42 Was ist ein Ereignis?
I.
Wie das Muster einer Nominaldefinition begegnet uns der Satz: Ereignis ist
etwas, das geschieht. Wir wittern Betrug, hohles Urteil und leere Phrase.
Verständlich, weil unser Alltagsdenken nicht mit Tautologien operiert; wir
denken und reden zumeist in inhaltlich erfüllten Begriffen und logisch
unterscheidenden Worten. Demzufolge ist ein Ereignis ein herausragendes
Geschehen, das sich von nichtherausragenden erkennbar unterscheidet. Gibt es
Ereignisse, gibt es auch Nichtereignisse, und beide gibt es nur gegen- und
miteinander. Folglich immer gleichzeitig und an jedem Ort der natürlichen und
geistigen Welt.
Wie denkt unser Denken, wenn es Ereignis von Nichtereignis unterscheidet?
Weiß es um diesen Unterschied, weil es durch Erfahrung und Lebenserfahrung
darüber belehrt wurde? Oder weiß es darum schon vor aller Erfahrung,
sozusagen schon seit oder vor seiner Geburt? Weiß schon jeder Neugeborene
um diesen Unterschied, obwohl er ihm anfangs verdeckt sein muß, da ein Geist,
dem alles neu erscheint, unaufhörlich von Ereignis zu Ereignis eilt, weil er
überall Ereignisse erblickt, Wunder über Wunder, gänzlich frei von Gedanken,
Begriffen und Worten.
Am anderen Ende dieses anfänglichen Extrems menschlicher Welterfahrung
steht das spätere Extrem des philosophischen Nachfragens. Jetzt wird beurteilt
und erfahren erfahren, jetzt sind Worte und Begriffe in den Geist des Menschen
eingekehrt, und was ein Ereignis ist, das scheint in der Macht des Menschen
oder seines Schicksals zu liegen. Aber eben diese Behauptung versucht das
philosophische Fragen, das allen Begriffen auf ihren Grund leuchten möchte, in
Frage zu stellen.
Wenn Philosophie im traditionellen Sinn ontologisch fragt, ist sie denkbar weit
entfernt von der Realität des modernen Lebens, seiner wissenschaftlichen oder
meinungsfreien Weltauffassungen. Allerdings gibt es auch moderne
Ontologien, aber dazu später. Läßt sich auf der Ebene der traditionellen
Ontologie ein klarer (und somit logischer) Unterschied von Ereignis und
Nichtereignis begründen? Wie wäre ein geschehendes Dasein namens Ereignis
von einem geschehenden Dasein namens Nichtereignis unterscheidbar?
Existiert ein ontologischer Unterschied zwischen beiden Arten von Dasein?
Daß beide, Ereignis und Nichtereignis, nicht wie Sein und Nichts, nicht wie
Dasein und Nichtdasein unterschieden sein können, scheint evident, wenn, wie
gezeigt, Ereignis und Nichtereignis untrennbar aufeinander verweisen. Beide
können auch nicht von einem Nichts „umgeben“ und getragen sein, nicht von
einem Nichts, in dem sich aller Unterschied verliert und daher keiner begründen
läßt. Schon weil sich im Nichts kein Werden von Etwas begründen läßt. In
diesem Fall hätten wir eine nihilistische, eine sich selbst aufhebende und
vernichtende Ontologie irrtümlich bemüht, einen ontologischen Unterschied
von Ereignis und Nichtereignis zu begründen.
In der antiken Ontologie, sei es der Idee, sei es der Entelechie des unbewegten
Bewegers, mußte daher die vermittelnde Kategorie des Werdens zwischen dem
als ewig vorgedachten Sein und dem wechselnden Dasein eingeschoben
werden. Das Werden wurde auch als Bewegungsursache nötig, um den
unaufhörlichen Wechselkurs von Ereignis und Nichtereignis zu erhalten. Doch
damit wurde das Werden selbst ambivalent: zum einen Teil dem ewigen Sein
verhaftet, zum anderen Teil die Bewegung von Dasein zu Nichtdasein und
zurück, von Ereignis zu Nichtereignis und zurück antreibend und begründend.
Dieser Ambivalenz entzog sich nur der antike Skeptizismus, freilich um den
Preis, daß er nicht mehr sagen konnte oder wollte, ob die Welt (und mit ihr der
Mensch) ein Ereignis oder ein Nichtereignis sei. Richtig bleibt an dieser Position,
daß ein Nihil negativum, ein nichtseiendes Nichts, keine Spur von Werden
enthält, kein Verändern und kein Geschehen, und daher nicht in die (logische)
Auseinandersetzung zwischen Ereignis und Nichtereignis eingreift.
Es ist gewissermaßen zu allgemein oder „jenseitig“, um die gestellte
Ereignisfrage beantworten zu können. Gewiß kann ein ontologischer
Begriffsunterschied auch bei ihnen nicht geleugnet werden, denn ohne Nichts
und Nichtseiendes sind auch Sein und Etwas nicht denkbar. Aber sie grundieren
und begleiten „nur“ Fragen der Art: Warum gibt es überhaupt etwas und nicht
vielmehr (nur) nichts?
Behauptete jemand: nur das Nichts und das Nichtseiende seien ein wirkliches,
ein geschehendes Nichtereignis, hätte er den schon gewonnenen Unterschied
von a) geschehendem Dasein namens Ereignis von b) geschehendem Dasein
namens Nichtereignis wieder verloren und vernichtet. Auch der Tod des
Menschen ist ein Ereignis, und bekanntlich kein nicht herausragendes.
II.
Daß alle ontologischen Bemühungen, ‚Ereignis‘ als logische Kategorie zu
denken, für alle Wissenschaften und für das alltägliche Denken des Menschen
irrelevant sind, versteht sich gleichsam von selbst. Es regiert der Konsens des
common sense: weder existiert eine über alles übergreifende und in allem
anwesende Definition von Ereignis, noch läßt sie sich durch spekulative
Gedanken-Experimente finden.
Folglich obliegt es den speziellen Wissenschaften der Natur und des Geistes,
von der Kosmologie bis zur Biographie, im Realitätsbereich ihrer Gegenstände
die jeweils geltenden Begriffe von Ereignis zu finden und zu formulieren. Die
Supernova von 1054 wurde von einigen zufälligen Beobachtern durchaus als
Ereignis registriert. Ein neuer Wandelstern, fast so groß wie Jupiter, schien
geboren, der die anderen Wandelsterne vulgo Planeten für einen Moment, der
etwa ein Jahr dauerte, zu Nichtereignissen degradierte.
