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31 Ein zentraler Kulturkampf

I.
Ein Komponist der modernen Opernszene wird als „zentraler Künstler der
Salzburger Festspiele seit 1982“ vorgestellt. Nun hat ihn deren „Präsidentin“
(kein Titel von Thomas Bernhard) eingeladen, über die „Macht der Kunst“ und
das Zeitgemäße der „Hochkultur“ (originale Anführungszeichen) Gedanken zu
äußern und mitzuteilen. Die Kategorie „zentraler Künstler“ scheint unverfänglich
zu sein, sie tritt bescheiden auf, ist sich aber ihrer selbsternannten Wichtigkeit
bewußt.

Der „zentrale Künstler“ ist unter allen Umständen ein wichtiger Künstler, denn
wer sonst, wenn nicht prominente Festspiele prominenter Hochkultur (diesmal
ohne zweifelnde Anführungszeichen) wären befugt, sich für den Nabel einer
modernen Hochkultur zu halten? Außerdem sind Festivals, noch dazu das
Salzburgische, per se ein „Zentrum“ und als solches ein Zentrum vieler Zentren –
von Künstlern und Kunstwerken verschiedener Künste. Also lohnt es nicht, das
Geheimnis des „Zentralen“ der zentralen Künstler und Künste zu erörtern, die
Wichtigkeit wichtiger Künstler versteht sich von selbst.

Dennoch ist offenbar eine gewisse Ungewißheit über die „Macht der Kunst“ in
Umlauf geraten, und auch der Name „Hochkultur“, unter Anführungszeichen
gesetzt, gibt zu denken. Wäre Mozart über die „Macht seiner Kunst“ befragt
worden, hätte er sich über Schelme verwundert, die ihn auf den Arm nehmen
wollten. Doch hätte er gewiß zugegeben, daß die „wirkende Macht seiner
Opern“, die noch keiner schriftstellernden Kommentierung durch den
Opernkomponisten Mozart bedurften, für dumpfe und unverständige Geister
nichts als verlorene Liebesmüh‘ sein können. Noch stand die Macht der großen
Oper über ihr Publikum außer jedem Zweifel.

Heutzutage darf sich der moderne Künstler selbstverständlich nicht mehr mit
den herkömmlichen Mächten der Vormoderne (Kirche, Adel, König und Kaiser,
höheres Bürgertum), aber auch nicht mehr mit den Mächten der politischen
Parteien oder gar mit dem „Kapitalismus“ und auch nicht mehr mit dem einst
zur Weltrevolution berufenen Proletariat verflossener Jahre ins Bett legen.

Folglich ist die geistreichelnde Intervallmetaphorik des denkenden
Opernkomponisten von einer falsch triefenden Bescheidenheit geprägt:
„Eigentlich sind Kunst und Macht in einem Querstandverhältnis“. Denn ein
„Querstandsverhältnis“ unter Intervalltönen repräsentiert weder ein
Querdenkertum noch eine Kritik an den tonalen „Machtverhältnissen“, weil ein
musikalischer Querstand nur innerhalb des noch intakten tonalen Tonsatzes
möglich ist. Wenn wir glauben, Querstände in einem atonalen oder
dodekaphonen Musikstück zu hören, hören wir noch tonal, somit nostalgisch
falsch. Vermutlich möchte „Querstandverhältnis“ nur die neue und längst trivial
gewordene Selbstverständlichkeit ausdrücken, daß moderne Kunst auf eigenen
Beinen steht und keine Fürsprecher unter den Mächtigen, keine Gängelei durch
kunstfremde Mächte benötigt.

Gar nicht mehr bescheiden sind aber die beiden Folgesätze des modern
denkenden Opernkomponisten: „Aber Macht, weltliche, geistliche, finanzielle,
psychologische, kann sich durch Kunst in einen Zustand bringen lassen,
überhaupt memoriert zu werden. Was würde an längst erloschene
Machtzentren und deren zentrale Gestalten überhaupt noch erinnern, wenn
nicht Kunst?“

Kein durch Salzburg flanierender Festspielbesucher wird leugnen, zuerst und
zuletzt durch die vormoderne Stadtkultur barocker Kirchen und Skulpturen an
die „längst erloschenen Machtzentren“ des erzbischöflichen Staates Salzburg,
dem Napoleon ein Ende bereitete, erinnert zu werden. Aber war nicht auch
Napoleon ein „Machtzentrum?“ Und bedürfen unsere Historiker der Macht der
Künste, wenn sie an die Geschichte Frankreichs und Europas unter Napoleon
erinnern?

II.
Wenn ein moderner Opernkomponist verkündet, vor allem Kunstwerke seien
befugt und befähigt, an die Mächte und Ereignisse der Geschichte zu erinnern,
verschreibt er sich einen ungesicherten Kunstkredit. Er erhebt Kunst und
Kunstwerke, in Salzburg vornehmlich die der sogenannten Bildenden Kunst, in
den Rang führender Historie und geschichtlicher Erinnerungsmacht; und
bedient doch nur das Megaphon des internationalen Städtetourismus, der
bekanntlich „boomt“ und brummt. Einer der gewinnträchtigsten Märkte
moderner Kultur – ob hohe oder niedrige Kultur, tut nichts mehr zur Sache – ,
denn auf diesem wichtigen Markt fallen auch für die wichtigen und „zentralen“
Komponisten moderner Opern prestigeträchtige Brosamen ab.

Folglich gibt es auch ein internationales Publikum für moderne Oper, und
Festivals bedienen dessen internationale Bedürfnisse nach moderner Musik-
Schönheit und moderner Opern-Erhebung. Nach hundert Jahren, wenn Salzburg
möglicherweise sein barockes Antlitz verloren oder geschrumpft haben wird,
wird man sich der heutigen Festivals erinnern, auf denen wichtige Kunst für ein
wichtiges Publikum geboten wurde. Man könnte von einem ästhetischen
Historismus sprechen, dessen janusköpfiges Denken, zugleich in die Zukunft
voraus- wie in die Vergangenheit zurückeilend, die politischen Mächte von heute
und gestern als machtlose und vergängliche Macht demaskieren möchte, um
sich selbst als wahre und unvergängliche Macht auf das höchste Podest der
Kultur zu erheben.

Für die Vergangenheit gilt das profunde Urteil: Nur weil sich die Mächtigen der
Geschichte Denkmäler in Gestalt von Kunstwerken gesetzt haben, genießen wir
die Freude, deren Machtzentren beschauen und begehen zu dürfen. Dank sei
den Edlen, möchte man ausrufen, die ihr Geld, ihr Interesse, ihren Geschmack
und vor allem ihre Macht nutzten, um Kunst und Künstler, wenn auch zum
Ruhme der politischen Macht, zu fördern und zu „mißbrauchen.“ Ein Mißbrauch,
von dem sich jeder moderne Künstler endgültig befreit weiß.

Aber noch mehr Dank unseren Behörden und Wissenschaften, die das museale
Handwerk und überaus teure Finanzieren der permanenten Erhaltung und
Renovierung der oft Jahrhunderte alten Gebäude und Werke nicht
vernachlässigen. Sogar Mozarts Opern, obwohl weit vom Hochkomplex-
Standard heutiger Opern entfernt, werden immer noch aufgeführt und sogar
geliebt und verstanden.

Der moderne Künstler, hier in seiner luxuriösen Funktion als Festival-Komponist
moderner Opern, muß die alten Mächte und Mächtigen nicht mehr fürchten, er
ist frank und frei zu seiner Kunst, und ist doch nicht vogelfrei, sondern sogar
Rechtsperson und als Künstler nur sich und manchmal einer „Präsidentin“ eines
renommierten Festivals verantwortlich. Eine „Verantwortlichkeit“, der keine
Prämissen mehr an verbindlichem Geschmack, Stil und Form zugrundeliegen,
weil dadurch die Freiheit des modernen Komponisten fremden Mächten
ausgeliefert würde. Lediglich die Prämisse Geld hat das Ende der traditionellen
Kultur der vormodernen Mächtigen überlebt, eine Macht offensichtlich, die man
nicht erst durch Kunst „memorieren“ muß, um die zeitlose Gegenwart und
„Übermacht“ von Geld und Geldmärkten zu verspüren.

