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37 Globale Chancengleichheit und nationale Notbremsen

I.

 

Eine erneuerte Linke könnte in Deutschland zu einem neuen weltkommunistischen Höhenflug ansetzen, wenn die Gewerkschaften und ähnliche sozial-ökonomische Organisationen des Landes, willige Parteien nicht ausgeschlossen, nicht mehr zögerten, Türkisch, Kurdisch und Arabisch zu lernen. Ein Appell als Teil eines Manifestes der neuen Linken, die ein neues Weltproletariat erspäht und zu unbegrenztem Asyl bewillkommnet hat. (Dietmar Dath: „Der rechte Lohn. Die Anständigen und die Abhängigen: Wie links und internationalistisch ist die soziale Frage noch?“ FAZ v. 3.11. 2017)

Warum aber nur diese Sprachen, bleibt des Propheten Geheimnis; vermutlich fehlt ihm noch die Übersicht über die Vielfalt der Sprachen, Nationen und Ethnien, die das Land von Karl Marx und Friedrich Engels heimgesucht und kulturell bereichert haben.

Aber das Kulturelle, so viel erinnern wir uns noch, ist doch nur der ideologische Überbau, nicht der wahre und wirkliche Unterbau. Wer die neuen Proletarier aus aller Herren Welt Länder daher zur wahren und richtigen ökonomischen Produktion und Selbstreproduktion des künftigen Deutschland und aller Welt führen möchte, sollte ihnen rechtzeitig reinen Wein einschenken. Ähnlich wie Karl Marx dem Präsidenten der USA, Abraham Lincoln riet, bei der Befreiung seines Landes von der Sklaverei nicht die wichtigere vom Kapitalismus zu vergessen (Brief vom 30.Dezember 1864, erschienen in „Der Social-Demokrat“.)

Wieder einmal ergeht der Ruf des Manifestes nicht nur an Deutschland, sondern an die ganze Welt. Die Befreiung von der Lohnabhängigkeit wird die tiefste und höchste Bereicherung schaffen, die umfassendste und universale: Gerechtigkeit und Frieden kehren endlich ins neue Haus der Vereinigten Menschheit ein.

Doch zur selben Stunde, da dieser – wieder einmal höchst gut gemeinte – Ruf an die Kandare der Revolution ertönt, wird aus aller Welt gemeldet, der Versuch, aus einigen oder gar allen Staaten der bisherigen Welt einen neuen und einzigen Staat zu machen, stoße schmerzhaft an borniert widerwillige Grenzen der immer noch vorhandenen Nationalstaaten.

Weil aber auch Nationalstaaten, in der richtigen Perspektive der reinen Lehre erblickt, nur der kulturelle Überbau ihrer nationalen Ökonomie sind, muß man wohl annehmen, daß der totale Vereinigungsversuch der transnational gewordenen Menschheit nicht nur an die territorialen, sondern tiefer und schmerzhafter noch an die Grenzen der unzähligen Volkswirtschaften der heutigen nationalen Staatenwelt stößt. (Nutzen wir die Gunst der späten Stunde: noch ist der Name „Volk“ im Namen „Volkswirtschaft“ unerkannt und unverdächtig. Noch arbeitet das Tribunal der Inquisition der rein zu waschenden Worte lückenhaft.)

Es ist eine entscheidende Stunde der Weltgeschichte: Der moralische Kosmopolitismus der neuen Linken steht entweder vor einer Neugeburt seiner marxistischen Ideologie oder diese samt jener werden nach ihrer neuerlichen globalen Fehlgeburt demnächst zu Grabe getragen.

Wenn Volkswirtschaften Staaten tragen, vertraglich verbundene Volkswirtschaften einen gemeinsamen Wirtschaftsraum, dann könnte vielleicht ein gemeinsamer Wirtschaftsraum, wenn er nur auf die richtigen kommunistischen Füße gestellt wird, das verheißene Heil der Zukunft verwirklichen? – Halbrichtig wäre die heutige EU demnach schon unterwegs, ganzrichtig und vollendet wird sie nach der letzten Kursberichtigung fähig sein, auch noch die letzten Reste des globalisierten falschen Bewußtseins zu säubern.

Der moralische Kosmopolitismus des globalistischen Marxismus (neuer Deckname: „kultureller Marxismus“) hat das Problem erkannt: Die Öffnung und Entsorgung aller nationalen Grenzen setzt nicht nur einen (noch) nichtvorhandenen Weltstaat voraus, er setzt auch eine (noch) nicht vorhandene Weltvolkswirtschaft voraus.