Was das Ereignis bedeutete, und wie es zu lesen sei, entzog sich den damaligen
Himmelswissenschaften gänzlich. Erst viel später wurde das Ereignis
„Krebsnebel“ entdeckt, doch sorgten ungezählte weitere kosmische „Nebel“, die
Hunderte Jahre später nach und nach und nunmehr ohne absehbares Ende
entdeckt wurden und werden, daß dieser eine unter Myriaden von „Nebeln“ nur
noch in den modernen Himmelswissenschaften jene Aufmerksamkeit erreicht,
die ihm den Status von Ereignis zusichert. Beide Ereignisse, Supernova und
Krebsnebel, verhalten sich wie Ursache und Wirkung, wie unmittelbares und
reflektiertes Erlebnis, wie Ereignis und Nicht(mehr)Ereignis, obwohl uns die
Astronomie versichert: Das Geschehen im Krebsnebel von heute gestalte sich
überaus ereignisreich.
In unserem vorwissenschaftlichen Alltagsleben sorgt dieses selbst für einen
unaufhörlichen Wechsel von Ereignis und Nichtereignis. Geburtstage und
andere Feiertage en famille zieren den Fluß des Lebens durch neue oder sich
wiederholende Inseln, ohne doch die Inseln oder Inselketten der Leidens- und
Schmerzenstage vergessen zu machen. Als die wöchentlichen Feste und die
herausgehobenen Feiertage des Kirchenjahres das Leben der westlichen
Gesellschaften noch verbanden, gestalteten die Inseln sich gleichsam zu
Brücken über den Fluß des alltäglichen Lebens hinüber zu einem anderen und
höheren Leben.
Wäre kein Mensch, wer sich nicht nach herausragenden Ereignissen sehnte. Ein
„Promi“ zu sein, dürfte im menschlichen Leben der Ereignisse größtes sein: wer
schon als Name und Person über alle Namenlosen hinausragt, dem kann nicht
mehr geholfen werden. Seine Familie sind alle anderen, die zu seiner Fan-
Familie gehören. Treffen wir im fernen Ausland, in einer Millionenstadt, einen
Bekannten, den wir nicht einmal im Traum an diesem Ort vermuteten, ist klar
und offenbar, daß ein Ereignis stattgefunden hat, an das wir uns noch lange
nachher mit eigentümlicher Nostalgie erinnern.
Die digitale Revolution bringt auch in diese ruhige Gemengelage von Ereignis
und Nichtereignis eine verstörende und lebensumstürzende Unruhe. Ein
Menschheits-Ereignis einer „ganz anderen Art von Ereignis“, über dessen
künftige Konsequenzen keiner der digitalen Teilnehmer Auskunft und
Rechenschaft geben könnte.
Der medial und digital versorgte Mensch erntet geradezu minütlich neue
Ereignisse. Kaum ein Augenblick, der nicht mit „News“, fremdgewählten und
selbstgewählten, erfüllt wäre. Sensationen verfolgen ihn auf Schritt und Tritt, –
man muß teilgenommen haben, um dabeigewesen zu sein. Ein
Menschheitsphänomen, kein Massenphänomen, weil es „User“ auf allen
Kontinenten hypnotisiert und hysterisiert, wozu sowohl die „moralische
Entrüstung“ über, wie die moralische Gleichgültigkeit gegen alle Ereignisse
beiträgt. Eine humanitäre Rettungsaktion in Kriegsgebieten ist ebenso Ereignis
wie ein Massenmord an Zivilisten durch Terroristen.
In der vordigitalen Welt gilt für alle Ereignisse, trotz ihrer unübersehbaren
Vielfalt an Arten und Individuationen die psychologische Voraussetzung (deren
Ontologie in Frage steht), daß Ereignisse nur durch Unterscheidung von
Nichtereignissen möglich sind. Die berühmte Stecknadel in einem stillen Raum,
die alle Menschen fallen hören, die sich im Raum befinden, setzt eine
ereignislose Stille als Bedingung ihrer Ereignismöglichkeit voraus. Dieser Raum
verstirbt im digitalen Erlebnisraum. Möglich, daß die um sich greifende Sucht
des Computerspiels einen neuen Raum der Distanzierung und Rekreation
schafft. Aber das lebenswichtige Element Langeweile, einst der kräftigende Hort
gesicherten Nichtereignisses, verschwindet.
Weil aber der digitale Mensch der Zukunft immer auch in einer nichtvirtuellen,
nichtdigitalen, nicht medial zerstreuenden Welt wird leben müssen, bleibt die
Ontologie der vordigitalen Psychologie bestehen: Allen Ereignissen dieser Welt
liegen notwendige Bedingungen und Voraussetzungen voraus, die selbst keine
Ereignisse sind, keine sein können, keine sein sollen.
III.
Und da wir den Begriff „Ereignis“ auf die Weltrealitäten von Natur und Kosmos
einerseits, von Kultur und deren Geschichte(n) andererseits applizieren müssen,
wären dort die Naturgesetze, hier die Normen der Sitten und Rechtsgesetze,
ebenso die normenähnlichen Glaubensinhalte der Religionen und nicht zuletzt
die je aktuellen Weltanschauungsinhalte von Politik und Gesellschaft als
ereignisermöglichende Nichtereignisse zu nennen.
„Wären“, weil selbstverständlich nicht nur die Gesetze und Normen, sondern
zugleich viele Welt- und Kulturzustände, und diese sogar in überwiegender
Mehrzahl, an langweiliger Ereignislosigkeit kaum zu überbieten sind. Die
Friedenszeiten der Weltgeschichte sind deren Ruhe- und Erholungspausen. Der
vollkommene Nichtereigniszustand ist das andere Extrem des historischen
Momentes erfüllter Ereigniswichtigkeit. Unwichtigkeit und Wichtigkeit
konvergieren, wie schon daran ersichtlich wird, daß jede Ereignislosigkeit durch
Absicht und Können in ihr Gegenteil überführbar ist.
Diese langweilige Straßenkreuzung beispielsweise, an der schon seit einer
Stunde weder Menschen noch Fahrzeuge gesichtet wurden, hindert niemanden
daran, einer genauen, und bei anhaltender Geduld und Aufmerksamkeit einer
immer genaueren Beobachtung und Beschreibung gewürdigt zu werden.
Prompt wird aus der fast unerträglichen Langeweile über ein von allen guten
Geistern verlassenes Weltstück eine überaus einträgliche Unterhaltung mit den
interessanten Geistern desselben Weltstückes.
