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19 Kunst und Hirnforschung

I.
Ist Hirnforschung die Vollendung der Aufklärung oder deren Ende? Ist
Neuronenästhetik die ultimative Ästhetik, jene, die alle Fragen nach Grund und
Wesen von Kunst und Schönheit klären wird, oder ist das Gegenteil wahr:
wissenschaftliche Ideologie indoktriniert eine desorientierte Öffentlichkeit?

Diese Fragen stellen sich, wenn man den Boom der Hirnforschung in allen
Segmenten des modernen Lebens und nun auch des Lebens von Kunst und
Schönheit zur Kenntnis nimmt. Was die moderne Gesellschaft soeben erst –
nicht zufällig seit Beginn der Postmoderne in den 70-er und 80er-Jahren des
20.Jahrhunderts – als Vorbild für alle ausgerufen hat: den zum „Chef-Kreativen“
mutierten Künstler der Geniekunst von vorgestern, eben das demontiert die
moderne Endaufklärung durch Hirnforschung. Was wir immer schon befürchtet
haben, sei wahr: künstlerische Freiheit ist nichts als eine Illusion; und was wir
immer schon vermutet haben, sei gleichfalls wahr: das Schöne der Künste ein
biologisches Illusions-Produkt unseres Gehirns, das Schöne der Natur
vermutlich ohnehin.

Zugleich müssen wir wieder einmal umdenken, – die Aufklärung von heute
verjagt die von gestern. Denn erst vorgestern wurden uns Meme serviert, die
als „kulturelle Gene“ das Schicksal von Kunst und Schönheit evolutions- und
kulturbiologisch steuern sollten. Heute wird uns Kunst und Schönheit als
Neuronen-Feuer angeboten, und ein Schelm, der dabei nicht denken sollte:
Biologie und Hirnforschung teilen sich einen selbsterzeugten Kadaver von
Kultur. Jene bemüht das Genom, diese das Gehirn als des Rätsels Lösung; jene
offenbart uns die Geheimnisse der kulturellen Evolution, diese die Geheimnisse
unseres Bewußtseins. Hirnforschung zeigt uns endlich und noch dazu
„bildgebend“, was wir immer schon wissen wollten: was das Reich der Kunst und
Schönheit im Innersten zusammenhält.

Eine Stunde höchster Gelegenheit: endlich „weg“ mit den alten und ewigen
Irrtümern vom Kunstwerk als Ausdruck künstlerischer Phantasie und Freiheit,
„weg“ mit der Illusion einer Autonomie von Kunst und Kultur, „weg“ mit dem
ganzen Plunder kulturgeschichtlicher Illusionen. Auch die Ideologie der
„abendländischen Kultur“ habe nun ein Ende mit Schrecken und ein zugleich
nützliches Ende gefunden, denn niemals wieder wird uns ab nun ein
„Unbehagen an der Kultur“ unbehagen.

Die Milde, mit der unsere Hirnforscher über unseren Selbstbetrug in Sachen
Kultur und Kunst lächeln, demütigt uns als Zeichen untrüglicher Überlegenheit,
lehrt jedoch zugleich, daß man niemanden von einer Überlegenheit heilen kann,
die als öffentlich anerkannte Überlegenheit erfahren wird. Und schwach der
Trost, daß schon mancher über vieles milde gelächelt hat, worüber er sich bei
besserem Licht sehr unmilde geschämt hätte.

II.
Wenn alles biologisierbar, muß ganz natürlich auch die Kunst an das neue
Credo glauben. Auch sie folgt nun „biologischen Mustern“, und nur wer diese
versteht, versteht auch Kunst und Schönheit. Ein moderner Kunstexperte wird
vielleicht bemängeln, daß die Fixierung auf „Kunst und Schönheit“ allzu
altgebacken und naiv sei. Die Entwicklung von „Nicht-mehr-schönen-Künsten“
seit spätestens dem 20. Jahrhundert habe die Neuronenlabors der neuen
Ästhetik noch nicht erreicht. Dies sei umgehend zu korrigieren, um nicht der
aktuellen Entwicklung der Künste und des „Ästhetischen“ hinterherzulaufen. Die
Neuronenästhetik müsse im eigenen Interesse zur Kenntnis nehmen, daß das
ewige Paar „Kunst und Schönheit“ durch die Revolutionen der modernen Kunst
geschieden wurde. Nichts leichter als das, könnte ein Neuronen-Ästhetiker
erwidern, denn auch das biologische Muster des Häßlichen ist bildgebend
einsehbar, wenn es neuronengerecht unter unserer Schädeldecke aufgedeckt
wird.