Der Versuch des „zentralen Künstlers“, die politisch Mächtigen der Geschichte
und Gegenwart als eigentlich Unmächtige und Kunst und Künstler als eigentlich
Mächtige vorzustellen, errichtet eine Attrappe von ersehnter Macht. Wir würden
die Kunst vergangener Epochen sammeln und erinnern, aber „die
Machtstrukturen selbst sammeln wir nicht, allenfalls als anekdotische Zutat.“ –
Geschichte der Politik, auch die Weltgeschichte der Weltpolitik als Zutat zur
eigentlichen Machtgeschichte von Kunst und Künsten? Die Machtträume von
Kunst und Künstlern gleichen den Kinderträumen, in denen sich Realitätsverlust
und Machtwünsche umarmen.

Doch zeigt sich dem modernen Schriftstellerkomponisten ein unabwendbarer
Einwand: Die Selbst-Verewigung der Mächtigen durch die Macht der Musik
gelinge eher kümmerlich oder gar nicht, denn eine „objektlose
Flüchtigkeitskunst“ habe doch nicht das beständige und feste Zeug dazu, als
öffentliches Monument gebraucht oder mißbraucht zu werden. Ist die Kunst-
Macht über die Macht der Mächtigen doch nur Chimäre?

III.
Ein sachlicher Beobachter dieser rührend illusionären Streitszene wird natürlich
spontan versichern, daß er sich Wagners „Rienzi“ und Verdis kaum verschleierte
Kampf-Opern gegen den Besatzer Österreich, ja nicht einmal Beethovens
„Wellingtons Sieg“ und Tschaikowskys „1812“ möchte nehmen lassen, auch
wenn sie falschen Mächtigen zur mißbrauchenden Selbstdarstellung dienten. Er
möchte diese und andere Zeugnisse „politischer Kunst“ nicht missen, mögen
Historiker und politisch Denkende seine Zulieferung von Anekdoten aus der
Geschichte der Musik auch milde belächeln.

Hätten Garibaldi, Wellington und die russischen Feinde Napoleons und ebenso
dieser selbst wie alle anderen „Machthaber“ der Geschichte durch Aufträge an
Künstler die Absicht gehabt, sich dadurch „im Gespräch und in der erinnernden
Vergegenwärtigung“ zu halten, hätten sie natürlich vor allem Romanautoren
und Maler im Gefolge ihrer Kriege, im Troß ihrer Armeen mitgeführt. Zur Not
auch noch einen von der Zunft Mozarts und Beethovens, Verdis und Wagners,
um ihre Machtkämpfe und Schlachten demnächst als Oper zu „erinnern.“

Aber obwohl Xerxes und andere Mächtige dereinst auch Maler mit sich geführt
haben, um sich an Bildern gewonnener Schlachten zu ergötzen, so freuen wir
uns zuerst am Sieg der Griechen über den persischen Aggressor, weil dessen
Kultur der antiken Athens womöglich ein vorzeitiges Ende bereitet hätte.
Außerdem hätten zahllose antike Kunstwerke nicht das Licht der stets von
politischen Mächten besetzten Welt erblickt. Folglich existiert auch kein
persisches Bild von dem am Gestade des sarronischen Meerbusens bei Salamis
thronenden Xerxes, das die besiegten Griechen belehrt hätte, wer nun ihr Herr
und Meister geworden ist. Der Auftrag dazu lag schon in der Schublade des
Malers. Und jeder Maler der herrschenden Hof-Zunft hätte mit Begeisterung an
der Triumphalisierung der Macht seines siegreichen Königs mitgemalt.

Offensichtlich denken sich moderne Künstler die Geschichte der politischen
Mächte nach Art der Kunst: als Spiel von Dichtung und Oper, von Inszenierung
von Ruhm und Kampf, von Lust und Freude an Macht, an Sieg und Triumph.
Insofern müßte die Politik und Geschichte der modernen Demokratien den
Opernkomponisten von heute permanente „Steilvorlagen“ liefern: spätestens
alle vier Jahre Schichtwechsel in den Burgen der Macht. Ein Paradies für das
Erinnern durch Kunst und Künste. In der Tat? (Wagners „Rienzi“ widerfuhr Adolf
Hitler 1905, nach eigenem Bekunden, als „politisches Erweckungserlebnis.“
Wenn wir uns daran politisch korrekt erinnern, gestehen wir heute sehr
kleinlaut: Was für ein Mißbrauch der heiligen Macht Musik!)

IV.
Nachdem der zentrale Opernkomponist sein Mütchen an den Mächtigen der
Welt gekühlt hat, kehrt er in sein Haus der Musik zurück und findet eine
überraschend neue Definition der „Macht der Kunst“ vor. Diese liege im
„formenden Eindruck, den sie beim Individuum hinterläßt.“ Aber auch diese
vernünftig riechende Definition, rüstet er wieder politisch auf, allerdings unter
Verweis auf ominöse „manche“, die gegen diese – Individuen formende – Macht
der Kunst ausgerechnet das Zerstören von Kunstwerken als „erstrebenswerten
Mehrwert“ ansehen. Man kann nie genug Feinde erfinden, wenn man sich als
erlösende Macht präsentiert.

Dabei soll es gleichgültig sein, ob dieses Zerstören der Kunstwerke aus
„religiösen oder ästhetischen Gründen“ geschieht. Die Zerstörer würden
trotzdem nicht siegen, weil zerstörte Kunstwerke noch durch die „Macht des
Vernichteten“, durch deren „bedrohliche Wirkungsmacht“, das Machtspiel der
Geschichte gewinnen. Demnach droht das Kunstwerk immer, denn es ist das
eigentlich Mächtige, es performiert „Individuen“, lebendig oder tot.

Sollte dieses schriftliche Bekenntnis moderner Kunstästhetik eines zufälligen
Tages den Taliban und den Jihadisten des Kalifats ansichtig werden, werden sie
ahnen, was ihnen blüht und wer sie besiegen wird. Die Künstler-Rache für die
zerstörten Buddha-Statuen von Bamiyan und für die Verwüstungen in Ninive
und andernorts wird fürchterlich sein: Die „Gestalt der Eindrücklichkeit“ der
Kunstwerke wird sie züchtigen, und die modernen Ungläubigen, mit den Waffen
der Kunst kämpfend, werden als künstlerisch neu geformte Individuen von Sieg
zu Sieg eilen.

Vor einem halben Jahrhundert glaubten die westlichen Avantgarden der
modernen Künste an eine noch ganz andere, an eine revolutionäre Antwort auf
die Machtfrage der Menschheit: Neue Kunst müsse den neuen Menschen der
neuen befreiten Klasse schaffen. Die Heroen der ästhetischen und
marxistischen Avantgarde sollten Hand in Hand die Burgen des Kapitalismus
schleifen und den alten Menschen entsorgen. Mit stets mächtig drohenden,
sogar noch im Status von Vernichtung machtvollen Kunstwerken, kann sich die
kühne Prophetie nun getrost selbst erfüllen: zerstört oder nicht, das durch
wahrhafte Umformung wahrhaft Drohende wird immer siegen. (Eine Variante
des Glaubens unserer Kirchenoberen: nur durch wahre Liebe und wahren
Frieden sei das unerschöpfliche Nachwachsen der Talibanbrut und ihrer Brüder
im Geiste des Jihad aufzuhalten.)

Nun soll aber die Macht der Musik (befindet der sich im eigenen Haus
umsehende Opernkomponist), „wesentlich vielschichtiger“ sein „als etwa bei
Architektur oder plastischer Kunst.“ Denn schon ein „zur falschen Zeit
ausgestoßenes Hustgeräusch“ (wonach es auch richtige Zeiten dafür gäbe,
vermutlich bei modernen Opern, die innovative Hustgeräusche des Publikums
kreativ integrieren) „zerstört ein Musikwerk in gleichem Maß wie eine
bilderstürmerisch abgeschlagene Nase oder ein Stich in die Leinwand.“

Und die Begründung dieser überraschenden Gleichsetzung ist ebenso „genial“
wie entwaffnend: „Denn ein musikalisches Kunstwerk gibt es nicht außerhalb
seiner Realisation.“ (Weshalb sich Taliban und Jihadisten erst gar nicht bei
Hustgeräuschen aufhalten, – schlicht und ergreifend verbieten sie westliche
Musik als liederliche Belästigung Allahs in den Ohren derer, die allein dem Wort
des Propheten als perforierende Macht vertrauen sollen.)