„Welthandel“, „Weltwirtschaft“, „Weltforum“, „Weltfrieden“ und ähnliche Globalworte gehen uns leicht und gedankenbefreit über die Zunge. Soziologen haben sogar mit „Weltgesellschaft“ kein Problem; ihre globalistischen Nebelkerzen versammeln sich jederzeit am heiligen Kult-Ort der „Weltgemeinschaft.“

„Es ist die Wirtschaft, Dummkopf“, dieser Satz, den Marx souffliert haben könnte, ist nicht zufällig den Wahlkämpfen in den USA entstiegen. Die Besserdenkenden benutzen ihn seither als (Totschlag)Wort, um Schlechterdenkende durch eine ausgesucht globale Beleidigung auszugrenzen. Dennoch unterschlägt oder vernebelt das verdammende
Wort (auch dem Dummkopf-Fluchwort wurde die politische Lizenz noch nicht entzogen) den gar nicht feinen Unterschied von „Weltwirtschaft“ und Volkswirtschaft.

 

II.

 

Eine zentrale politische Maxime Bush-Administration für den Nahen Osten und die Zweite (islamische) Welt lautete: zunächst in einem Staat (Irak) mit vereinten Kräften Demokratie installieren und stabilisieren, – als Keim und Same, der später in der gesamten Krisenregion Wirkung zeigen könnte. In fragilen Staaten nämlich, die seit mehr als einem halben Jahrhundert von innerem Zerfall bedroht und auf dem Weg zur rechtstaatlichen Demokratie stecken geblieben sind: im Morast vormoderner Monarchien, korrupter Gottessstaaten und brutal antidemokratischer Militärdiktaturen.

Nachdem dieses Projekt durch Obamas Rückzugspolitik, die der Politik der Schröder-Chirac-Putin Achse folgte, verfehlt wurde, herrscht angesichts der nicht endenden Flüchtlingsströme aus der Zweiten und Dritten Welt Ratlosigkeit und Verzweiflung. Nicht nur in der Ersten Welt, mehr noch in den Staaten der Krisenregionen selbst, die ihrem offenen Zerfall und einem brutalen Kampf gegen den Jihad der fundamentalistischen Islamisten ausgesetzt sind. Vom stets drohenden Glaubenskrieg zwischen Sunniten, geführt von Saudi-Arabien, und Schiiten, geführt vom Iran, zu schweigen. Ebenso vom 70-jährigen Krieg seit 1948, den die sonst eher verfeindeten Staaten der islamischen Staaten gegen dem gemeinsamen Feind Israel führen, um diesen vermeintlich vergifteten Keil des westlichen Imperialismus zu vernichten.

In dieser Stunde der Ratlosigkeit und Verzweiflung scheint eine neue Ideologie gerade recht zu kommen. Nicht mehr müsse man die zurückgebliebenen Staaten und Kulturen in deren Hemisphäre säkularisieren und demokratisch missionieren, sondern die Flüchtlingswellen seien als Chance einer neuen Art Völkerwanderung zu erkennen und zu nutzen. Völker haben nach neuer („globalistischer“) Deutung das selbstverständliche Recht, in jedem anderen Land einzuwandern und seßhaft zu werden.

Das zentrale Dogma der neuen Ideologie verkündet: Wer „Chancengleichheit für alle Menschen“ anstrebe, könne auf die noch existierenden Nationalstaaten und deren autonome Grenzen wie auch politische und ökonomische Selbständigkeit keine Rücksicht mehr nehmen. Ein Dogma, das vom aktuellen katholischen Papst bereits theologisch abgesegnet wurde: „Jeder Flüchtling ist ein Geschenk Gottes.“

Nachdem die politische Haltlosigkeit dieser Ideologie in Essay (36) gezeigt wurde, fehlt noch eine Erörterung ihrer ökonomischen Haltlosigkeit. Wie vorhin schon angedeutet, basieren die Staaten dieser Welt auf ihren Volkswirtschaften. Diese Basierung ist keine umfassende, keine erst- und letztbegründende, wie der Marxismus und sein kommunistisches Weltmodell glaubte, weil von der ökonomischen Basierung die kulturellen Basierungen der Nationalstaaten, die ihrer Sprache und Religion, ihrer Geschichte und Tradition, ihrer Sitten wie Unsitten konkret zu unterscheiden sind. Es ist der Überbau, stupid, der sich ständig in die Machenschaften des Unterbaus einmischt. Wer gegen die globale Vermarktung von Google, Amazon, Facebook argumentiert und mit rechtlichen und Protest-Schritten droht, gesteht ein, daß er seine eigene Global-Praxis nicht mehr mit marxistisch-leninistischen Doktrinen begründet.