Wie aber wird nun bewiesen, daß die Kunst, diesseits des Jenseits unserer
Illusionen über sie, also „in Wirklichkeit“ nichts anderes sei als ein Befolgen
biologischer Muster? Wie wird diese grandiose Hypothese bewiesen?
Selbstverständlich durch grandiose empirische Versuche, durch exzellent
organisierte Experimente, somit durch einen direkten Beweis, an dessen
Stichhältigkeit zu zweifeln nur jemand wagen kann, der einen
unwissenschaftlichen Hieb hat.

Da die moderne Wissenschaft frei ist, ist sie natürlich sowohl beim Erfinden
ihrer Hypothesen wie beim Ein- und Zurichten ihrer beweisenden Experimente
frei. Sie ist darin so frei wie der moderne Künstler moderner Kunst, und dies legt
den grandiosen Gedanken nahe, beide Freiheiten zu einer noch grandioseren
Symbiose zu vereinen. Eine solche zu sein, beansprucht der moderne
Rattenroboter-Künstler, dessen Wirken man gesehen haben muß, um glauben
zu können, daß wieder einmal eine Unmöglichkeit möglich wurde.

Ein Team von Wissenschaftlern und Technikern, – der Anteil der Hirnforscher
wird nicht näher mitgeteilt, wozu auch, wenn nur der Beweis wirklich beweist,
was durch Hirnforschung zu beweisen ist – hat einen Roboterarm gebaut, der
von Rattenneuronen gesteuert wird. Auch der Steuerungsbegriff der
Hirnforschung wird nicht näher mitgeteilt. Es muß genügen, daß ein Arm greift
oder kritzelt, also dürfte auch eine Hand im Spiel sein, und daß ein Arm oder
eine Hand dies nicht kann, wenn sie nicht gesteuert wird. Denn wer wagt zu
leugnen, daß auch alle unsere Handgriffe von einem handgreiflichen
Gehirnzentrum für Handgriffe gesteuert werden? Was natürlich nicht mehr
Hypothese, sondern längst schon erwiesene, durch tausend und abertausend
Versuche unwiderlegbar bewiesene Tatsache ist. So weit, so wissenschaftlich
gut.

III.
Zurück zum Roboterarm-Künstler, der als neuronaler Rattenroboterarmkünstler
eine formidable Weltkarriere gestartet hat. (Weshalb auch die Vergabekriterien
für Nobelpreise zu überdenken sind. Es ist unverantwortlich, der neuen
Wissenschaftskunst eine unbepreiste Laborexistenz zuzumuten.)

In glücklicher Teamarbeit ist es also der Hirnforschung geglückt, so die
Eilmeldung, die wiederum alle Journalisten-Stammtische glücklich macht, einen
Roboterarm zu bauen, der von Rattenneuronen gesteuert wird. (Wir
unterdrücken geflissentlich unser unwissenschaftliches Vorurteil, ein Roboter
sei eine Maschine, und eine Maschine könne nur von einem sogenannten
„Programm“ für Maschinen, von einem Maschinenprogramm gesteuert
werden.)

Denn davon ist keine Rede und Mitteilung, wir lesen einzig von Neuronen, die
wie Heinzelmännchen am Werk sind, richtige Hirnarbeiter, wenn auch nur vom
Rattenhirn, aber auch dies ist wieder nur ein Vorurteil, das die Hirnforscher
bereits entlarvt haben, da sich in ihrer Perspektive zwischen einem Ratten- und
einem Künstlerhirn offensichtlich kein so großer Unterschied gezeigt hat, daß er
nicht vernachlässigbar wäre.

Ein Neuronenroboter macht noch keinen Versuch, also muß der beweisende
Versuch mit ihm als Versuchstier erst noch gemacht werden. Dazu muß der
Roboter auf Versuche mit ihm reagieren können, und dazu muß er wiederum
programmiert worden sein, denkt der Laie, der nichts ahnt von der Macht der
Neuronen, die ihren Neuronenroboter genau dazu anheuern und steuern und
für Reaktionen sensibel machen. Ist er nun ein reizbares Tier oder eine
reizempfänglich gemachte Maschine oder irgendwie beides und dadurch als
Verwandter des Künstlers ausgewiesen?

Unnötige Fragen, denn der Versuch beweist, daß unser Neuronenroboter auf
visuelle Reize reagiert, und zwar als Künstler, denn er beginnt abstrakte Figuren
zu kritzeln, und zwar ganz natürlich auf ein Blatt Papier, das ihm gütige
Hirnforscher ganz natürlich unterbreitet haben. (Ihr Gehirn weiß, wie es sich bei
Gehirnversuchen zu verhalten, wie es seine versuchten Neuronenmenschen zu
steuern hat.)