Anfangs lasen wir noch von der Macht der Musik: die Mächtigen der Welt
bedienten sich auch dieser obzwar „objektlosen Flüchtigkeitskunst“, um ihre
Macht, die der Mächtigen, erinnerbar zu machen. Nun aber lesen wir von der
Störbarkeit der Musik und von der Notwendigkeit, Musiknoten klanglich
realisieren zu müssen, um wirkliche Musik zu erhalten. Als Belege oder gar
Beweise der „Erinnerungsthese“ taugen diese beiden „Argumente“ wohl nicht.
Von einer wirklich belastbaren Begründung der „Macht der Musik“ haben wir
bisher noch nichts gelesen. Denn daß auch sie, wie jede Kunst, „Individuen
formen“ und umformen könne, ist eine triviale Machtaussage, die ganz ohne
Ausflüge in die Bezirke politischer Macht geäußert werden kann.

V.
Vielleicht bietet die „Furcht vor der Musik“ einen Ausweg, eine erweiternde
Erkenntnis an? Irgendwie soll nämlich die Macht der Musik auch furchterregend
sein, weil das Realisieren der Musik bedeute, daß ihr Erklingen immer auch ihr
Verklingen, ihr Vergegenwärtigen immer auch ihr Verschwinden bedingt.
Demnach würden wir etwas als Macht fürchten, das sich im Moment seines
klingenden Erscheinens sogleich wieder verzieht und verschwindet?

Offensichtlich würden wir in diesem Falle, dem aller Musik, doch eher die
Ohnmacht der Musik nicht fürchten, sondern bedauern, weil die Musik gegen
die Macht von Stille und Schweigen, von der die Klänge der Musik stets wieder
verschlungen werden, kein Machtmittel zu finden weiß.

Außer in der Macht von Maschinen und deren Helfern: Die „Lautsprecher“ von
Radio und CD erlauben Permanentmusik rund um die Uhr. Aber mit
Dauermusik als „neuer Musik“ kann kein moderner Opernkomponist wahre
Freude haben. Geht eine einst mächtige Kunst nur mehr auf den Stelzen
technisch reproduzierter Klänge durch die Welt, kann sie bald nur mehr zur
(Dauer)Unterhaltung dienen. Diese kann dann allerdings noch zur Erinnerung
dienen, der Hörer nämlich, die sich dabei ihrer Kindheit und Jugend erinnern, in
der sie mit „ihrer“ Musik „sozialisiert“ wurden. Aber das sind andere Sorgen,
von denen zu sprechen einem modernen Opernkomponisten nicht zusteht.
Dieser hat ganz andere Sozialisierungen durch Musik in Auge und Ohr.

Und daher auch reale Machtsorgen um die Musik: Scheinbar, weil nur rhetorisch
ratlos, fragt der Komponist: „Wo ist ihre Macht?“, wenn sie doch stets wieder
verschwindet? Wieder ist die Antwort ebenso „genial“ wie entwaffnend:
„Machtlos ist sie in solchen Augenblicken der Häutung fähig, alles zu verändern:
in dem, dem sie geschieht.“ Durch ihre Machtlosigkeit hätte sie demnach die
Macht, „Individuen“ zu verändern, und zwar „alles“ in „dem, dem sie geschieht.“
Womit nun klar gestellt ist, daß zur vollständigen Realisierung von Musik das
Übersetzen von Noten in Klänge nicht genügt; erst gehörte und angehörte, in
„jemand geschehene“ Klänge sind Musik.

Und „exakt dort“, also im hörenden Jemand alias Individuum entstehe auch die
Furcht, – vor ihrer Macht. Fürchten sich Musiker vor Musik? Fürchten sich Hörer
vor Musik? Jene gewiß, wenn sie fürchten müssen, falsche Noten zu spielen,
womöglich ganz ungestört durch Huster im Publikum zur falschen Zeit, aber
gestört durch ein versagendes Gedächtnis oder falsche Fingergriffe oder
singenderweise durch falsch intonierte Töne. Diese aber, die Hörer, „fürchten“
Musik, wenn sie eine Art von Musik hören sollen, die nicht „ihre Musik“ oder in
ihren Ohren vielleicht „gar keine Musik“ ist. Eine Furcht, die jeder moderne
Musik-Kunde durch Ignorieren der von ihm nicht geschätzten Musik-Richtungen
zu vermeiden weiß.

VI.
Aber das geheimnisvolle Geschehen, daß einem geschehen muß, klärt sich
sofort auf, es ist nicht so tief gemeint, wie es geraunt wurde: Denn auch das
Hören genügt noch nicht; die Trias Noten-Klänge-Hörer bedürfe noch eines
Vierten im Bunde. Der Musik müsse nämlich, so unser schreibender
Opernkomponist, seine Leser wie ein kunstvermittelnder Musikpädagoge
belehrend, „entgegengehört“ werden. Und da die Gestalt der Musik „gänzlich
Vollzug“ sei, liege „ihre Macht einzig und allein in ihrem
Wahrgenommenwerden.“

Daß dieses Dogma der postmodernen (Wahrnehmungs-)Ästhetik mehr
Probleme aufwirft, als Antworten auf die Frage, wie Kunst und Musik heute noch
als verbindliches Geschehen und nicht als belangloses Geschwätz von Klängen
wahrzunehmen sei, scheint den reflektierenden Komponisten noch nicht
behelligt zu haben. Seine Unschuld in Ehren, aber das „Bild im Auge des
Wahrnehmenden“, die „Musik im Ohr des Hörenden“, die „Literatur im
Vorstellen der Lesenden, und am Ende gar die „Architektur in Auge,
(Spazier)Gang und Wohnen“ von spazierenden Städtern und Dörflern, alle diese
„Lösungen“ der modernen Wahrnehmungsästhetik, sind ihr Gegenteil. Weder
entsteht eine Wohnung durch Wohnen, noch entsteht die Differenz der Opern
„Fidelio“ und „Wozzeck“ im Ohr von „entgegenhörenden“ Hörern oder durch das
Musizieren entgegenmusizierender Musiker und Dirigenten. Weder sind diese –
Hörer und Musiker – eine tabula rasa, noch sind die Unterschiede der
Kunstwerke jenseits ihrer historischen Genese und Wirkungsgeschichte
erfaßbar.

Aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit könnte sich der postmodern
reflektierende Komponist daher leicht durch den Versuch einer Beantwortung
der Frage befreien, wie denn ein durch Pop und Disco sozialisierter moderner
Jugendlicher die Musik einer modernen Oper, die jenseits von Tonalität mit
befreiten Klängen und Geräuschen jeder Art sein Ohr bemüht, wahrnehmen
könnte. Sollte dieser moderne Zeitgenosse zum Urteil gelangen, er habe gar
keine Musik gehört, denn dasjenige, dem er „entgegenhörte“, hätte ihm nicht
als Musik geantwortet, kann er nur noch die Hilfe des kunstvermittelnden
Musikpädagogen anrufen, um fehlgeleitete und festivaluntaugliche Jugendliche
auf den wahren Weg wahrer Musik zurückzuführen.

Der moderne Kunst- und Musikvermittler weiß schon aus professionellen
Gründen Bescheid in der Frage, wie man jeder Art von Musik in ihrer je eigenen
Art „entgegenhören“ kann und soll. Und dies umso mehr, als zum wahren
Entgegenhören eine ganz besondere Fähigkeit gehört, die uns der belehrende
Komponist dankenswerterweise auch mitteilt: das „emotionale Können.“ Erst
durch diese „Kompetenz“ stellt sich das Musikwunder ein, „dass sie dem, der sie
wahrnimmt, etwas gilt, dass sie ihm etwas bedeutet.“

Noch bevor die Musik „etwas mit dem Hörer macht“, ist daher „das Hören die
eigentliche Macht.“ Angesichts dieser Verwirrung eines desorientierten Denkens
über Kunst und Musik, erhebt sich der Verdacht, der Komponist moderner
Opern möchte seinen Hörern die Pflicht aufbürden, der er sich selbst nicht mehr
unterwinden möchte oder nicht mehr unterwinden kann: durch innere
Notwendigkeit verbundene Töne und Klänge als nachvollziehbaren
Werkzusammenhang zu komponieren.

