsgesetzen und –organen, in ihren
Geboten, Gesetzen und Handlungen befleißigen. Wie wir das Kleine-Einmal-Eins
nur durch kongeniales Nachrechnen verwalten und tradieren, durch
Nachvollzug eines Vorvollzugs die Macht des algebraischen Logos nutzen und
genießen können, nicht anders sollte unsere Verwaltung des Reiches der
ewigen Wahrheiten funktionieren.
Wenn sich das Ewige in den Religionen ewig inkarniert, wie deren Verwalter
wahrheitserfüllt melden, darf für das Erscheinen des Gottesreiches nicht in
Anspruch genommen werden, was für das Erscheinen der Weltgeschichte
selbstverständlich ist: Bewegung aller weltlichen Mächte von Anbeginn, obwohl
gerade die evolutionistische Perspektive über das Warum der geschichtlichen
Bewegung stets nur die bekannten Banalitätsansichten mitzuteilen pflegt: das
Stärkere und das Komplexere obsiegt und obwaltet, ohne daß die Inhalte des
Stärker- und Komplexerseins aus der „Evolution“ selbst abgeleitet werden
könnten, weil sie mit dieser tautologisch gleichgesetzt werden.
C.
Angesichts der doppelten Selbstwidersprüchlichkeit dieses religiösen
Wahrheitsanspruchs – viele Religionen, und jede Religion in sich nochmals
vervielfacht – beruhigt sich der evolutionistisch vorstellende Geist mit der
geglaubten Annahme, alle Welt-Geschichte stets nur als
Fortsetzungsgeschichte der sogenannten „Geschichte der Natur“ und
womöglich des Universums ansetzen zu können, als Fortsetzung von dessen
„Evolution“ mit anderen oder denselben Mitteln. Weil Natur und Materie so
wollten, müssen Menschen, diese höchsten oder niedrigsten, diese stärksten
oder schwächsten Teile der Natur, ungemütlich leben und handeln, verzweifelt
denken und sterben.
An dieses „Weil“ ergeht die zweite Hauptfrage: warum wollte das Universum
einen Streich mit uns spielen, dessen Spielregeln jenseits von Gut und Böse
erfunden wurden? Und darauf kann der säkulare Geist keine Antwort geben,
weil lediglich sowohl die (scheingeliebte) Zufälligkeit wie die
(scheingefürchtete) Notwendigkeit als Anfang und (Un)Sinn des Ganzen gesetzt
werden können, wenn eine „sich selbst organisierende Materie“ zum Alpha und
Omega des Weltganzen erhoben wird. Der weltschaffende Urakt könnte aus
Notwendigkeit zufällig oder aus Zufälligkeit notwendig gewesen sein, aber
über diese oszillierende Notwendigkeit, die eitel mit ihrem Gegenteil spielt,
kann kein höherer oder tieferer Grund angeführt werden, weil jeder die Grenze
des evolutionistischen Welt- und Menschenbildes sprengen würde. Weil es gar
kein „Weil“ gäbe, gäbe es weder Antwort noch Frage nach einem Grund, nach
einem Sinn, nach einem Zweck des Ganzen.
Eine sich selbst organisierende Materie, als Ur-Sache und Weltprinzip alles
Seienden auf den Thron gesetzt, muß alles, was durch sie geformt und
materialisiert wird, absolut von, durch und für sich haben, sie muß als erste
Ursache auch letzter Zweck alles Seienden sein, obwohl schon der Gedanke und
erst recht die Realität von Enzwecken in einer Welt, die durch und als materielle
Evolution definiert wird, nur als anathema einer sinnlosen Hypothese möglich
ist.