An diesem Wendepunkt kommt auch die moderne Kunst ins Spiel, deren
„subversive Werke“ bekanntlich fordern, das scheinbar Gerade als insgeheimes
Schräges erkennbar zu machen, das Identische als Nichtidentisches, das
Normale als abnormal, das Vernünftige als Absurdität, das Absurde als neue
Normalität usf.
Ein inflationäres Unternehmen einer inflationären Kunst und Ästhetik, die alle
Artefakte und „Performances“ der ästhetischen Moderne im Moment ihres
Erscheinens augenblicklich in ästhetische Postmoderne verwandelt. Der
Moment der Geburt fällt mit dem Moment des Todes in einen und denselben
Moment zusammen. Das „Kritische“ des „ästhetisierten“ Momentes wird nicht
unnötig, denn es ist unterhaltsam, aber sein Inhalt wird illusorisch. Dennoch
hält sich die spielerische Intellektualität der modernen Kunst und Künstler
immer noch für die Avantgarde der (politischen) Menschheit. Marginalkultur
verwechselt sich mit realpolitischer Zentralkultur.
Davon ist Philosophie, die sich mit „Ereignis“ als beliebigem Allgemeinbegriff
beschäftigt, frei. Nichts kann marginaler und peripherer sein als die
philosophische Reflexion auf die formalen Grundlagen des Erlebens von Natur
und Kultur. Dennoch ist es mehr als ein interessantes intellektuelles Spiel.
Denn ein beliebiger Allgemeinbegriff kann uns nützlicherweise lehren, zwischen
beliebigen und nicht-beliebigen Allgemeinbegriffen präzise zu unterscheiden.
Und wer möchte nicht dem Funktionieren unseres Denkens beim Verfertigen
seiner Urteile aus nächster Nähe zusehen?
Nochmals: das Argument, man müsse ontologisch zwischen Ereignissen und
Nichtereignissen unterscheiden, gibt keine Auskunft darüber, wie
Wissenschaften und Alltagsdenken in den Räumen der Natur und Kultur
empirisch konkret zwischen beiden Faktoren unterscheiden (sollen). Daher die
zunächst richtige Diagnose: weil eine „übergreifende Definition“ von Ereignis
nicht existiere, müssten die Wissenschaften (von der Historie bis zur Physik), die
Klärung dieses Begriffs zur „zentralen wissenschaftlichen Aufgabe“ erheben.
Dazu kommt, daß auf ontologischer Ebene gleichfalls nicht klärbar ist, ob und
welche „verborgenen Ereignisse“ geschahen und immer noch geschehen –
wiederum in Natur und Kultur.
Der Unterschied von Verborgensein und Nichtverborgensein bringt aber das
aktive Dasein von Bewußtsein und Geist unausweichlich ins Spiel. Und damit
auch die Genealogie (Gewordensein) von Bewußtsein und Geist, gleichgültig, ob
diese durch biologische Evolution erklärbar oder nicht erklärbar ist.
Die Menschwerdung der Primaten, sie mag sich einem einzigen oder, viel
wahrscheinlicher, oftmaligen Ereignissen verdanken, war offensichtlich ein
bedeutsames Ereignis, das aber von keinem der Beteiligten als großes Ereignis
wahrgenommen wurde, weil sich kein menschwerdender Primat von außen
sehen und reflektieren konnte. Und insofern er sich mit den Primaten im Kampf
ums Überleben doch verglich, schon weil sein Stolz ihn zwang, seine Erfolge zu
sammeln und zu zählen, konnte er die menschheitliche Bedeutsamkeit seiner
Siege und Überlegenheit nicht wahrnehmen. Langsamer als der Mond zogen
diese Vorboten der Zukunft an seinem Lebenshorizont vorbei.
Gleichfalls war die katastrophale Kollision der Erde mit einem Asteroiden, die
vor 65 Millionen Jahren höchstwahrscheinlich zum Aussterben der Dinosaurier
führte oder dieses erheblich beschleunigte, ein Menschheitsereignis, obwohl es
von Menschen nicht wahrgenommen wurde. Doch ohne dieses Ereignis wäre
die Entwicklung vielfältiger Säugetier-Arten nicht möglich gewesen, die
wiederum die Voraussetzung für die Evolution von Primaten und deren
Entwicklung war. Und daß erst diese eine Evolution von Menschen emanierte,
die das 65 Millionen Jahre zurückliegende Kollisionsereignis rekonstruieren und
damit einer kollektiven Erinnerung zuführen konnten, zählt heute zum
wissenschaftlich begründeten Alltagswissen.
Dennoch kommt mit dem Faktor Bewußtsein und Geist ein erheblicher
Unsicherheitsparameter in das Spiel um Ereignis und Nichtereignis. Denn alles
und nichts kann des Geistes fette Wahnsinnsbeute werden.
Wenn ein Fahrrad, das jetzt in China umfällt (und über social media einigen
Millionen Menschen handylike mitgeteilt wird), dann ist es das Bewußtsein und
der Geist von (News begehrenden) Menschen, die dieses Vorkommnis zum
Erlebnis erheben. Auch dann, wenn sich eine Mehrheit darüber lustig macht
und den „Ironieanteil“ des Erlebnisses als kollektiven Wert feiert: Spaßkultur
vom Feinsten, lautet das Motto des digital erweiterten Kultes ums ferne und
doch so nahe Fahrrad.
Es sei zwar sinnlos, diesem Ding und seinem Ereignis Aufmerksamkeit zu
schenken, aber etwas Sinnlosem Aufmerksamkeit zu schenken, das mache doch
auf etwas anderes und vieles andere und vielleicht sogar auf etwas hinter der
Kulisse aller unserer Arten und Techniken von Aufmerksamkeit aufmerksam.
Spätestens an dieser Stelle der („ästhetischen“) Rechtfertigung rücken unzählige
Erklärungsgründe ein, die wie ein Spiegel die brüchigen Gründe einer säkularen
Freiheitskultur vorführen: Sinnlosigkeit des Lebens und der Welt, Zufälligkeit
alles dessen, was Aufmerksamkeit erhält, Absurdität des menschlichen
Verhaltens als ausweglose Norm alles menschlichen Verhaltens.
In der Tat: das Faktum des beaufmerksamten Fahrrades verweist (durch
reflektierte Aufmerksamkeit in ein Problem verwandelt)auf eine tiefe Frage, die
mit der Realität von Bewußtsein und Geist unhintergehbar ins moderne Spiel
gekommen ist. Wäre der Sturz des Fahrrades von niemandem beobachtet
worden, (und dies dürfte das „Schicksal“ der allermeisten Fahrradumstürze sein,
die tagtäglich geschehen) wäre es von niemandem erlebt und von niemandem
berichtet worden. Ganz allein, von „aller Welt verlassen“, wäre das Ding
umgefallen.