Der Hörer alias Publikum als neuer und „eigentlicher“ Komponist soll schaffen,
was dem Produzenten nicht mehr gelingt: ist dies mehr als eine billige Variante
der festivalfähigen Markt-Maxime: der Kunde sei König der Kunst? Eine
unbemerkt entwürdigende Anbiederung an das Publikum und dessen Manager
und Auslastungs-Verwalter, eine Anbiederung, die jeder vormoderne
Opernkomponist noch als Ehrenbeleidigung seiner Kunst zurückgewiesen hätte.

Die unmittelbar folgende Konsequenz dieser entwürdigenden Anbiederung
kann nicht ausbleiben: „Festspiele sind also die großen festlichen Schulen, wo
erfahren werden kann, wie weit es eine antwortfähige Virtuosität des Hörens
gibt, die unterscheiden kann, was sie wie hört.“ Damit gehen mehrere Träume
in Erfüllung: die Schule als Fest, das Fest als Schule; das Publikum als
großartiger Virtuose, das sich seine Werke selbst erschafft, – und offenbar auch
der verborgene Wunsch des Komponisten, sein Tun und Schaffen als
verantwortlich belangbares abzuschaffen. Ein Komponist als Attrappe von
Komponist: keine kleine Verwandlung.

VII.
Mehr Bescheidenheit war nie auf den Bühnen von Oper und Theater, von Fest
und Festivalgemeinde. Wehmütig denken wir nochmals an jene alte und
vermutlich verstorbene Virtuosität eines Publikums zurück, das noch ganz ohne
Festival-Schule, dafür aber durch nachhörendes und vergleichendes Hören die
Virtuosität besaß, Mozarts Opern über die Opern Salieris „hinaufzuhören.“ Eine
Glanzleistung, die bekanntlich lediglich einer Folge (kaum) zweier Publikums-
Generationen bedurfte. Doch war diese „antwortfähige Virtuosität“ noch auf
den Namen Geschmack und verbindliche Geschmacksbildung getauft.

Die neue Virtuosität scheint ganz andere Wege der Urteilsfindung über
moderne Opern zu suchen und gefunden zu haben. Von Geschmack, gar von
verbindlichem, objektive Urteile sprechendem Geschmack, ist jetzt keine Rede
mehr. Dafür von einer „wissenden Liebe“, die „ihre Kriterien hat“ und einer
„Kraft aus Kenntnis“, denn „dann kann musikalische Kunst ihre alles aus den
Angeln hebende Macht entfalten.“ Festspiele als Kraftakte eines Publikums, das
alles ermöglicht und erkennt, was der „zentrale Komponist“ als Angebot ins
Festival-Regal gestellt hat, um prüfen zu lassen, wie es um den
„entgegenhörbaren“ Wert seiner Werke stehen mag. Folglich könnte man
Festspiele nicht nur mit Schule und Kreativ-Kursen, sondern mit auch Schul- und
Zeugniskonferenzen vergleichen, wo ein neues musikgeschichtliches Tribunal,
vielleicht unter dem Regiment zentraler „Präsidentinnen“, objektive Urteile
spricht.

Aber das Projekt „Erkenntnis durch Liebe“ und Erschaffen von Machtentfaltung
durch „Entgegenhören“ hat seine Tücken. Es zwingt den modernen
Opernkomponisten zu einem doppelten Offenbarungseid: über die Art seines
Denkens wie auch ihrer turbulenten Inhalte: Denn weder Spezialwissen noch
Hintergrundwissen seien gemeint, „sondern etwas, das viel näher an der
Ahnung ist, an der Unverschlossenheit, der Elastizität, um angebotenen
Bewegungsabläufen und Schwingungen eigens antwortendes Mitschwingen
entgegenbringen zu können. Gegen die bildhafte Gestalt des Mitschwingens
richten sich die ikonoklastischen Reflexe. Das Mitschwingen, Mitgehen soll
unterbrochen, also zerbrochen werden. Denn das Wesen des Musikvorgangs ist
Energieweitergabe.“

Wer jetzt noch nicht verstanden hat, weil ihn die Virtuosität seines
„Entgegenverstehens“ dieser Sätze verlassen hat, dem kann vielleicht der
abschließende Satz helfen: „Darin – (im zerbrochenen Mitgehen von soeben?!) –
liegt die mächtige Schubkraft, durch deren Impuls etwas ausgelöst wird, das
bestehende Übereinkünfte zumindest durcheinanderzuwerfen in der Lage ist.“

Aus der Welt des Kunstdenkens in die reale Welt übersetzt: Verträge werden
unterzeichnet, um gebrochen zu werden. Eine Übereinkunft ist ihr Gegenteil,
eine Welt, in der nicht alles durcheinandergeworfen werden kann, ist keine
lebenswerte Kunstwelt. Oder: Ein Spiegel ist ein Spiegel, aber nur ein
zerbrochener Spiegel ist ein kunstwürdiger Spiegel. Ein Künstler, der die
„ikonoklastischen Reflexe“ in seiner Kunst und ihrer Geschichte, womit
vermutlich gewisse Erinnerungsreflexe an die Musiksprache der großen
Operntradition gemeint sind, nicht zerbricht, kann nicht als „zentraler Künstler“
durchgehen.

Aber nach der vorher genannten Maxime des denkenden Opernkomponisten,
(Musik „ist gänzlich Vollzug“, „ihre Macht liegt einzig und allein in ihrem
Wahrgenommenwerden“) erfolgt die „Energieweitergabe des Musikvorganges“
durch und im Publikum selbst. Diese Maxime wurde mittlerweile vergessen oder
verworfen, womit das fröhliche Durcheinanderwerfen jeder Behauptung mit
jeder Gegenbehauptung nur noch unseres entgegenverstehenden Verstehens
bedarf, um als kunstwürdiges Ereignis gewürdigt zu werden.

Ein Königreich für einen Satz, dem jetzt noch vernünftig widersprochen werden
könnte. Kann jede Maxime ihre Gegenmaxime erwecken, haben wir ein ganzes
Heer von Köchen in der Gedankenküche. Und soll ein zerbrechendes
Mitschwingen das Entgegenhören des Publikums ermöglichen, wird diesem ein
Gang zugemutet, bei dem jeder Schritt als sein Gegenschritt vollzogen werden
soll. Wer sich bei diesem Gang nicht selbst zu Fall bringt, den hat die Virtuosität
der alles durcheinanderwerfenden Schubkraft der neuen Opernmusik noch
nicht geküßt.

Der ganze Jammer dieses Denkens in Widersprüchen, deren ständiges
Vergessen ihre Auflösung vortäuschen soll, ist eine Synthese aus
Prophetendünkel und Zufälligkeit: Behauptungen werden wie Beweise
vorgeführt, Aussagen wie sich selbst erfüllt habende Prophetien, – verstehbar,
wenn „Mitschwingen“, egal ob „entgegenhörend“ oder „zerbrechend,“ das
Ermächtigen der neuen Macht einer neuen Musik sein soll, – der „alles
durcheinanderwerfenden Schubkraft neuer Opernmusik.“

Nun könnte man gegen diese Kritik an den verwirrten Aussagen eines
desorientierten „Musikdenkens“ einwenden: ein Opernkomponist beweise sich
allein durch seine Musik als solcher. Mag er auch Begriffe
„durcheinanderwerfen“ und als verworfene verschrauben und verschwurbeln,
mag er noch so widersprüchliche und unhaltbare Thesen auf Papier schreiben
oder in die Tastatur seines Computers hämmern, was zählt, ist einzig seine
Musik. Stimmte dies heute noch, würden die Texte schreibender und mit
Begriffen und Worten hantierender Komponisten nicht Legion geworden sein.

Die alte Lehre, daß nur das Publikum über den Wert einer Musik befinden solle,
das Publikum als Laie und Kenner, nicht aber der Komponist, wurde vor
Wagner und auch oft noch nach diesem (erstem Schriftsteller-Komponisten der
Operngeschichte) von den meisten Komponisten neuer Opern als weise Tugend
befolgt. Ein Mozart als Mozartschriftsteller war und ist undenkbar; ein moderner
Komponist und Opernkomponist, der nicht zu gewissen (Festival)Zeiten seine
Art des „Musikdenkens“ als Errungenschaft mächtiger Kreativität, die auch noch
das Wesen und Unwesen von Macht und Mächtigen, von Kultur und Unkultur
zu erkennen ermächtigt scheint: undenkbar.