Kann aber über ein Welt-Wesen, das die Prinzipien seiner Selbstorganisation
gleichfalls selbst organisiert, erfunden und realisiert hat, nicht mehr gesagt
werden, ob es dabei zufällig oder notwendig verfährt, befinden wir uns im
tragischen Karneval einer verirrten Forscher-Ideologie. Zum einen muß alles,
was dereinst den Begriff und die Realität von Ontologie erfüllte, im Schlund
einer alles zeugenden und alles vernichtenden Weltmaterie verschwunden sein;
und zum anderen muß ebendaher die evolutionistische Welterklärung eine
Maske von Ontologie vor Auge und Mund führen, um auf den Märkten für
moderne Welterklärungen als alleserklärende Evolutionstheorie erscheinen zu
können.
Kann jeder Zufall auf Notwendigkeit, jede Notwendigkeit auf Zufall
zurückgeführt werden, haben wir Spielregeln eines mechanistischen Geistes
gefunden, der alle Welt mechanistisch denkt, um sie mechanistisch
beherrschen zu können. Eine Terminator-Genetik beispielsweise, die uns
befähigt, die Keime von Lebewesen während ihres Wachstums abtöten und
unfruchtbar zu machen, ist ein Spiel auf Tod komm raus, – die moderne
Variante des Spiels vom Teufel komm raus.
Es geschieht, was geschieht: wir, der Evolution vorläufige Letztstation, kreieren
durch notwendige Zufälligkeit und zufällige Notwendigkeit eine neue Natur,
eine neue Stufe der Weltmaterie. Nicht mehr nur neue Werkzeuge und
Maschinen, neue Wege und Türme, neue Erdbohrungen und Planetenreisen
werden möglich, sondern eine neue zweite Natur: neue Pflanzen, Tiere und
Menschen, die wir freilich noch umbenennen müssten, um sie ohne Vorwurf
und Anklage in Dienst und Arbeit nehmen zu können.
D.
Aus der Basis-Antinomie der Moderne: Es ist ein Gott; nein, es ist kein Gott,
resultiert die nächstfolgende Antinomie: es ist ein ewiges Sein eines ewigen
Gottesreiches, das ewig präexistiert; nein, es ist lediglich ein quasiewiges
Werden einer quasiewig sich evolutionierenden Welt(materie). Während die
Annahme eines wirkenden Gottesreiches in die Problematik eines ewigen
Wirkens inmitten einer radikal wahrheitslos sich verändernden Geschichte
führt, führt die Annahme einer evolutionären Weltmaterie als Alpha und
Omega in die Problematik nicht nur, sondern zugleich in die moderne
Lebensrealität, dass eine gottlose Gottheit sinnlos ist und wir in deren
Perspektive genötigt sind, alle Unterschiede zwischen Menschheits- und
Naturgeschichte und damit ohnehin zwischen Heils- und Weltgeschichte als
hinfällige tilgen zu müssen.
Besinnen wir uns auf ein Datum der Welt- und Heilsgeschichte, auf das Jahr 15
nach Christi Geburt, sehen wir das ewige Reich des Ewigen mitten in der
Menschheitsgeschichte unterwegs auf seiner via religionis; das Ewige
zerspalten in ein Gemenge teils widersetzlicher, teils einander gleichgültiger
Religionen, und dieses Gemenge wiederum unterwegs auf den Straßen und in
den altbekannten Stätten und Tempeln der damaligen Stammes-, Provinz- und
Imperial-Kulturen.
In Palästina eine jüdische Religion und Stammessozialität im unwiederholbaren
geschichtlichen Entwicklungszustand ihrer Provinzialität innerhalb eines
Römischen Imperiums, das als weltbeherrschendes Zentrum der damals
bekannten westlichen Hemisphäre seit kurzem unbestritten war. Dieses
Imperium verfügte, um als aktuelles
Weltherrschaftszentrum fungieren zu können, über die damals besten
politischen und militärischen Prinzipien und Kräfte, eine Überlegenheit, die
durch eine Kette von Eroberungen und Triumphen, deren keiner fehlen durfte,
beweiskräftig und geschichtsmächtig geworden war.