Und dieses Faktum des „von aller Welt Verlassenseins“ führt unmittelbar auf die
Differenz von Welt und Weltaufmerksamkeit. Wir müssen zwischen Welt und
Weltaufmerksamkeit unterscheiden, obwohl uns deren Untrennbarkeit
fortwährend belästigt: Wenn es eine Welt von Bewußtein und Geist gibt, die mit
Aufmerksamkeit auf alle Welt reagieren kann, zugleich aber eine andere Welt,
sie sei zunächst Natur genannt, (den Unterschied von anorganischer und
organischer ignorierend), die dies nicht kann und auch gar nicht können muß:
Gibt es dann in der Natur und für diese Ereignisse, oder gibt es Ereignisse in und
für die Natur doch nur in und für den Geist bewußter Wesen? Eine alte und
ehrwürdige Frage, an der bekanntlich keine Philosophie vorbeikommt, auch
jene und gerade jene nicht, die sich durch Naturalismus und Evolutionismus
oder eine der vielen Sprachphilosophie-Ideologien des 20. Jahrhunderts davon
dispensieren möchten.
Auf der Rückseite des Mondes – eine Wüste tiefster Ereignislosigkeit –
geschehen dennoch in jeder Sekunde Ereignisse für den Planeten, aber nicht im
Sinne eines Für-sich-Seins, sondern eines Für-es-Seins. Es ist dem Mond nicht
einmal gleichgültig, was auf und was in ihm geschieht.
Die Explosion eines Sterns, in einer der vielen Arten der Gattung Supernova,
scheint ein Ereignis ersten Ranges in und für die kosmische Natur zu sein. Und
weil uns dieses Urteil durch Wissenschaften und deren mediale Vermittler über
beinahe schon anderthalb Jahrhunderte zur Selbstverständlichkeit wurde, ist die
Frage, „für wen dieses Ereignis eines war oder ist“, mit dem Tabu eines
wissenschaftlichen Weltbildes belegt, das mit eben jener Selbstverständlichkeit
voraussetzt, daß das, was für Menschen ein Ereignis ist, auch für die Natur ein
Ereignis sein müsse.
Indem das für Bewußtsein und Geist unverzichtbare psychologische Faktum
„Ereignis“ auf die kosmische Natur übertragen wird, soll auch die Natur
Ereignisse haben, die für sie selbst Ereignisse wären. Weil in der Welt von
Bewußtsein und Geist kein Ereignis ohne Ereigniserleben möglich, sollen auch
in der Welt der kosmischen Natur Ereigniserleber auszumachen sein.
Die Partikel und Gesteinsbrocken der sieben Saturnringe – dreißig Billiarden –
tauchen bei ihren Umläufen um den Planeten mehrmals aus tiefstem Schatten
in helles Licht und umgekehrt: für den Beobachter Mensch ein beeindruckendes
Erlebnis. Wunderhaft virtuose Technik verwandelt Fernbeobachter in
Nahbeobachter. Den Partikeln und Gesteinsbrocken selbst entgeht „ihr“
Erlebnis, es ist für sie kein Ereignis, sie vollziehen nur ein stummes
Teilgeschehen am Gesamtgeschehen des Saturnsystems innerhalb des
Sonnensystems. Hätten sie ein „selbst“, wäre allerdings ein Ereignis, das für sie
eines sein könnte, entdeckt, und in diesem Falle wäre das ontologische Vakuum
nicht vorhanden. (Daß das Geschehen „stumm“ sein soll, hört sich für das
wissenschaftliche Weltbewußtsein nur noch nach Fabel und Märchen an.)
Das ontologische Vakuum besagt, wie schon erwähnt, daß in der kosmischen
Natur kein erfahrbares Für-Sich-Sein auffindbar ist: Zwischen einem Ereignis in
der (zunächst anorganischen und kosmischen) Natur, das nicht für sie ein
Ereignis sein kann, weil in ihr kein Bewußtsein vorhanden ist, und einem
Ereignis in der Natur, das für Bewußtsein und Geist als reales Ereignis
beobachtet und beschrieben wird, ist ein Unterschied, der auch dann gilt, wenn
er im Zeitalter der wissenschaftlichen Weltbilder und Weltanschauungen
geleugnet und tabuisiert zu werden pflegt. Sonnen- und Mondfinsternis sind
nur für Beobachter Ereignisse, nicht für Sonne und Mond.
Der unhintergehbare (Welten)Unterschied wäre ontologisch begründbar, wenn
wir einen Begriff von Welt hätten, der durch sich, durch ihn als
(schaffendes)Prinzip, in zwei Welten sich teilte. Dann wäre aus diesem Begriff
begreifbar und begriffen, warum auf unserem Planeten zwei Welten in einer
und als eine Welt existieren: die natürliche und die geistige Welt. Zugleich: wie
welche der beiden Welten die jeweils andere umgreift und begründet. Für die
analytische Ontologie scheint es sich um eher zufällige Kombattanten zu
handeln: Natur und Geist haben sich nur getroffen, um bald wieder von
einander zu scheiden.
Wie aber Organismen innerhalb der kosmischen und terrestrischen Natur ein
Sonderfall von „Natur“ sind, ist auch deren Fähigkeit, Ereignisse von
Nichtereignissen zu unterscheiden, von der Existenzweise aller
nichtorganischen Natur unterschieden. Wie aber in concreto unterschieden,
dies könnten wir Menschen nur erkennen, wenn wir in die Instinktsysteme der
Tiere (und Pflanzen?) nicht nur theoretisch, sondern wirklich eindringen,
erlebend eindringen könnten. Dann wüßten wir, wie es ist, als Maus oder Löwe,
als Adler oder Schlange Erlebnisse zu haben. Ob als Ereignisse oder als
Nichtereignisse, oder – am ehesten zu vermuten – als ein unbekanntes Drittes,
über das wir nur Intuitionen und Hypothesen hegen können.
IV.
Die moderne analytische Ontologie fragt, ob es sich beim Begriff Ereignis um
eine partikulare oder allgemeine Entität handelt. Sie versteht unter „Entität“
etwas, das sich von materiellen Gegenständen, Sachverhalten und
Eigenschaften unterscheidet. Doch kann sie durch ihre ontologischen Begriffe
nicht angeben, wie sich materielle Entitäten von nichtmateriellen Entitäten
unterscheiden (sollen können).