Wer nun das „Gebot einer globalen Chancengleichheit für alle Menschen dieses Planeten“ zu begründen versucht, pflegt als ersten Beweis für die Überholtheit aller Nationalstaaten die große Phalanx an Institutionen anzuführen, die scheinbar einer zentral organisierten und institutionalisierten Weltgemeinschaft entstammen. Weltbank, IWF, WTO, IEA, BIZ bis hin zu G8 und G20 werden angeführt, um als bewiesen vorzuführen, was nur durch die irreführende Sophistik täuschender Welt-Worte erschlichen wurde.

Unzählbare Zoll- und Handelsabkommen zieren die moderne „Weltwirtschaft“, aber Verträge und deren Kontrolle und Vollzug sind nicht dasselbe wie eine Weltwirtschaft als politisch und ökonomisch verantwortliches Handlungszentrum. Eine „Welt-Volks-Wirtschaft“ mag am Ende der angestoßenen Entwicklung stehen, aber dieser potentielle Anfang eines Weltstaates und seiner Weltökonomie liegt, wenn er jemals wirklich werden sollte, in ferner Zukunft.

Die diversen Organisationen für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung mögen daraufhin arbeiten, indem sie unbewußt anstreben, was vorerst noch nicht Gegenstand bewußter Pläne sein kann. Denn auf unabsehbare Zeit wird niemand wissen, welches „Menschheitsvolk“ sich durch welche Prozeduren in einem durchaus möglichen Weltstaat zusammenfinden wird. Und welcher Art seine (Welt)Regierung sein wird, nachdem die vielen Völker und Kulturen der Gegenwart alle noch kommenden Clashes of Civilizations hinter sich gelassen haben werden.

Als zweiter Beweis wird die Entstehung und Existenz vieler gemeinsamer Wirtschaftsräume (ASEAN, MERCOSUR, EFTA, EAWU usf.) in aller Welt angeführt. Dabei wird mit unschöner (verdächtiger) Regelmäßigkeit unterschlagen, daß die handelnden Subjekte dieser Vergemeinschaftungen doch die Staaten sind und bleiben, nicht aber die Staatengemeinschaft als autonomes und institutionalisiertes Subjekt agiert. Die sich verbindenden Staaten mögen sogar gemeinsame Institutionen zum Austausch ihrer Verhandlungen gründen, auch gemeinsame Regeln und Gesetze erlassen, dies ändert nichts am Unterschied der realen Akteure von ihren gemeinsamen Institutionen, denen – teilweise – die Aufgabe übertragen wird, den Vollzug der bereits abgeschlossenen Verträge zu kontrollieren und die Möglichkeit weiterer Verträge zu sondieren.

Wie noch die innigsten Freunde trotz ihrer tiefen Freundschaft selbständige Personen bleiben, und die Rede von einer Eheperson, zu der die Ehepartner verschmelzen, eine gutgemeinte Metapher für gelebte Liebe ist, so bleiben auch Staaten in sogenannten Staatengemeinschaften selbständige Einheiten und Subjekte, denen schon das Völkerrecht gebietet, ihrer Volkswirtschaft und ihren Staatsbürgern verpflichtet zu bleiben.

Einzig der Sonderfall EU scheint den großen Sprung zu wagen: Die Europäische Union bestimmt zu ihrer gemeinsamen Mitte eine Institution als politisches Zentralorgan mit legislativer, exekutiver und juridischer Handlungsmacht für (gegenwärtig) 27 europäische Staaten.