Somit trifft in Palästina das Reich des Ewigen auf ein aktuelles Religionsreich,
genauer: es trifft sowohl auf ein aktuelles Religionsreich wie auch auf ein
aktuelles Weltreich, somit auf zwei Partikularitäten der Welt- und
Religionsgeschichte, und dies in somit selbst partikulärer Weise. Denn mag die
jüdische Religion auch die auserwählte (und einzig und eigentlich gemeinte
Ewigkeitsreligion) gewesen sein, so kann sie gleichwohl, weil die anderen
Religionen nicht verschwanden und sogar neue der jüdischen sich entwanden,
auch in der Perspektive des Ewigen nur als eine unter vielen anderen
Verwaltungen des Ewigen anerkannt und tradiert werden.
Das Ewige des ewigen Reiches, die Universalität der heiligen Gesetze, das Reich
der absolut ewigen Wahrheiten partikularisiert sich unmittelbar, weil es aus
und für die Partikularität einer vorerst nur partikular bestehenden Menschheit
sowohl hervorgegangen wie in Verwaltung genommen ist. Empirisch
präexistiert das Unewige und Partikulare der Geschichte der apriorischen
Präexistenz des Ewigen, apriorisch präexistiert diese Präexistenz jener
empirischen. Die Mehrfach-Existenz von Religion widerspricht der Einfach-
Existenz des ewigen Gottesreiches. Und die Partikularexistenz von Menschheit –
in nichtkonvertierbaren Stämmen, Kulturen, Staaten und Staatenbünden –
widerspricht der Universalexistenz von Menschheit.
Die präexistierende Umkehrproportion in der Existenz und Geschichte des
Ganzen von Welt setzt voraus, dass die Geschichte von Welt und Menschheit
nicht der Logik von Natur und Materie obliegt, weil in diesem Fall ein Ewiges
nicht nur nicht auf das Geschichtliche wirken, sondern gar nicht präexistent
sein könnte. Statt einer absolut ersten und letzten Welt- Proportion hätten wir
auf der einen Seite eine sich selbst nach zufälliger Notwendigkeit
selektionierende und organisierende Weltmaterie als Prinzip aller Geschichte,
auf der anderen Seite ein Prinzip von Wahrheit und Geist, von Ewigkeit und
Freiheit, das nicht nur ohnmächtig wäre, im Gang der „Evolution“ auf deren
„zufällige Gesetzmäßigkeit“ normierend und zielführend einzuwirken, sondern
immer schon lediglich illusorisch angenommen und verwaltet würde.
Ist die genannte Umkehrproportion absolut und damit unhintergehbar, letzter
Grund der Möglichkeit und Wirklichkeit von Welt-Entwicklung, müssen alle
Stationen des Werdens und Daseins von Welt und Menschheit als fortgesetzte
Offenbarungen (und Verwaltungen oder Verwahrlosungen) des Ewigen
erkannt und gelebt werden. Fortwährend treiben Stücke der Ewigkeit an das
Ufer der Geschichte; fortwährend treiben neue Freiheiten und Wahrheiten das Wesen und Unwesen der Geschichte um.
Post fest sind die Prinzipien und Entwicklungsstufen, das Chaos und die
Ordnung der stets sich ändernden Ewigkeits-Verwaltungen leicht zu erkennen
und zu formulieren; in actu jedoch auf keine Art und Weise. Niemand wusste, in
welche Zukunft der religiöse Synkretismus des Römischen Imperiums zerfallen
würde, um dem Plan der Vorsehung gemäß als entheiligtes Mittel und
banalisierte Baustelle für die nächste Stufe der Welt- und Heilsgeschichte zu
dienen.