Um diesen Unterschied zu markieren, muß sie daher auf Begriffe entweder der
materiellen oder nichtmateriellen Welt zurückgreifen. Ein Löwe ist eine
natürliche Entität, 2+2=4 ist eine intelligible Entität, und was sie unterscheidet,
diese Frage bekümmert die „analytische“ Ontologie nicht. Ob übrigens auch
2+2=5 als intelligible Entität passieren darf, soll hier nicht erörtert werden,
obgleich feststehen sollte, daß sich Löwen innerhalb ihres Instinktsystems nicht
irren können, Menschen hingegen, vorab lernende, innerhalb ihrer
Zahlensysteme und deren Rechenoperationen sehr wohl.
Um die Schwierigkeiten der (unmöglichen) ontologischen Begründung von
„Ereignis“ zu umgehen, pflegt die analytische Ontologie den Begriff Ereignis in
einem „sehr weiten Sinn“ zu gebrauchen. Keine Klasse von Entität sei
ausgeschlossen, das Herz des Wortes „Entität“ sei groß und weit. Der
vermeintlich logische Begriff Entität (er scheint zwischen Sein und Dasein zu
schweben) erlaubt, auf der vermeintlich ontologischen Ebene jedes Seiende und
jedes Ereignis unter „Entität“ zu subsumieren. Doch damit ist der zentrale
Welten-Unterschied der Entitäten vernichtet und vergessen, unterschlagen und
unterschätzt. Dem analytischen Klassenbegriff von Entität liegt kein
ontologisches Sein, keine ontologische Idee zugrunde.
Dieser analytische Begriff der Entität scheint daher nur so weit und so offen zu
sein, wie die Begriffe der antiken Ontologie. Er hat weder ein Sein noch eine
Idee im Sinne Platons zu seiner Grundlage; er ist das Produkt einer analytisch
(sprachnominalistisch)denkenden Philosophie. Weil letztlich ohnehin alles nur
als (sprachliches) Zeichen für Menschen existiere, darf und kann das Etikett
„Entität“ allem Seienden, mag dieses in unterschiedlichsten Welten existieren,
angeklebt werden.
Daher haben die Entitäten der analytische Ontologie weder eine innere noch
eine äußere Grenze: Alles wird zum „Ereignis“ einer „Entität“: Die Mondlandung
und „jede kleinste Zuckung der Materie auf der Ebene physikalischer Prozesse“,
der Holocaust und die Interaktion der Atomteilchen innerhalb einer Kernfusion,
die Aufforderungsrede Hitlers zum „totalen Krieg“, jeder Ausbruch eines
Vulkans auf Jupiters Mond Jo. Aber daß für Menschen alles (und nichts) zum
Ereignis werden kann, – um dies zu wissen, bedarf es keiner Ontologie, die den
Namen nicht verdient.
Wenn Philosophen des Existentialismus und Phänomenalismus (Heidegger,
Bergson und nachfolgende) Ereignisse als „Unterbrecher“ der historischen Zeit
und als „Aufbrecher“ symbolischer Ordnungen definieren, halten sich Trivialität
und Versponnenheit die Waage. Das Stammwort „brechen“ als Lieferant von
Metaphern, die uns die Sache Ereignis begreifbar machen sollen, umspielt zwar
die ontologische Logik von Kontinuum und Diskretum, ohne die kein Denken
und Erkennen der Zeit möglich wäre. Aber Wortspiele spielen ist eines, Sachen
und deren Begriffe begreifen ist ein anderes.
Zum einen geht oder fliegt die historische Zeit trotz ihrer permanenten
Unterbrechungen immer weiter, sogar nach Revolutionen und Weltkriegen.
Zum anderen sollte man im Gebiet der Geschichte nicht allzu fahrlässig mit dem
Begriff „Ordnung“ hantieren. Ordnung herrscht in der Küche in den Kästen und
Schränken des Küchengeschirrs, Kulturen sind mehr und anderes als
„Ordnungen.“ Und „Unterbrechen“ gehört ins Reich der Stromkreise, „Ein- und
Aufbrechen“ ins Gebiet von Kriminalistik und Strafrecht.
Die oberflächliche Wahl oberflächlicher Worte verrät viel über die
Unbestimmtheit, vulgo „Offenheit“ der Grundbegriffe des philosophischen
Denkens im 20. Jahrhundert. Auch Wort und Kategorie „Symbol“ (in der
traditionellen Philosophie nur in Ästhetik und Religionsphilosophie präsent) ist
unmittelbarer Ausdruck dieser Unbestimmtheit. Offensichtlich ist der Grund der
neuen Grundbegriffe ein brüchiger.
Der Mensch ist kein Symbol von Freiheit. Seine Handlungen sollen keine
symbolischen sein, es sei denn, gewisse Systemregionen erfordern dies
ausdrücklich und machen sich als solche kenntlich. Eine päpstliche
Fußwaschung an Häftlingen, eine Willenserklärung von Politikern, die ein
Problem „lösen“ soll, indem sie ein „Wir schaffen das“ verkündet, gehört
allerdings einer nur „symbolischen“, nämlich einer „rhetorischen Ordnung“ an.
Wann, wie und wodurch aus hohen Handreichungen und großen Worten reale
Handlungen werden, die den Niederungen und Realproblemen des Lebens
beikommen, steht auf ganz anderen Blättern der jeweiligen Realitäten.
Nicht einmal der Begriff des „Neuen“ wäre geeignet, das „Unterbrechen“ und
„Aufbrechen“ ontologisch zu begründen und zu stützen. Erst ein politisch
fundierter Freiheitsbegriff könnte beispielsweise das Ereignis von 1789 in
Frankreich, dem unzählige weitere Fortsetzungsereignisse folgten, als
„Unterbrechung“, nicht der historischen Zeit, sondern als Abbruch einer
abgelaufenen und als Anbruch einer neuen politischen Zeit definieren.
Der Satz, die Menschheit, wenigstens in ihren vorauseilenden Teilen, werde von
Zeit zu Zeit neu, und zwar von „Grund auf“ neu, bemüht sich tapfer, dem Neuen
einen ontologischen Rang zu verleihen, doch mit geringem Aussicht auf Erfolg,
weil die Neuheiten in den Departements der Geschichte inkommensurabel
verschieden sind. (Spengler versucht dieser Inkommensurabilität mit
analogistischen Mischkulanzen aller Departementes und mit Machtdekreten
eines deutschen Oberstudienrates, der zuviel Nietzsche eingenommen hat,
beizukommen. Sein Buch war zur richtigen Zeit am richtigen Ort Europa.)