VIII.
Dem heutigen Leser solcher Texte („postmoderner Diskurse“) fällt ihr
gravierendster Mangel vermutlich gar nicht mehr auf. In der bisherigen
Geschichte neuer Musik, – sie ist reich an Grundsatz-Texten – wurde das Neue
und „Umwerfende“ der neuen Kunst stets mit konkreten Musikbegriffen
benannt oder wenigstens andeutend umschrieben. Von der heroischen bzw.
„klassischen Moderne“ der Schönberg-Schule bis zu ihren seriellen,
aleatorischen und experimentellen Nachfolgern wurden die Konzepte eines
neuen Ton- und Klangmaterials, eines neuen Kontrapunktes, neuer
Harmoniken, neuer Dissonanzen oder Klangfarben usf. als greifbare Utopien
präsentiert.

Davon ist nichts übriggeblieben, die neue Utopie einer „Zweiten Moderne“ wird
nur noch mit Expressiv-Vokabeln und Machtträumen einer sich permanent
widersprechenden Rede beschworen. Zynisch könnte man bemerken, neues
Material und neue Formen sind nicht mehr nötig, weil neuerdings das festliche
Publikum als Erzeuger des Innovativen und Umwerfenden tätig geworden ist.

Die Wahrheit ist weniger lustig: in der Ära postmoderner Moderne wurde ein
Zustand von Kunst und Musik erreicht, die deren Künstler dazu befreit hat, alle
Darstellungsmittel, die jemals – in vormoderner und moderner Operngeschichte
– verwendet wurden, einer dramaturgischen Vermischung und Inszenierung
zuzuführen. Erst diese Moderne, die postmoderne, kann sich nun als „zeitlose
Moderne“ verstehen und präsentieren.

Erst jetzt können die Reste vernünftiger Diskurse und Begriffe über Musik und
Kunst, über Oper und deren Macht und Ohnmacht verabschiedet werden. Ist
jedes „Stilmittel“ mit jedem verknüpfbar, ist ein „Personalstil“ möglich, über den
nicht mehr verbindlich zu urteilen ist. Sind alle „ikonoklastischen Reflexe“
zerbrochen, muß auch die Rhetorik darüber beliebig und belanglos sein. Und
dieser Zustand führt zwangsläufig zu Machträuschen, die ungehemmt
ausgelebt werden dürfen. Ein totaler Machtwechsel scheint stattgefunden und
ein erfreuliches Resultat gezeitigt zu haben: Kunst und Musik können von den
Mächtigen der Welt nicht mehr mißbraucht werden. Diese müssen sich nun
andere Denkmale und Erinnerungsrituale suchen, und jedes Wort über Kunst
und Oper muß sein Anführungszeichenwort finden.

Dazu fügt sich kongenial, daß nun nicht mehr der Komponist als ehemaliges
Originalgenie und nicht mehr das Publikum der Opernhäuser für die Findung
von Repertoire und Kanons zuständig sind. Diese Funktion haben zentrale
Festspiele, zentrale Komponisten und zentrale Präsidentinnen übernommen.
Und in der Tat stellt sich die sinnvolle Frage: Warum soll man unter den
erreichten (post)modernen Kultur-Bedingungen nicht auch den Gang der
Musikgeschichte durch Festivalmanager navigieren? Was mit den Europäischen
Kulturhauptstädten, die jährlich wechseln wie abgetragene Hemden
wöchentlich, „gelungen“ ist, das könnte der modernen Festivalkultur doch auch
gelingen.

Es wäre der Versuch einer Angleichung an die modernen Filmfestspiele und
deren Wettbewerbe samt Preisverleihung. Fehlt es an gesellschaftlichem
Interesse für die Dinge der modernen Oper? Oder wäre es zu langwierig, Oper
nach Oper – im Filmformat – vorzuführen? Oder fehlt es nur an Kuratoren für
„prestigeträchtige“ Jurys? Nicht nur der Film dürfte doch über ausgefuchste
Kenner der Filmgeschichte und ihrer neuesten Entwicklungen und Produkte
verfügen.

Es scheint objektiv, in der Sache moderne Oper begründet zu sein, daß zwar
Preise für Opern-Inszenierungen jährlich beworben werden, aber nach einer
internationalen Kuratoren-Jury für die „weltweit“ beste Oper des Jahres offenbar
noch gefahndet wird. Lediglich die (angeblich)besten Opernhäuser der
zurückliegenden Saison werden beurteilt, und man kennt auch eine
„Aufführung des Jahres“, den „Sänger des Jahres“ und sogar den „Chor des
Jahres.“ Doch über die beste neukomponierte Oper des Jahres wollen sich die
fünfzig jährlich befragten Opernkritiker einer Berliner Fachzeitschrift für
„Musiktheater“ nicht äußern. Liegt es an der neuen Kategorie „Musiktheater“,
der man den alten Opernzopf abgeschnitten hat?

IX.
Wenn sich die befreite Kunst aber nicht mehr mißbrauchen läßt, scheint zu
folgen, daß sie sich auch nicht mehr für politische Zwecke gebrauchen läßt.
Konkret: daß ihre eigene Macht nicht mehr als politische Macht wirken kann.
Dies aber würde das äußerste Mißfallen des „zentralen Komponisten“ erregen,
wird er doch nicht müde, auch und gerade bei Gelegenheit von Festivals das
eminent „Politische von musikalischer Kunst“ zu verkünden.

Die Doppeldeutigkeit von „politisch“ nach Kräften gebrauchend, zwischen
weitem und engem, zwischen vieldeutigem und eindeutigem Sinn changierend,
wird das selbsternannte Politische des Metiers verkündet: „Kunst ist immer
politisch.“ Dahinter steht der beliebte Künstlerglaube, alles, was auf Menschen
(„umformbare Individuen“) und deren Kollektive wirke, sei als politisches Wirken
hochzudenken. In diesem („offenen“ Wort-) Sinne wäre sogar ein Opernfestival
eine politische Veranstaltung, aber natürlich auch jedes Fußballspiel von einiger
Bedeutung, und selbstverständlich auch jede Ordnung des Straßenverkehrs, der
wir, unseren Verkehrszeichen folgend, gehorchen. Autofahren als politisches,
Musikkomponieren als politisches Handeln und Wirken, so viel Politik war noch
nie im Spiel, man sollte beizeiten den Unterschied von indoor- und outdoor-
Politik einführen.

Wie soll aber eine Macht, die sich über jeder wirklichen politischen Macht
positioniert hat, wie soll die Macht der Kunst, die sich von den falschen
politischen Mächten der Welt befreit hat, zugleich doch als politische Macht und
politische Kunst wirksam sein können? Ganz einfach: durch ein Paradox. Denn
gerade in der für Politik nicht mehr gebrauchbaren Kunst, bestehe das (neue)
Politische der Kunst.

Allerdings haben wir mit dem postmodernen Zauberwort „Paradox“ – der
Konjunktiv der Formulierung ist verdächtig beredt -, den Boden leichtfüßiger
Utopie betreten. „Erst eine Kunst, die sich nicht für politische Beschriftung
vereinnahmen lässt, die ungeeignet ist, um Energieströme zu zerbrechen, um
Freiwilligkeit einzuebnen, wäre positiv politisch.“ Nach dieser grandiosen Logik
wäre das Politische politischer Parteien negativ politisch, um von dem
niederträchtig Politischen der Mächte Staat und Staatenbünde zu schweigen.
Nur eine Kunst, die von aller politischen Macht frei wäre, wäre höchste
politische Macht. Sophismen dieser Art, hätten die antiken Griechen nicht als
Witz, sondern nur als Ulk begrüßt.