Solange wehrte sich das Imperium, die neuen Ewigkeitsstücke zu übernehmen,
bis es an dieser Zeitenlänge erfuhr, daß zugrundegeht und verschwindet, was
nicht zur rechten Zeit übernimmt und verwaltet. Ließen sich in actu die
Zukünfte der neuen Ewigkeiten erkennen, ließen sie sich per Dekret – freilich
durch wen? – anordnen. Platons Scheitern diesbezüglich bleibt ewig
bedenkenswert; kein Philosoph, der den Namen verdiente, und nochmals ein
Syrakus ansteuerte.
Die aktuelle Verknotung von Heils- und Weltgeschichte erleben wir – in actu –
im heutigen Palästina an einem für uns merkwürdigen Schauspiel: Israel als
Speerspitze der säkularen westlichen Welt und zugleich noch als Urenkel der
einst auserwählten Religion des Ewigen mitten in die moslemisch-arabische
Welt und deren Religion und Verwaltung des Ewigen geworfen, – als Sühne des
Menschheitsverbrechens, das Aufklärung und Moderne der europäischen Welt
(Hitler und die Seinen) der ersten monotheistischen Religion angetan hatten.
Das erste religionsübergreifende Schisma der Weltgeschichte mit bleibenden
Folgen, während das des Kommunismus entweder im Vergessen der
Geschichte verschwinden oder doch noch im Zerfall Russlands gesühnt werden
wird, falls der Zerfall der Sowjetunion nicht ausreichen sollte.
Die arabische Welt, von säkularen Prinzipien aktueller und künftiger
Weltgestaltung, etwa von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und
Menschenrechten noch wenig verstehend und noch weniger akzeptierend, (in
einer verspäteten Vormoderne in die Moderne unterwegs, weil die partikularen
Ewigkeitsstücke des Islams sowohl religions- wie weltgeschichtlich nur mehr
absolut nachgelassene sein sollten und konnten) in direkter Konfrontation
befindlich sowohl mit der Zukunft wie mit der Vergangenheit von Welt- und
Heilsgeschichte. Daher am Pranger beider Geschichten, aber dies mit der
heiligen Aufforderung verwechselnd, der ganzen Welt eine universale –
übergeschichtlich unbewegte – Ewigkeit des Korans und seiner Verwaltung
lehren und beibringen zu müssen. Das letzte Heilsbuch der Heilsgeschichte als
erstes und ewiges Weltbuch künftiger Menschheit und Weltgeschichte.
Wäre der Islam die auserwählte monotheistische Religion des Einen Gottes,
beauftragt und befähigt, die Verwaltung von dessen vollständig
offenbartem Wahrheits-Reich dem Ganzen von Welt und Menschheit
anzumissionieren, wäre mit ihm die Geschichte sowohl des Heils wie der
Menschheit an ihr Ende gelangt. Dies der Glaube des Islams seit dem 7.
Jahrhundert, anfangs durchgesetzt im afrikanisch-mittelmeerischen, später im
asiatischen und mittelafrikanischen Raum, seit dem 15. Jahrhundert
geschichtsmächtig als einzig mögliches Imperium islamischer Provenienz, das
als osmanisches nicht zufällig den Beginn der Moderne in Europa und Arabien
nicht überleben sollte. Dennoch und ebendeswegen der Glaube des Islams von
heute – in der fundamentalistischen Perspektive seiner orthodoxen
Wiederfindung – an einen erstmals wirklich globalen Missionsauftrag.
Ähnlich glaubte und dachte die christliche Religion bis ans Ende ihrer
Vormoderne, niemals dachte und glaubte in dieser Art und Weise die jüdische,
die, ihrer auserwählten Partikularität treu bleibend, mit universaler Diaspora
und Menschheitskreuzigung büßte, um nun als auserwähltes Werkzeug zu
helfen, das neue religionsübergreifende Schisma, ein erstmals
menschheitliches, aufzulösen: den gordischen Knoten eines säkularen als
zugleich religiösen Kampfes um die religiöse und weltliche Weltherrschaft.
April 2006