Unser Neuronenroboter fängt also wie ein echter Picasso an, was unwillkürlich
für die beanstandete Altgebackenheit der ästhetischen Grundbegriffe der
Neuronen-Ästhetik entschädigt. Die Schönheit der abstrakten Malerei, mag sie
noch so gekritzelt sein, steht ja längst außer Frage und Zweifel, und diese
Errungenschaft läßt sich unser Neuronenroboter nicht entgehen.

Aus irgendeinem dunklen Grund läßt er sich allerdings nicht befragen, obwohl
ihn sein Neuronengehirn, mag es auch der Ratte entliehen sein, doch befähigen
müßte, auf Wort- und Lautreize zu reagieren. Er könnte uns wenigstens einiger
Kritzel-Antworten würdigen, denkt der lesende Laie, halb schon bereit, in den
Ankauf der neuer Moderne a là Picasso kräftig zu investieren. Denn was heute
noch gekritzelt, das ist vielleicht schon morgen klassisch und übermorgen
„klassisch anders“, was in modernen Zeiten auf dasselbe hinausläuft.

IV.
Beweise genug, – die Hypothese vom Neuronenfeuer als eigentlichem
Kunstfeuer ist öffentlichkeits- und gesellschaftsfähig, schon formieren sich
Gesellschaften, Vereine, Assoziationen und Akademien für Neuro-Ästhetik, und
Prominente beider Lager, der Künstler und der Hirnforscher, finden sich ein,
um, wie kürzlich auf einer Berliner Tagung für Neuro-Ästhetik verkündet, „eine
gemeinsame Sprache zu entwickeln.“

Dieses Feuer soll nicht mehr erlöschen, das Neuronenfeuer wird
Wissenschaftler und Künstler des 21. Jahrhunderts zu neuen Höhenflügen
beflügeln. Lange mußte die Menschheit warten, nun aber ist ein Anfang
gemacht: Kunst und Kultur als Hirnfortsatz, das hat die Menschheit noch nicht
erlebt. Ein neues Subjekt der Weltgeschichte ist gefunden, das Proletariat wurde
endlich und glücklich abgelöst. Wer jetzt nicht biologischen Mustern folgt, der
versteht die Welt nicht mehr.

Jene Tagung dürfte epochemachend gewesen sein. Ein Altmeister der
Forschung teilte dem staunenden Auditorium die erstaunliche
Forschungsfortschrittsbotschaft mit, daß das Hirn „am besten wisse, was in der
Kunst richtig und falsch sei.“ Spiele ein Orchester beispielsweise eine Wagner-
Stelle zu schell oder zu langsam, zeigten die einschlägigen Neuronen kaum
mehr als ein müdes beleidigtes Zucken; bei richtigem Tempo aber jubeln unsere
Neuronen, und wer möchte jetzt noch fordern, daß sie uns mitjubeln lassen
mögen. Es genügt doch, daß der Herr im Haus seine Freude hat und weiß, wo
der Wein im Keller lagert. Er schickt uns dann gleich los, und wir dienen gern
und gehorsam, neuronengesteuert auf jeder Stufe jeder Stiege im ganzen Haus.

Überhaupt hat unser Herr eine unmäßige Freude an seiner Freude, eine
einhellige und identische, die ganz nur Freude ist, egal ob dies oder jenes an
Kunst oder Schönheit ihn erfreut. Ähnlich wie sich der moderne
Musikkonsument gewöhnt hat, zwischen Jazz und Bruckner, Bach und Pop,
Beethoven und Heavy Metal nur mehr vernachlässigbare Unterschiede an
Freude und Wohlgefühl zu genießen.

Beispielsweise Proportion: erblickt der Sklave Mensch eine Skulptur dieser Art,
vermutlich eine Skulptur der alten Griechen, die noch nicht wußten, was in
ihnen kunstwerkt, überschlägt sich sein Herr Gehirn geradezu im
Freudentaumel. Woraus ein Altmeister der Hirnforschung im
hirnforschungsfreudigen Berlin den genialen Schluß zog, daß das Gehirn
harmonische Proportionen erkennt. (Doch) kein Wunder, möchte man
schüchtern einwenden, es muß ja seinen biologischen Musterproportionen
folgen.