Doch ist es nur konsequent postmodern gedacht, weil einem beliebten
postmodernen Grundsatz folgend: Kunst ist Kunst, und alles andere ist alles
andere. Aber unser „zentraler Künstler“ schleppt auch den modernen Grundsatz
als Gegenteil des postmodernen mit: Kunst sei zugleich auch wahre Politik. Die
eigentliche Politik der Künste, eine selbsternannte Reservepolitik, ist demnach
auch die eigentliche politische Macht. Und fast könnte man glauben, nur sie
hält uns moderne Menschen noch zusammen, nachdem alles andere zerfällt
und lügt und falsche Macht ausübt, indem sie unsere „Freiwilligkeit“ gängelt.
Konsequent wird verkündet: „Das Thema eines politisch deutbaren
Handlungsrahmens ist sekundär. Aber auf eine sehr substanzielle Weise: Denn
auch der anklagende Tenor einer inhaltlichen Konstellation wird als geformte
Gestalt durch die Faktur der Musik vorgetragen.“

X.
Diese Formulierungen sind vieldeutig vernebelt genug, um als Einsichten tiefer
Künstlergedanken Festival-Ehren zu finden. Sie besagen im Klartext: welche
Politik „die Politik“ macht, das ist der Politik Sache, nicht aber Sache der
wirklichen Menschen, deren wirkliche „inhaltliche Konstellation“ nur die „Faktur
der Musik geformte Gestalt“ verleiht. Die Energieströme der neuen Musik
führen doch noch zum neuen Menschen, wie schon Luigi Nono wußte und in
„realistischen Arbeiterkonzerten“ bewies, von denen Webern noch nicht
träumen konnte, weil er seinen geliebten bürgerlichen Konzertsaal nicht mit
den Fabrikhallen moderner Industriekonzerne vertauschen wollte.

Das kommunistische Credo lebt noch, allerdings bereinigt vom Ballast Klasse
und Proletariat. Neuerdings kann sich daher Musik, die sich den
„Herrschaftsansprüchen subversiv widersetzt“, als Ausdruck des „Menschlichen,
des Kreatürlichen und des Organischen“ feiern. Allerdings unter einer strengen
Voraussetzung: sie muß wirklich frei sein, und folglich stellt sich der Autor der
„entscheidenden Auskunft“ (allerdings in Form einer Frage): „Wie frei ist sie
selbst?“ Denn viele „gut gemachte Fakturen setzen selbst einen
Herrschaftsanspruch und auf manche protestbewegte Faktur lässt sich trefflich
affirmativ marschieren.“ Wodurch der Anspruch auf Herrschaftslosigkeit
„hinterrücks relativiert“ wird.

Das Festival-Publikum darf sich beruhigt zurücklehnen: neue Märsche zum
mitmarschieren sind nicht mehr zu erwarten. Schon von Nono und seiner
Generation sind keine überliefert, obwohl seine Musik doch an der Quelle
kämpfte: in den Hallen der Fabrikproduktion gegen „mechanistische
Unterdrückung.“ Von Fabriken, die infolge dieser Revolution abgerissen wurden
oder freiwillig Konkurs angemeldet hätten, wurde nichts berichtet.

XI.
Und wie soll nun dieser doppelte Kampf um die eigene Freiheit und die des
Menschen geführt werden? Abermals vernehmen wir die schon bekannt
Konjunktiv-Utopie: „Deshalb könnte es eine Strategie sein, alles Mechanische
fernzuhalten, eine Offenheit zu riskieren – auch auf die Gefahr der
Unfassbarkeit hin –, die durch ihre menschenähnliche Reaktionsweise keinen
Zweifel lässt: Im Mittelpunkt steht der Mensch mit seiner Wärme und
Unwägbarkeit; seine unvorhersehbare Nervenintelligenz, sein emotionaler
Reichtum, der nicht über den freiwillig akzeptierten Ideenschwerpunkt hinaus
ergründbar ist.“

Warum „könnte“, wenn das Können schon längst praktiziert wird? Gefunden
wurde, was gesucht wurde: der wirklich moderne und wirklich politische
Mensch, „der warme und unwägbare Mensch“ hat endlich seine ihm und seiner
modernen Offenheit entsprechende offene Kunst gefunden, und „auf die
Gefahr der Unfassbarkeit hin“ kann an der „menschenähnlichen
Reaktionsweise“ dieser Kunst „kein Zweifel“ sein.

An Selbstüberzeugtheit ist hier kein Mangel, allerdings unter einer bedenklichen
Klausel erkauft: „Denn sicher ist: Stellung zu beziehen heißt, für Augenblicke
auszublenden, dass Eindeutigkeit ein süßer Wahn ist. (Immerhin: ein süßer!)“

Wenn jeder Begriff sein Gegenbegriff ist, kann Eindeutigkeit allerdings nur mehr
ein Wahn von und für Dummköpfe oder von und für „mechanisch Unterdrückte“
sein. Wer jetzt noch in sein Smartphone glotzt und darauf herumwischt oder
digitale Tastaturen beklopft, dem fehlt alles, wozu ihn Kunst befreien,
erwärmen, öffnen, ja überhaupt erst zum wirklichen Menschen machen könnte.

Mit einem Wort: eine neue Religion ist erschienen, eine endlich wahrhaft
zeitgemäße Menschen- und Menschheitsreligion. Die Kirchen füllen sich nicht
mehr, die Bühnen für moderne Opernkunst könnten als moderner Ersatz in die
offene Bresche springen. Warum nicht Kunst als Religion? Unüberhörbar der
messianische Impetus dieses von sich selbst überzeugten Musikdenkens. Und
auch Adornos Hoffnung könnte sich vielleicht doch noch erfüllen: Revolution der
Gesellschaft und Überwindung des Kapitalismus durch revolutionäre Musik. War
seine Lehre von der Nichtidentität nicht schon der ahnende Vorbote der
(post)modernen Dogmatik, wonach alle Eindeutigkeit entweder mechanischer
oder süßer Wahn ist?

Juristen, seht Euch vor, Eure Gesetzbücher, die sich nach Regeln interpretieren
lassen, die jeder Jurist beherrschen muß oder sollte, haben sich etwas
Unmögliches angemaßt: Eindeutigkeit. Politiker, fürchtet Euch, die
Verfassungen Eurer Demokratien glauben noch an eindeutig verstehbare
Gesetze. Wie kalt und unmenschlich, wie verschlossen und dumpf, wie weit
unter aller Kunst und Musik.

XII.
Würde ein durchschnittlicher Zeitgenosse unserer Zeit das messianische Credo
des zentralen Festivalkünstlers lesen, und könnten wir ihm nach erfolgter
Lektüre ein Statement entlocken, wäre mit welcher Reaktion zu rechnen? Als
toleranter Genosse unserer Toleranzkultur würde er zunächst den Meinungen
des Künstlers Respekt erweisen. Denn Künstler, welcher Art und Richtung auch
immer, sollen ihr Ding machen, die Freiheit dazu ist jedem durch Gesetz
verbrieft. Dann aber, befragt nach seinen Vorstellungen von und Erwartungen
an Kunst, würde er sich gewiß offen zu seiner Art von Kunst bekennen, und
auch freudig erklären, daß „seine“ Kunst vollständig liefere, was er von ihr
erwarte, sie befriedige sein Kunstbedürfen vollkommen.

„Kunst ist für mich alles, was mich anrührt und emotionalisiert“, äußerte
kürzlich eine landesweit bekannte Kinderbuchautorin; daher ihr Bekenntnis:
„Kunst komme in den meisten Fällen unvermittelt.“ Sie erklärte ihr Kunsterleben
durch ein Bild, ein Bild, bei dessen Betrachtung „es plötzlich wow macht.“ Und
dieser Wow-Effekt, – er läßt sich offensichtlich eindeutig als Wow-Effekt
identifizieren und erleben – stelle sich keineswegs ausschließlich bei
„anspruchsvollen Werken“ ein. Sie mußte nämlich in ihrem langen
Kunsterleben-Leben entdecken, daß „der Grat zwischen Kunst und Kitsch ein
schmaler ist.“

Dennoch versuche sie nach Möglichkeit (über deren breite oder schmale Grate
kein weiteres Wort fällt) den Genuß von Kitsch von sich fernzuhalten. Denn
Kitsch, das sei nun einmal „die Erzeugung größtmöglicher Effekte mit den
allerbilligsten Mitteln.“ Das „ergreift mich zwar, ich bin sofort gerührt, aber ich
will das nicht haben.“ Denn sie will „unter ihrem Niveau weder lachen noch
weinen.“