Wie in einem Versuchslabor der Menschheit lassen sich an diesem Modell, das seit etwa 1985 ultimativ als grenzenloser Schengenraum realisiert wird, alle Probleme und Krisen studieren, die unausweichlich eintreten, wenn sich nationale Volkswirtschaften in die Gemeinschaft einer übernationalen Kontinentalwirtschaft auflösen sollen. Es sind ganze Kaskaden an Verwerfungen und Kollisionen, die das Experiment durchläuft; und ob es nun wirklich läuft oder nur geht, oder schleicht und stolpert: Unbeantwortet im Dunkel der Zukunft verharrt die existentielle Frage, ob die Neuerschaffung Europas dieses zum Problemkind oder zur Musterknäbin der künftigen Menschheit machen wird.

Wird nämlich die Auflösung der Nationalstaaten einem überstaatlichen Zentrum übertragen, einem scheinbar oder wirklich demokratisch legitimierten Überstaat (dessen künftiger Name unbekannt bleibt), muß dessen Gewaltenteilung zwischen Judikative, Legislative und Exekutive notwendigerweise mit den gleichnamigen Gewalten der Nationalstaaten kollidieren, – in jedem Feld und Bezirk von Wirtschaft, Politik und Kultur. Nicht nur mit deren obersten Entscheidungsträgern und Ministerien, sondern auch mit deren zentralen Behörden und zugehörigen Verwaltungsapparaten. Und nicht zuletzt, obwohl fast schon vergessen: mit den Mentalitäten der „Völker der Vaterländer“, – mit den Massen der Einzelbürger und ihrer Korporationen, über deren Köpfe hinweg die allwissenden politischen und ökonomischen Eliten befinden und entscheiden.

Es ist weniger der triviale Grund der nationalen Souveränität, der zu Konflikten führt, – diese verspürt allerdings bei der Annäherung einer übernationalen Souveränität das irritierende Gefühl invadierender Fremdherrschaft. Es ist vor allem ein historischer Grund, der zu unversöhnlichen Verwerfungen führt: Die Mitgliedsstaaten stehen nicht auf gleicher Entwicklungsstufe, weder in ihren Volkswirtschaften noch in der demokratischen Qualität ihrer politischen und kulturellen Systeme, weil sie sich mit oft sehr verschiedenen Herkünften herumschlagen und daher mit verschiedenen Geschwindigkeiten in die Zukunft bewegen.

Obwohl sich durchwegs alle Staaten der EU als moderne Demokratien ausgewiesen und unter rechtsstaatlichen Titeln zur neuen Gemeinschaft verschworen haben, differieren sie doch in vielen Punkten und nicht selten unversöhnlich. Die Bucht von Piran gehört doch längst schon allen Staaten der EU, sollte man glauben…

Formell, auf dem Papier unzähliger Verträge, verpflichten sich die europäischen EU-Nationalstaaten nicht nur für ihre eigene Bevölkerung, sondern auch für die 26 anderen Mitgliedsstaaten alle sozialen Rechte (Arbeit, Aufenthalt, Familien, Versicherungen, Pensionierungen usf.) zugänglich zu machen. Indem jeder Staat und dessen Volkswirtschaft seine nationalen Rechte mit denen anderer Nationen teilt: Quelle eines Systems gemeinsamer EU-Rechte, soll am Ende des erfolgreich zurückgelegten Weges der Selbstverlust aller zum Selbstgewinn aller führen: Ein siegreicher und mächtiger Kontinent, der mit seinem gewaltigen gemeinsamen Wirtschaftsraum im Konzert der anderen Weltmächte als gleichberechtigte Weltmacht mitspielen wird.

Und im Zuge dieser Eroberung einer gemeinsamen europäischen „Volkswirtschaft“ werden die Nationen Europas zugleich zu einer Nation oder Übernation, zu einem europäischen Volk oder Übervolk zusammenwachsen. Welche gemeinsame Sprache die (gegenwärtig) 27 Nationen dann pflegen werden, ob Englisch oder Esperanto oder eine andere, dies sei eine sekundäre Frage. Politische Modelle, die der Logik praestabilisierter Harmonie folgen, eröffnen viele Hoffnungen. Wenn der Nationalstaat zum Teufel geht, kann der Überstaat EU vom Himmel des Tausendjährigen Friedens herabsteigen.

Offensichtlich weist dieses spezifisch europäische Vereinigungs- und Auflösungsdenken eine gewisse Verwandtschaft mit der globalistischen No-Border-Ideologie auf. Weshalb sie deren Vertretern auch wie ein alternativloses Gesetz der Geschichte, dem zu folgen moralische Pflicht sei, erscheinen muß. Wie Europa zusammenwächst, so demnächst die ganze Menschheit. Das große Europa wurde zur Avantgarde der Menschheit berufen, eine Ehre, zu der man nur einmal berufen wird.