Wer hier wen mustert und ausmustert, wollen wir so genau nicht mehr wissen,
denn vielleicht folgen wir einem anderen noch unbekannten biologischen
Muster, wenn wir kritisch einwenden: Wenn schon das Rattenhirn nicht ansteht,
wie ein Picasso zu reagieren, dann wird unser alter Esel von Gehirn doch wohl
noch fähig sein, angesichts schöner Proportionen alle seine
vorhirnwissenschaftlichen Depressionen über Bord seiner Schädeldecke zu
werfen.

V.
Keine Freude ohne Schatten: nicht nur unser Dasein auf Erden, auch die
biologischen Muster, nach denen das Gehirn sich und seine Angehörigen
steuert, sind zeitlich bemessen, sie knausern mit der Zeit, – man möchte es gar
nicht glauben, wenn es nicht bewiesen wäre.

Aufmerksamkeit beispielsweise, die wir ahnungslose Laien immer noch
unserem Bewußtsein gutschreiben möchten, ist leider gezwungen, nach drei
Sekunden gar sehr zu schwächeln, weil „die optimale Aufmerksamkeitsspanne
im Hirn“ nun einmal drei und nicht mehr Sekunden beträgt. Doch zum Glück
entspricht dieses Zeitfenster, in dem wir wirklich und eigentlich aufmerksam
sein können, genau „der Länge einer klassischen Gedichtzeile.“ Eine grandiose
Übereinstimmung, die herausgefunden zu haben, zu den Glanzleistungen der
Neuro-Ästhetik zählen dürfte. Daher versagen wir uns auch die Frage nach der
Art von Gedicht, die hier als „klassische Gedichtzeile“ die Bühne der neuen
Wissenschaft von Kunst und Schönheit betreten hat.

Schlechtes Gewissen beschleicht uns obendrein, wenn wir zu bedenken wagen,
daß jedes „klassische Gedicht“ bekanntlich aus mehr als einer Zeile besteht.
Müssen wir daraus schließen, daß die bisherige Menschheit immer nur
Aufmerksamkeit vortäuschte, wenn sie das Abenteuer unternahm, mehr als
eine Gedichtzeile zu rezitieren, zu lesen, zu hören? Aber wie können wir es
wagen, die Aufmerksamkeit des Gehirns im Zeitfenster des Gehirns zu
bezweifeln? Bestätigt sich deren Wahrheit doch schon beim Versuch, das
Kunststück fertig zu bringen, den blendenden Resultaten der Neuro-Ästhetik
mehr als drei Sekunden zu folgen. Man müßte ein Videoclip sein, um als
hirnadäquater Kunstkonsument zu funktionieren.

Bangen müssen wir nun auch um den Hexameter und ähnliches Gelichter der
„klassischen Dichtkunst.“ Als schöne Dichtung können deren Gesänge jedenfalls
nicht mehr die enge Pforte der Hirngesetze passieren. Sie halten sich nicht an
das naturale Muster und müssen daher als Mißgeburten taxonomiert werden.
Und mit der Frage, wie und welche biologische Muster das Gehirn bei der
Produktion seiner Mißgeburten befolgte, wird sich die künftige Hirnforschungs-
Ästhetik hoffentlich schon bald erschöpfend beschäftigen.

Bewundernswert ist auch der hirnerweiternde Umgang der Hirnforschung mit
den Grenzen der induktiven Beweisführung. Diese muß sich gewöhnlicherweise
davor hüten, von einigen Fällen auf alle Fälle eines möglichen Sachverhaltes zu
schließen.

Nicht so die szientifische Erweiterung des Induktionsurteils durch allwissende
Anwendung der Hirnforschungsprämisse: das biologische Muster wisse und
mache das einzig Mögliche und Richtige, und zwar immer schon. – Weil unser
Hirn unsere Wahrnehmung von Bildern bevorzugt links vom Mittelpunkt
zentriere, und weil sich auf einigen Gemälden Alter und Neuer Meister eben
diese Zentrierung findet, folgern Hirnästhetiker mit kühner Verallgemeinerung,
daß die Kunst immer schon wußte, was unser Hirn liebe und wünsche.

Durfte man früher im Land der Künste und ihrer Schönheiten dem Genie
blindlings vertrauen, darf man nun dem Hirn und seinen Mustern und Gesetzen
blindlings vertrauen. Und wenn sich nun noch herausstellt, daß auch die Genies
immer schon, wenn auch nur intuitiv, den Befehlen und Steuerungen des
Gehirns gehorchten, um wie vieles größer und genialer, schöner und erhabener
wird die Kunst der Zukunft sein, die erstmals wissend und bewußt gehorchend
ausführt, was ausgeführt werden soll.
November 2010