Doch hat sie eine Schwäche, die zu gestehen keine Schamgrenze verbietet. Es
gibt da und auch dort, hier zuhause im trauten Heim und in Kanada einen
Singer-Songwriter, dessen Songs eine Ausnahme von ihrer Kitsch-
Enthaltsamkeit erzwingen. Schon als Teenager fand sie seine „Lyrics“ erregend,
aber „richtig beeindruckt“ war und ist sie von seiner unwiderstehlichen
Bühnenpräsenz. Diese „unheimlich erotische Stimme“, und wie er „so auf der
Bühne steht, mit seinen ganz dezimierten Hüftbewegungen, das ist einfach
grandios.“ Er spendet „Trost und Rat in allen Lebenslagen.“

Nach so viel Lob und Begeisterung wagt sie noch eine Zugabe: Zuhause und
daheim höre sie seine Musik immer beim Aufräumen und Putzen. Das sei zwar
„vielleicht“ eine „Beleidigung dem Künstler gegenüber“, aber das Leben ist nun
einmal das Leben. Spätestens hier können wir unseren Ausflug in die
Lebensrealität des heutigen Kunsterlebens beenden. Wir wissen nun, welcher
„warme und offene Mensch“ der wirkliche von heute ist, eine Wirklichkeit, die
nicht ausschließt, daß er sich einmal im Jahr in ein Festival für neueste Opern
begibt, um auch die andere Seite, die andere Kunst zu „seiner“ Kunst, vielleicht
deren Rück- und Kehrseite, kennenzulernen. Ohne Trost und ohne Rat zu leben,
könnte sich zwischendurch vielleicht lohnen. Auch Obdachlose kommen
irgendwie durch, diese sogar ganz ohne Kunst und ohne die „alles verändernde
Macht“ einer neuen Musik, von deren Existenz ihr müdes Ohr noch keinen Laut
vernommen hat.

XIII.
Ein kühner Kulturjournalist, der die Scheuklappen seiner Spezial-Zunft (Jazz, Pop,
Oper, Klassik usf.) für einen Augenblick abgelegt hätte, könnte nun versuchen,
den zentralen Festivalkünstler der modernen „Hochkultur“ mit diesem
emotionsgeladenen Bericht vom schmalen Grat zwischen Kunst und Kitsch zu
konfrontieren. Als missionierender Künstler, der seine Kunst als wahrhaft
wahren Ausdruck des offenen und freien Menschen von heute verstehe, müsse
er doch auch dazu einige offene Worte parat haben.

Nehmen wir an, eine Musikjournalistin, die jenen Singer-Songwriter gleichfalls
innig in ihr Herz geschlossen habe, wäre von ihrer Kulturredaktion beauftragt
worden, diesen ungewöhnlichen Job zu übernehmen. (Frage den Meister der
modernen Oper, was er von den Supermeistern unserer Welt-Songs hält?
Nachher wissen wir vielleicht mehr über das Geheimnis unseres
Kulturreichtums.) Die beauftragte Promibefragerin würde sich somit auch über
eine Musik informieren müssen, die bislang noch nicht an ihr Herz geklopft
hatte. Mit neuartiger Information gewappnet könnte sie wagen, einen zentralen
modernen Festivalkomponisten über die Wärmungen und Tröstungen zu
befragen, die moderne Singer-Songwriters vulgo Liedermacher in den Herzen
ihres Publikums zu erwecken. Möglich, daß sie mit bangem Herzen eine
donnernde Strafpredigt, eine musikpädagogische Moralpredigt mit
vernichtender Diagnose erwartet: Songs und Singer: nichts als unterdrückende
Mechanik, nichts als falsche süße Einfalt.

Doch wäre die Sorge unbegründet: Jeder vernünftige und mit der Vielfalt der
modernen Gegenwartskultur vertraute Komponist moderner Opern wird sich
hüten – Toleranz ist das zentrale Weiche auch vom mulitpluralen Kultur-Ei –
auch nur ein intolerantes Wort über weltweit erfolgreiche Entertainer, die mit
einfach tröstender Musik Millionen beglücken, zu äußern. Er wird seinen
fanatischen Kunstglauben und die Mission seiner Kunstutopie für einen
wichtigen Augenblick verleugnen. Denn schon im Moment der einfach
verstehbaren Frage der Journalistin weiß er wieder, was er nur in den
Rauschmomenten seiner Utopie vergessen hat: Es gibt in der modernen Kultur
noch andere, es gibt sehr viele Propheten und „zentrale Künstler“ als Befreier
und Beglücker sehr verschiedenartiger Kunst- und Musikgemeinden. (Der hier
untersuchte Opern-Musikdenker vom zentralen Salzburger Festival hat
allerdings einen ganz anderen Kunstgriff herausgefunden, um seinen
Antipoden auf der anderen Seite des Musikglobus Paroli zu bieten, – die
überraschende Volte wird am Ende dieses Textes diagnostiziert und beurteilt.)

Daher ist auch der scheinbare Paradesatz seiner Utopie: „Kunst ist immer
politisch“ nur als Zählwert eines endlos gebrochenen Nennwertes
anerkennungsfähig. Jeder Kunst ihre Politik, jeder Künstler als seine eigene
politische Partei: ein nicht mehr paradierender, ein bescheidener, ein
realistischer Satz, den schon sein Pate verkündet hat: Kunst ist Kunst, und alles
andere ist alles andere.

Mit anderen Worten: nicht acht Achtel und auch nicht zwanzig Zwanzigstel
„Zentren“, sondern allenfalls hundert Hundertstel machen das Ganze der
modernen „Hochkultur“ aus. Ein Ganzes mit hundert Zentren, – analog zur der
Idee der „Europäischen Kulturhauptstädte“, die vom politischen EU-Zentrum
Europas ersonnen wurde und seit einigen Jahren organisiert und vorgeführt
wird, – mit selbstverständlich erfolgreicher Auslastung. Und ebenso
selbstverständlich weiß jeder Künstler jeder Kunst, welche politischen Parteien
zu seiner Zeit angesagt und für Künstler wählbar, welche anderen als Todfeinde
der Menschheit verflucht sind. Wie schon Darwin von den Kulturen der höheren
Tiere wußte: nur die bestangepaßten überleben.

XIV.
Von diesen hohen Tieren könnte ein zwangloser Weg zu jenen noch höheren
Tieren unter Menschen führen, die zwischen menschlicher Hochkultur und
menschlicher Niederkultur zu unterscheiden wissen. Mit warmer Sympathie liest
der normale Zeitgenosse das Bekenntnis des zentralen Opernkomponisten, daß
Hochkultur nicht dort erscheine, wo etwas vorgeführt werde, „was nicht jeder
sofort versteht.“ Denn dieser Standpunkt wäre ein „sehr lebensfeindlicher
Standpunkt.“ Ein Standpunkt, dem man gern zustimmen möchte, wenn man
seine Begründung nicht gleichfalls lesen müßte: „Denn schließlich versteht
keiner das Leben und lebt doch gern.“

Die „Politik“ des Künstlers nimmt sich die Freiheit, ihr vermeintliches und mit
eitler Bescheidenheit vorgeführtes Nichtwissen allen Zeitgenossen zu
unterstellen. Von einer Gleichheit durch und an Nichtwissen wußte die
Französische Revolution noch nichts. Sie wäre vermutlich anders, humaner und
ästhetischer verlaufen, Künstler hätten Danton, Marat und Robespierre spielen
können. Wenn aber Kunst und Künstler ein universales Ignorabimus in den
Dingen des Lebens ausrufen, erhebt sich der Verdacht, sie könnten dabei in
eigener Sache denken und handeln, um das Ignorabimus ihres Tuns als
Bestätigung und Vollendung des universalen Nichtwissens zu bejubeln: Dinge
schaffen zu können, zu dürfen und sogar zu müssen, von denen wir nicht
wissen können, was sie sind.

Eine altgewordene Frankfurter Losung, einst ausgerufen, um das Besondere
alias Nichtidentische der Kunst gegen alle Vereinnahmung durch den Begriff
und dessen immer nur allgemeine und daher die Realität des Menschen
verfehlende Vernunft zu befestigen. Irratio durch Ratio begründen und
erklären: schon damals ein letzter Schrei „ästhetischer Vernunft.“ An diesen
weiß die postmoderne Vernunft nahtlos anzuknüpfen, hier mit der – als rational
vorgeführten – Einsicht: „Einfachste menschliche Regungen sind genuin
unverständlich.“ Welche Vernunft dabei das Zauberwort „genuin“ in welchem
Zauberhut gefunden hat, danach fragt heute keine Vernunft mehr. Daher die
ultimative Antwort aktueller Kabarettisten: jeder Topf findet seinen Deckel, eine
sofort-verständliche Auskunft, die auf dem Tisch keine Fragen mehr zurückläßt.