Was neu ist und wird im Kosmos, vulgo Natur, oder in der Kultur, vulgo
Geschichte, darüber hat noch niemals eine ontologische Philosophie ein
Wörtchen mitgeredet. Aristoteles hat sich nicht zufällig zur Geopolitik seiner
Zeit, die nicht weniger als die Unterwerfung Griechenlands unter die Herrschaft
Mazedoniens sah und erlebte, mit kaum geäußert. Dennoch glaubten sich Marx
und Engels als Gründer einer neuen ontologischen Philosophie der Tat, die
erstmals und geschäftsmäßig die Beschaffung einer neuen Menschheit
durchführen wird. Die Beschaffung organisierte ihre eigene Widerlegung.
V.
‚Ereignis‘ kann auch kein theoretischer Grundbegriff transzendentaler
Subjektphilosophien sein, die versuchen, aus der Struktur des menschlichen
Bewußtseins, dessen Möglichkeiten, in der Welt zu sein und Erfahrung von
Erfahrungsgegenständen zu verwirklichen, zu erkunden. Geschweige ein
Vernunftbegriff, der sich einer theoretisch spekulativen Vernunft ablauschen
ließe, etwa einer Philosophie der Tat, in der ein absolutes Ich als Erzeuger aller
Weltereignisse, die unter die Rubrik und Funktion von Nicht-Ich fielen, eine
Vernunftreligion zu begründen versucht. Von der Funktion zur Fiktion führt ein
nur kleiner Schritt allzukurzer Beine.
In diesem Fall wäre der Mensch das Ereignis aller Ereignisse, er wäre schon als
Mensch das absolute Urereignis, er wäre Vater und Mutter aller Ereignisse, weil
er alle anstoßen und erzeugen würde. Zwar mag jeder Mensch seines Schicksals
Schmied sein; was allerdings seine Taten und Untaten einschließt. Aber
zwischen erzeugen und schmieden regiert ein Vernunftunterschied. Die
Schickalse von Staaten, Völkern und Menschheit schmiedet kein Mensch als
Mensch. Und der sich selbst erzeugende Mensch existiert nur als
existentialistische Metapher des sich selbst schmiedenden Menschen.
Insofern jedoch moralische (und amoralische) Handlungen für jeden Menschen
nicht als Nichtereignisse gelebt werden können, sind sie für jeden Menschen
Ereignisse ersten Ranges: sie sind ihm näher als die Ereignisse der ganzen Welt
um ihn herum.
Zwar erheben Religionen monotheistischer Herkunft Einspruch: Gott ist Dir
näher als Du Dir selbst; und dies mag wahr sein oder nicht, für den Glaubenden
sogar unbezweifelbar wahr und wirklich. Aber Glaubenswahrheiten können
nicht (mehr) moralisch beurteilt werden, sie schweben jenseits aller moralischen
und poltischen Vernunft. Daher können sie auch nicht als reale Ereignisse
demonstriert und sozial kommuniziert werden.
Diese Absenz einer verbindlichen Verifikation der höchsten und tiefsten
Glaubenswahrheiten ist auch der entscheidende Grund dafür, daß religiöse
Gemeinschaften ihre Gemeinschaft als „öffentliche“ feiern, weil alle
Teilnehmenden durch öffentlichen Beweis eine Bekenntnis-Verifikation
vorführen, die gegen jede Falsifikation von außen (die Ungläubigkeit der
Ungläubigen oder Andersgläubigen) immunisiert.
Ein Faktum, daß schon innerhalb der Religionen, bei deren Begegnung oder
Kollision, das Tolerieren der jeweils anderen religiösen Gemeinschaft zur
höchsten Moralität erhebt, und damit der Illusion verfällt, eben dadurch eine
neue (Toleranz-)Weltreligion im Namen eines „Weltethos“ als höchstem Gut
begründet zu haben. Eine „Begründung“, die freilich durch die Begegnung und
Kollision mit nicht religiösen Kulturen und Zivilisationen ihres
Illusionscharakters einsichtig wird oder werden sollte.
Eine Nächstenliebe ohne Obergrenze ist jedenfalls keine christliche
Nächstenliebe mehr, sie kann oder könnte ganz ohne Kirche und
Kirchengemeinschaft gelebt werden, wenn sie lebbar und politisch
organisierbar wäre. Wäre ihr politisches Pendant, ein als möglich unterstellter
Weltstaat schon vorhanden, könnte dieser als ausführendes Organ eines
künftigen Gottesstaates dienen, oder dieser könnte als Begleiter einer freien
und mündigen Menschheit dienen, die über die Grenzen ihrer Freiheit
zureichende Vernunftbescheide erhalten hätte.
Für die Gegenwart aber gilt: Embryos (der Weltgeschichte) sollten gar nicht erst
herauszufinden versuchen, wie sie als Erwachsene mit einander umgehen
werden. Und die Ontologie hat auch als Ontotheologie keine Macht über einen
deus absconditus, den noch keine Offenbarungsreligion vom unsichtbaren
Thron stürzen konnte.
Wirklich moralische (und amoralische) Handlungen müssen zurechenbar sein, –
ein Mensch, der sich nicht zurechnet, was ihn moralisch ausmacht, würde wie
sein flacher und dunkler Schatten neben sich her gehen. Er lebte ohne eigenes
Leben, ohne Individualität, ohne Charakter, am Ende als „Mensch ohne
Eigenschaften.“
Der Ereignischarakter menschlicher Handlungen, die nur als moralische,
amoralische oder neutralische Handlungen möglich sind, fällt oft unter die
Aufmerksamkeitsschwelle lebender Menschen, weil sie – Menschen wie
Handlungen – stets nur als (flüchtige) Momente gelebter Kulturwelten möglich
sind. Auch das Single, das sich von allen Gemeinschaften fern halten möchte,
lebt in Gesellschaften und unterliegt dem moralischen Wechselwirkungssystem
menschlichen Handlungen: ihrer Absichten, Entscheidungen, Ausführungen und
Beurteilung möglicher Folgen.
Dennoch muß es unter den moralischen Entscheidungen und Handlungen
subjektivere und weniger subjektive geben, weil sonst der Unterschied von
moralischer und politisch moralischer („ethischer“ oder vormodern: „sittlicher“)
Vernunft nicht Gegenstand der praktischen Vernunft und ihrer
Sittlichkeitssysteme sein könnte. Es sind Systeme einer freien Autonomie des
menschlichen Willens und seiner Vernunft, die den Rechtssystemen der
modernen Demokratie – nicht den vormodernen Moralen vormoderner
Hierarchiereligionen – zugrundeliegen. Überspitzt: ohne Single kein zoon
politikon, ohne zoon politikon kein Single.