Und dieser großen Avantgarde, der Phalanx der 27, geht nochmals eine auserwählte Avantgarde mit bewährter Gründlichkeit voran: Die künftige deutsche Nation wird kunterbunt, von der bisherigen deutschen Nation finden sich bald nur noch Spurenelemente. Das hohe Ziel der innovativen Eliten heiligt viele neue politische Mittel, die nur den Ewiggestrigen grausam und unrechtens erscheinen.

 

III.

 

Zwar unterstützt die EU die nationalen Volkswirtschaften und fördert eine Vielzahl von Projekten in ganz Europa mit den Mitteln eines gemeinsamen EU-Haushaltes. Aber die Volkswirtschaften und deren Regierungen bleiben letztverantwortlich, wenn sie von der EU ermahnt werden, die oft extrem unterschiedlichen sozialen, juridischen und nicht zuletzt ökonomischen Standards in den Nationalstaaten zu beseitigen. Die Beseitigung der hohen Schuldenlast und (Jugend)Arbeitslosigkeit im gesamten EU-Raum ist beispielsweise ein Dauerthema auf jedem EU-Gipfeltreffen, bei dem mit schöner Regelmäßigkeit das treuherzige Mantra vom „Nur gemeinsam“ (lösen wir „unsere“ Probleme) beschworen wird.

Dabei treibt die EU einen merkwürdigen, halb beabsichtigten oder auch nur unbemerkten Keil in die für ihre Volkswirtschaften verantwortlichen Nationalstaaten, wenn sie nicht diese, sondern deren „Regionen“ anruft, mit der EU gemeinsame Sache(n) zu machen. Ein gefährlicher Appell, der hoffentlich nur in Katalonien als Weckruf zu „mehr Demokratie“ verstanden wird. Schotten, Wallonen, Flamen und viele anderen warten bereits, auch mit dem Rückenwind namens Brexit in den Segeln, ihre Regionen als neue oder erneuerte Nationalstaaten zu gründen. Gegen das Schreckgespenst einer „EU mit 95 Staaten“ wurde in der Brüsseler Zentrale bereits ein vorauseilendes politisches Veto ausgerufen. Dabei sind es oft gerade die wirtschaftlich stärksten Regionen der bestehenden Nationalstaaten (Katalonien, „Padanien“), die vom Virus der Sezession erfaßt werden.

Mit einem Wort: die EU ist schon innerhalb ihres Gebietes (ursprüngliche Idee: die zu vereinigenden Vaterländer) ein nur schwacher globaler Akteur, und außerhalb der EU wurde überhaupt noch keiner gesichtet, der die Pflichten und Aufgaben der nationalen Volkswirtschaften übernehmen oder ersetzen könnte. Appelliert beispielsweise das UNO Flüchtlingswerk (UNHCR) an die EU, mehr für Migration und Integration zu unternehmen, wendet sich diese umgehend an die betroffenen Nationalstaaten. Prompt zeigen sich diese uneinig bezüglich der zu befolgenden Methoden und zu erreichenden Ziele. Worauf die EU mit (un)schöner Regelmäßigkeit ihr eingeübtes Mantra „Nur gemeinsam“ verkündet. Eine ermüdende Prozedur und Litanei, die das Vertrauen in eine zukunftsfähige EU geradezu systematisch untergräbt.

In der Perspektive der globalistischen Ideologie kann die herrschende globale Ungerechtigkeit nur durch eine globale Gerechtigkeit überwunden werden. Und weil diese nur durch globale Chancengleichheit erreicht und durchgesetzt werden kann, ist ab sofort die globale Chancen-Ungleichheit zu beseitigen. Der ehrwürdige Klassenkampf der marxistischen Ideologie wurde durch einen kontinentalen Massenkampf ersetzt, durch einen kontinentalen Kampf der Drei Welten der gegenwärtig existierenden Menschheit. Daher die Proklamation eines Rechtes auf universale Völkerwanderung und gleichen Reichtum für alle.