Allerdings fällt dem in die Jahre gekommenen postmodernen Künstler
mittlerweile auf, daß mit der Lehre von Nichtverstehen und Lebenswahn als
irrationalen Instanzen auch ein „Entsetzliches“ verbunden ist: „Der
verabscheuungswürdigste Verbrecher hat womöglich vergleichbare Emotionen
wie man selbst.“ Angesichts dieser Sackgasse: Künstler und Verbrecher in einem
und demselben Sack, ist guter Rat teuer. Irratio als Begründungsmacht einer
neuen und lebbaren Hochkultur ist den Stoff nicht wert, aus dem dieser Sack
geknüpft wurde.

Von diesem Sack ist auch der Weg zum Ort, an dem die ewige deutsche Keule
wohnt, nicht weit: Nazis musizierten und mordeten dennoch; Hitler und
Goebbels besuchten Aufführungen verständlicher Hochkultur. Kurz: diese
wurde mißbraucht und kann sich bis heute nicht gegen ihre Mißbraucher
wehren: ein Hollywood-Serienkiller, der sich als still-versonnener Bachhörer
präsentiert, wirkt ganz „besonders unheimlich.“

Aus diesem Missstand von Kultur und Menschheit führt nur noch ein Weg in die
Freiheit befreiter Kultur. Zunächst: Wahre Hochkultur darf nicht (mehr)
mißbrauchbar sein. (Eine These, die schon in der Eingangsthese, wonach die
Mächtigen der Geschichte bisher vor allem die Künste zu Erinnerungszwecken
mißbraucht hätten, anklang.) Daher die neue Losung: Endlich frei von allen
Mächtigen und frei von jedem Mißbrauch werden Kunst und Kultur sein. Die
„zweite Moderne“ der Postmoderne weiß Rat und Tat in misslicher (Kultur)Lage:
dem ultimativen Neubeginn von Kultur als erstmals humaner Hochkultur steht
nichts mehr im Weg.

XV.
Die neue Hochkultur werde auch eine wieder normale Kultur sein, ganz ohne
Unbehagen an den „verordneten Ikonen der sogenannten Hochkultur.“ Unnötig
zu bemerken, daß der neue Mensch, die neue Kulturnorm, nicht mehr auf
„verordnete Ikonen“ hereinfallen wird. Mit einem Wort: Nach der Losung nun
auch noch der Weg: von der sogenannten zur wirklich namhaft genannten
Hochkultur. Welche Ordnungsmacht falsche Ikonen verordnet, welche
Institutionen falsche Kulturen zu Hochkulturen ernannt haben oder ernennen,
bleibt ungeklärt.

Aber der nächste Satz bringt Klarheit und Lösung: „Hochkultur ist dadurch
etwas“, (und nicht nichts), „daß sie erst einmal dazu gemacht werden muß.“ Ein
existierender Tisch ist nicht vom Himmel gefallen. Der neue Tisch schon gar
nicht (mehr). Aber „die meisten“, so der zentrale Künstler seiner zentralen Kunst,
behaupten, daß die Kunst der modernen Hochkultur „so wahnsinnig kompliziert
ist, dass es nur kranke Gehirne wirklich begreifen.“ Wir kommen zum Punkt aller
Punkte, sein Name lautet „allzu kompliziert“, wobei offen bleibt, ob „wahnsinnig“
als Kompliment oder als Ohnmachtserklärung zu verstehen ist.

Nun ist wohl schon Millionen Menschen aufgefallen, daß die Kunst der Cohens
und Dylans mit erfreuender Komplexitätsreduzierung befriedet und tröstet. Und
just an diesem Normalitätspunkt hakt der subversiv schreibende Künstler ein.
Mit den normalen Vorwurfs-Spieß, den er „einfach“ umkehrt: Für „die meisten“
mag ihre Populär-Kunst sehr einfach und sehr verständlich sein, geradezu
selbstverständlich verständlich, – von den erfüllenden Emotionen, die von
Entertainern zu kitschoffenen Empfängerinnen fließen, ganz zu schweigen.

Aber für jene, die Hochkultur „erst einmal“ zu Hochkultur machen sollen und
auch können, gelten die Umkehrregeln von Einfach und Kompliziert, von
verständlich und unverständlich. Dies aber zu äußern und konkreter zu
begründen, sei ein Wagnis, das Wagnis eines Geständnisses, weshalb ein „Was,
wenn ich gestehe…?“ vorangeschickt wird, um ein bedeutendes „Outing“ einer
bedeutenden Abweichung vom Normalgeschmack anzukündigen. „Was, wenn
ich gestehe, dass mir die Unterhaltungswelt, die Popkultur, mit ihren
komplizierten Codes und Signalen unverständlich ist? Ich spüre da vor allem
eine übergriffige Macht, eine dunkle Materie aus Machtansprüchen und
Gleichschaltungsstrategien, die das Individuelle erbarmungslos niederhält.“
(Eine dunkle Macht, von der uns jede moderne Oper alias modernes
Musiktheater kuriert: Kunst-Katharsis vom Feinsten.)

Nun ist es also wirklich, nicht gesagt, aber immerhin geschrieben. Denn Sagen
wäre mehr: jener Journalistin öffentlich gestehend ins Gesicht zu sagen, daß
Cohens und Dylans Songs an Überkompliziertheit laborieren und folglich einer
unverständlichen Musiksprache anheimgefallen sind.

Am widerwillig erstaunenden Blick der Journalistin würde der sich outende
Künstler sofort verstehen, daß sie nicht mehr weiß, ob sie an seinem Verstand
zweifeln oder seine gespielte Verrücktheit als postmoderne Kabaretteinlage
bewundern soll. Fazit: Künstlern, die eine neue Hochkultur anschaffen, kann
man nicht trauen. Wer Dylan und Cohen als überkompliziert und unverständlich
taxiert, der verletzt die Standards selbstverständlicher Normalität. Er mutiert
vom tolerant sein sollenden Kulturmenschen in einen barbarischen
Sykophanten. Daß er die Logik und Einfachheit von Pop-Songs nicht verstehe,
weil er deren „komplizierte Codes und Signale“ nicht verstehe, diese
Lügenmünze könne sie ihm bei bestem Willen nicht abnehmen. Er schütze ein
Ungeheuer vor, als das er sich selbst und seine Kunst noch nicht erkannt habe.

Das „Also sprach“ dieses Zarathustra einer neuen Kultur spricht sich deutlich
genug aus: „Wir selbst entscheiden also durch unseren Umgang, ob es sich um
Kultur handelt.“ Wer dazu fähig ist, für den muß es ein Leichtes sein, auch
darüber zu entscheiden, was künftig „einfach“ und „kompliziert“ sein wird. Man
könnte beruhigend einwenden: dieser Größenwahn ist harmlos, er meint nur
sich und seine Klienten, nur seine Kunst und deren Agenten. Auch diesen Don
Quichote eines verwirrten Denkens wird die moderne Kultur überleben.

Schon daß es viele Künste und Künstler gibt, wird beim Zusammenprall der
erstmals „selbst entschiedenen Kultur“ mit der modernen Realität von Kultur
und Kulturen für die nötige Abkühlung sorgen. Und wenn nicht die Konkurrenz
im eigenen Haus zentraler Festivals, dann die bevorstehende Afrikanisierung
und Islamisierung Europas. Aber es ist fraglich, ob diese bevorstehende Wende
seinen mächtigen Thron politischer Individualmacht überhaupt erreichen wird:
„Da Kunst in ihrem Entstehen etwas radikal Individuelles ist. Übrigens ist genau
das auch das Politische an ihr.“

Wer mit allzu großzügigen Begriffen um sich wirft, outet nur den geblendeten
Hochmut und seines postmodernen Denkens und Redens. Wir leben in einer
Promikultur von Promis, die für sich trompeten und entscheiden, wohin der
Tross der Festivals und Kulturevents des Premium-Publikums wandern soll.
Diesem ist längst schon jedes Angebot recht, wenn es nur überzeugend
verkauft wird.
Leo Dorner, Dezember 2016