Nur durch den Rückbezug auf die moralische Vernunft eines autonom
vorausgesetzten Menschen, kann die westlich-säkulare Welt vermeiden, die
Freiheit des Subjekts, das freie Agieren des autonomen Menschen, an
Systemphilosophien und deren Ideologien auszuliefern, in deren Systemen
(politischen, religiösen, ästhetischen) diese selbst (wiederum ein gefährlich
selbstloses Selbst) als Großfabrikanten von Ereignissen auftreten, in denen
Menschen nur noch als Rädchen im Kreisen und Kreischen großer Maschinen
fungieren.
Schon dem Marxismus war der Gedanke fremd, daß die Freiheit des Menschen
als Selbstzweck allen politischen Zwecken vorgeordnet sein muß, weil sonst
freie Demokratien und deren Rechtsbegründungen unmöglich sind. Allerdings
waren die Ideologen der klassenlosen Gesellschaft bedingungslose Gläubiger
und Schuldner ihres Systems: schon bald würden Freiheit und Demokratie als
bürgerliche Restideologien überflüssig sein.
Die Befreiung der Menschheit als erstmals klassenlose Klasse sei das zentrale
Ereignis der Weltgeschichte, – eine Neugeburt der Menschheit, die Geburt der
erstmals wirklichen und unfehlbar wahren Menschheit. Ein Kurzschluß zwischen
moralischer und politisch moralischer Vernunft, der sich einer ökonomischen
Ideologie, die sich selbst als politisches Erlösungsprogramm beglaubigte,
verdankte. Noch heute verzweifeln die letzten Mohikaner des realen Sozialismus
am Ereignis des Untergangs des ruinierten Weltkommunismus, indem sie von
einer Wiedererweckung der reinen Lehre und neuen Umständen träumen.
VI.
Harmlosere Erfolge feierte der Begriff des Ereignisses auf den Bühnen der
modernen Sprach- und Kulturtheorien, die zuletzt den ästhetischen Kern des
Interesses an der allseits verwendbaren Kategorie offenbarten. Indem der
Unterschied von Kunst und Leben verschwand, wurde jeder Lebensaugenblick
als Kunstereignis zugänglich. Die totale Inflation der kollabierenden Währung
Kunst führt zu einer neuen Währung, die den größten aller bisherigen
Kunstmärkte bedient. Ein normaler Alltag eines beliebigen Künstlermenschen,
von Minute zu Minute gefilmt und als Video weltweit verbreitet, – und schon
wurde möglich, was man soeben noch für unmöglich gehalten hatte.
Doch erst im System der digitalen Sozial-Medien, die eine Sozialität in die Welt
gesetzt haben, die von ihrem Gegenteil Asozialität ununterscheidbar wurde,
wird die neue Währung eine wirklich neue, ein neues Leben. Jeder ist nun Teil
des Lebensfilmes aller Teilnehmer. Digitale Großfamilien lagern um das
Lagerfeuer ihres gemeinsamen Lebensfilms, aber dies kann nicht verhindern,
daß sie oft als aggressive Haßfamilie agieren, weil der unversöhnliche Haß
anderer und ganz anderer Großfamilien den Gang durch die enge Gasse
erzwingt.
Mit dem digitalen Imperativ: das Leben als austauschbarer Film für potentiell alle,
wurde weder eine neue Religion noch eine neue Politik in die Welt gesetzt. Aber
alle Differenzen der alten Religionen und Politiken sowie Sozialitäten
potenzieren sich im neuen Medium ins Unendliche, Unbeherrschbare, global
Explodierbare. Wie die Wellen mancher Erdbeben um die ganze Erde laufen, so
die Erregungen durch neue „moralische“ Meinungen, die plötzlich jedermann
und jedefrau zwingen, Farbe zu bekennen. Dir gefällt noch nicht, was mir schon
längst gefällt? Eine neue Kultur wurde in die Welt gesetzt, aber sofern sie als
(life-style) Religion gelebt wird, hat sie die Liste der unlösbaren
Menschheitsprobleme vervielfältigt.
Daß die Kategorie Ereignis, die sich als Inbegriff von Kontingenz anzubieten
scheint, erst durch die Lebensphilosophien des 19. Jahrhunderts, die vermutlich
in Nietzsches Willen zur Macht und Bergsons „elan vital“ ihren Zenit erreichten,
nicht aber in den vormodernen Philosophien eine zentrale Rolle spielten, ist
philosophiegeschichtlich erklärbar. Mit jedem Augenblick, mit jedem neuen
Lebensprojekt ein neues Leben beginnen können und sollen: ein
ereignishafterer Imperativ wurde noch nicht gefunden.
Philosophien hingegen, die auf intelligiblen Prinzipien basieren, haben im
Erkennen und Denken ihrer Gründe und Abgründe Ereignis genug, sie genügen
sich selbst als höchstes und tiefstes Ereignis. Was sollte im Lehrgebäude des
Aristoteles die vollkommenste Glückseligkeit des bios theoretikos übersteigen
können?
Und die traditionellen Religionen, nicht nur die drei monotheistischen, haben
ihre Großereignisse, die sich an den Fingern einer Hand abzählen lassen. Im
Christentum beispielsweise die Erschaffung der Welt durch eine siebentägige
Schaffenswoche Gottes einerseits, einer wenigjährigen Heilsgeschichte durch
Christus andererseits, die in einer vorzeitlichen Ewigkeit vor Anker gelegt wurde.
Was in der Perspektive der vormodernen Philosophien ein nur
epiphänomenales Ansehen genießt, die Ereignisse der Welt und des
menschlichen Lebens, das reißt in den modernen Philosophien dem Faß des
Lebens einen unerschöpflichen Boden aus. Scheinbar wird nun Philosophie
wirkliches Leben; sie verliert sich selbst, ohne sich neu zu gewinnen.
Und das wirkliche Leben hat wenig gewonnen, wenn Philosophieren, noch dazu
in Worten und Sätzen, sein neues Um und Auf geworden ist. Im Vergleich
gesprochen: in der traditionellen Philosophie der Natur war Nebel kaum mehr
als natürlicher Dampf. Jetzt wird derselbe Nebel zum Offenbarungsereignis
einer Natur, die ihre Geheimnisse seinen wechselhaften Erscheinungen
anvertraut hat. Das verschleierte Bild zu Sais allzu wörtlich genommen.