Im Vergleich zu Menschen, die in Deutschland, Italien oder Schweden leben, sind Menschen, die in Nigeria, Ägypten oder Jordanien leben, einer extremen und unmenschlichen Ungerechtigkeit ausgesetzt, lautet die Parole, die der utopischen Proklamation scheinbar unwiderlegbar folgt. Proklamationen und Parolen dieser Spezies bemerken nicht, wie schon erwähnt, daß sie eine noch nicht vorhandene Menschheits-Institution, einen noch nicht vorhandenen Meta-Staat (Weltstaat) als vorhanden voraussetzen. Bei diesen könnten die besagten Menschen allerdings gegen das Unrecht, das ihnen ihre Nationalstaaten und –kulturen zufügen, rechtmäßig klagen. Bei den utopisch vorausgesetzten nicht einmal den Diebstahl eines Taschentuchs.

Ein Meta-Staat (der utopische Embryo eines Weltstaates) soll als Hüter der höchsten, wenn auch erst noch kommenden Gerechtigkeit, eingreifen. Diese Proklamation führt zu den diversen Menschenrechtsgerichten und Strafgerichtshöfen der UNO und vor allem der EU, die daher nicht frei sind von der Versuchung, sich als Organe eines schon existenten Menschheitsstaates zu interpretieren.

Ob beispielsweise ein von Nationalstaaten erlassenes Burkaverbot den Freiheitswerten der Ersten Welt widerspricht; ob eine Mutter berechtigterweise die Abnahme eines Kruzifixus von der Schulzimmerwand fordert, weil ihr Kind durch das Symbol gegen seinen Willen religiös indoktriniert werde, diese und ähnliche Fragen zu entscheiden, sind neuerdings national geborene, aber international urteilende Richter berufen. Sie allein werden für versiert genug erachtet, im täglichen Clash of Civilzations, der viele und überaus unverträgliche Werte und Rechte durcheinander taumeln läßt, rechtskundig zu befinden. Neue Genies für eine neue Menschheit wurden gefunden. Daß ein Minimalkonsens zwischen den drei Welten („Weltethos“) nicht das gesuchte Goldene Ei einer neuen (vorerst noch „multikulturellen“) Menschheit sein kann, haben sie bereits herausgefunden.

Wird aber der westliche Kolonialismus als Verursacher der globalen Ungerechtigkeit namhaft gemacht, wird Anklage gegen die heutigen Nationalstaaten als Erben der ihrer Vorgänger-Generationen erhoben. Zwar wird diese beinahe alttestamentarisch mythische Ideologie epochenübergreifender Sippenhaftung, die kongenial mit der globalistischen Ideologie totaler Chancengleichheit harmoniert, manchmal durch christlich-theologische Begründungen, die an Unbestimmtheit nichts zu wünschen übrig lassen, abgeschwächt. Die Struktursünde einer Welt, die immer noch eine „Drei-Welten-Welt“ zuläßt, läßt sich christlich theologisch nur dem „„Fürsten dieser Welt“ anhängen, der entweder oder auch nicht mit dem Teufel höchstpersönlich unter einer Decke steckt.

Gegen die Verschwommenheit der christlich theologischen Geschichtskategorien lassen die der islamisch theologischen an Bestimmtheit und Entschlossenheit nichts zu wünschen übrig. Kennt das Haus des Islams prinzipiell keine Grenzen, ist sein Anspruch auf globale Weltherrschaft auch unter dem Prinzip einer religiös gebotenen Verstellung durchsetzbar. Dagegen hilft den friedliebenden Gemütern in der Ersten Welt nur die liebgewordene Vorstellung, jeder Moslem laufe nach seiner Ankunft in Europa sogleich ins Lager der Frieden schaffenden Demokratien über, moderate Moslem verwandeln sich erwartungsgemäß in „lupenreine“ Demokraten.

 

IV.

 

Eine Volkswirtschaft wirtschaftet unter dem Ziel, ein gemeinsames Bruttosozialprodukt zu erwirtschaften, das dem Staat dient, seine Pflichten als Staat zu erfüllen. Diese Pflichten sind nicht nur, aber vor allem, Pflichten des Nationalstaates gegenüber seinen Staatsbürgern, mögen diese noch so vielsprachig und multiethnisch sein. Primär sind zu nennen: Bildungssystem, soziale und medizinische Versorgung, öffentliche und staatliche Sicherheit sowie nicht zuletzt Beschäftigung.