Wenn wir daher lesen, daß die analytischen und postanalytischen Philosophien
bei der ontologischen Klärung der Kategorie ‚Ereignis“ bislang keine einheitliche
Lehrmeinung durchsetzen konnten, möchte man zu diesem Ergebnis
gratulieren. Lieber das Palaver „anhaltender Diskussionen“ als deren Gegenteil:
Dekrete und Sprüche, deren medialer Verzehr nur die einschlägige
Kulturjournalistenmeute erfreut.
Andererseits möchte man die neuen Ontologien geradezu beneiden: sie
besitzen, was den alten Ontologien noch fehlte: ein „Prinzip ontologischer
Sparsamkeit.“ Ausgerüstet mit dieser Wunderwaffe wird ontologisch (!) gegen
die „Existenz von Ereignis“ (in Welt und Mensch) argumentiert. Eine moderne
Variante der antiken sophistischen Trickkiste: es ist nichts, und selbst wenn
etwas wäre, könnte niemand darüber ereignisreich plaudern und aussagen.
Bleibt nur noch die Kärnerarbeit im Bergwerk der ontologischen Kategorien,
mögen diese in analytischen oder postanalytischen Goldadern gefunden
worden sein. Und „Kärnern“ heißt Arbeiten durch Unterscheiden, Unterscheiden
durch Zuteilen von Identitäten: Wenn Ereignis eine „Entität“ ist, muß sie sich von
anderen unterscheiden lassen. Die Frage, warum das Sein die Güte hat, sich zur
„Entity“ differenter Seiender zu teilen, wird in der modernen Ontologie
entweder nicht gestellt oder als andernorts beantwortet vorausgesetzt.
Wenn überdies nach Quine gelten soll: „No Entity without Identity“, scheint
Identität eine Kategorie zu sein, der sich auch moderne Ontologien
vertrauensvoll zuwenden können. Aber der Satz, alles ist mit sich identisch,
fundiert nur Tautologien als Philosophien, kommt über geglaubten
Nominalismus nicht hinaus. Diesem wußte sich schon die eingangs zitierte
Definition verpflichtet: Ereignis ist etwas, das geschieht.
Von ganz anderem Kaliber ist hingegen Leibniz‘ bekannter Satz, es gäbe keine
zwei Dinge derselben Gattung und Art, die vollkommen identisch sind. Dieser
behauptet somit „no identity without individuality“, und dies nicht als Resultat
von Erfahrungen, denn welcher Mensch könnte jemals empirisch überprüfen,
ob sich unter den Abermilliarden Atomen des Elementes X nicht doch zwei
absolut identische finden lassen?
Das Wagnis der Leibnizschen Ontologie liegt in der Formulierung eines
Begriffes von Materie, der sich mit den sprachlichen Finessen der analytischen
Ontologie nicht erreichen läßt. Diese setzt daher voraus und erklärt auch offen,
daß sie unzuständig ist für die Wahrheit, die der Leibnizsche Satz implizit
ausspricht: Immer schon gibt es in der Welt Individuationsbedingungen, die
erfüllt sind. Und ohne diese ist Welt als Welt gar nicht möglich.
Daß aber Individualität ohne Nichtidentität nicht möglich ist, sollte ontologisch
einleuchten. Ohne Nichtidentität wären alle Individuen ihrer Arten und
Gattungen austauschbare (identische) Einzelexemplare. Das aber sind sie nicht,
teilt uns Leibniz Satz mit, und daß er für dessen Geltung eine apriorische
Anleihe nehmen muß, hat ihn (noch) nicht bekümmert.
Und daß Mengen keine Individuen sind, sollte ebenfalls einleuchten. Mengen
als Mengen von Zahlen sind daher individualitätslos identisch. Und auch diese
Universalität des mathematischen Logos ist für die Existenz von Welt als Welt
eine bedingungslose Bedingung. 2+2=4 konstituierte schon die Begegnung von
Dinosauriern, von Protoplaneten und Protosonnen. Und auch Tomaten und
Fußballtore zählen sich von selbst, – der Logik identischer Zahlenmengen
gemäß. Denn jeder Zählende setzt die Selbstgezähltheit gegebener Mengen
schon voraus.
Die Unzuständigkeit der analytischen Ontologien wird auch nicht dadurch
behoben, daß man die Nichtidentität und Individualität der materiellen
Gegenstände den Akteuren Raum und Zeit zuschiebt. Weil Dinge zur gleichen
Zeit niemals identische Postionen im Raum einnehmen könnten, wären sie als
individuelle möglich und notwendig. Daß die moderne Ontologie mit dieser
Hypothese zugleich der modernen Physik und Astrophysik widerspricht, scheint
ihr noch nicht aufgefallen zu sein.
Wenn die Einsteinsche Raumzeit nach neuesten Resultaten („Bestätigungen“)
ohnehin nur als materielles Epiphänomen existiert, ist deren Nichtidentität
scheinbar gesichert: Was sich unaufhörlich verändert („staucht und schrumpft“
oder verschnellert und verdünnt), je nach Wirkung materieller Gravitation, das
kann nicht mehr konstante Basis für inkonstante Veränderungen und deren
Individuationen sein.
Die Konsequenz des physikalistischen Weltbildes wäre freilich: schon diese Welt
als ganze, das totale Universum, ist Individuum: Ein wissenschaftliches
Phantasma, das notwendig zum neuerdings überaus beliebten
Superphantasma führt: Pluriversen existieren, denn eine Welt, diese unsere,
kann nur gegen andere Welten individuell sein. Jetzt wäre nur noch die Anzahl
der Universen zu klären: Kein Problem für Mathematiker des Universums, die
mit selbsterzeugten Gleichungen virtuos zu rechnen wissen.
Fazit: Es muß an der ontologischen Logik der Dinge selbst liegen, daß sie
einander nur als ungleiche gleichen, als gleiche zugleich ungleich sind. Und
auch dieser Grundsatz bedarf einer apriorischen Anleihe, weil Beobachtung der
Dinge und Erfahrung der Beobachter unvermögend sind, ontologische Sätze zu
begründen. Ontologische Sätze sind nur durch ontologische Logik zu
begründen.
Nur in ihnen finden sich ontologische Relationen von Form und Materie, die
verbindlich formulierbar sind, auch wenn zugleich gilt, daß der Hiatus von
formaler ontologischer Logik und konkreter materialer Realität (in Natur und
Geist) weder ontologisch noch metaontologisch überspringbar und ausfüllbar,
weder ignorierbar noch denunzierbar ist. Beispielsweise als Schein und Betrug,
weil eine höhere Gnostik im Besitz einer höheren Weisheit wäre.
Leo Dorner, Oktober 2018