Versucht man die nationalen Volkswirtschaften in übernationale Kontinentalwirtschaften überzuführen, folgt unausweichlich, wie schon angedeutet, ein wirtschaftspolitischer Kulturkampf. Jenen, die überzeugt sind, daß der Nationalstaat zum Teufel gehen soll, stehen andere gegenüber, für die der Überstaat EU der Teufel ist, den es zu bekämpfen gilt, auch wenn er einen Tausendjährigen Frieden verspricht.

Weil aber viele Segmente der nationalen Volkswirtschaften längst schon international interagieren, entweder bilateral oder multilateral – ohne Außenhandel und ohne internationale Geldmärkte wären die nationalen Volkswirtschaften verurteilt, als Insulaner in einem Meer von Nicht-Insulanern zu überleben -, sind die je aktuellen Fronten des wirtschaftspolitischen Kulturkampfes volatil, oft kaum deutlich erkennbar, in jedem Fall umstritten und der beliebigen Meinungsbildung ausgeliefert. Maximen wie „Denke global, handle national“, lassen sich mühelos umkehren und dadurch als hohle Meinungspolitik entlarven.

Dennoch firmiert die nationale Volkswirtschaft auch in gemeinsamen Wirtschaftsräumen, etwa im Schengenraum der EU, zumindest auf gleicher Höhe mit der des multinationalen Wirtschaftsraumes. Verpflichten sich beispielsweise alle EU-Staaten eine bestimmte, sogar vertraglich festgehaltene Schuldengrenze ihrer Haushalte zu erreichen und einzuhalten, dann gewiß auch, um den gemeinsamen EU-Haushalt bedienen zu können. Doch nicht weniger, eher mehr, um nicht als nationale Volkswirtschaft in die Binsen zu gehen.

Geschähe dieses, wäre auch jener, der multinationale Wirtschaftsraum, über Bord der Geschichte gegangen. – Ein anderes Beispiel: Abertausende Produkte, auf und aus asiatischen Arbeitsmärkten hergestellt und geliefert, werden in Europa verkauft. Import und Konsum kommt den europäischen, Export und Beschäftigungsquote kommt den asiatischen Nationalstaaten und Wirtschaftsräumen zugute.

Errichten aber europäische Großfirmen in den außereuropäischen Staaten produzierende Wirtschaftsenklaven, die oft enorme Umsätze erzielen, ebenso asiatische Firmen in Afrika oder auch schon in Europa, wird das Problem der „Globalisierung“ wirklich greifbar. Ersichtlich an den vor allem finanzrechtlichen Diskussionen über die abzugeltenden Steuern: wo, wie und wie viel? – bestimmt welcher Nationalstaat oder welcher Wirtschaftsraum?

Eine „global vernetzte Welt“ ist folglich noch kein wirklich politisch gemeinsamer Wirtschaftsraum, ihm fehlt noch das gemeinsame Subjekt: eine gemeinsame politische Macht-Institution, die bestimmt und ansagt, führt und haftet. Eine verantwortliche Weltregierung für einen Weltstaat als wirklich gemeinsamer Weltgesellschaft liegt noch weit hinter unserem Zukunftshorizont.

Deshalb argumentieren die Ideologen einer sich angeblich von selbst realisierenden „Globalisierung“ sophistisch: als moderne Utopisten. Sie müssen eine „gemeinsame Menschheit“ als schon vorhandenes gemeinsames Subjekt unterschieben. Utopische Legitimationen sind nur erhoffte und prophezeite, sie müssen ihren aktuellen Status als Wunschdenken und „Zeichensetzen“ erst noch hinter sich lassen.

Aus der langen Liste der manifest gewordenen Widersprüche folgt einsehbar, daß sich das Gebot einer „globalen Chancengleichheit für alle Menschen der Welt“ nicht rational begründen läßt. Daraus wiederum, daß sich das Gebot, „Völkerwanderung“ und Zuwanderung zu kontrollieren, von den real vorhandenen Nationalstaaten weder moralisch noch rechtlich zurückweisen läßt. In Europa allerdings unter einem speziellen Vorbehalt: sofern sich der gemeinsame Wirtschafts- und Rechtsraum (Schengen/ EU) als unvermögend erweist, eine wirklich gemeinsame Sicherung der Außengrenzen, eine wirklich gemeinsame Kontrolle der Zuwanderung, eine wirklich gemeinsame Integration der Immigranten zu organisieren. Ein bislang manifestes Unvermögen, das auch UNO und NGOs auf absehbare Zeit nicht beseitigen werden.

 

Leo Dorner, Dezember 2017