34 Neo-Geozentrismus
I.
Auf den Radarschirmen der modernen Wissenschaften erscheint neuerdings ein
Gespenst namens „Neo-Geozentrismus.“ Bestürzt berichtet ein Kosmologe und
Physiker, daß sich auch in seiner scientific community eine „alte Idee“ wieder
verbreite. Und sogar „prominente Wissenschaftler“ würden neue Versionen
dieser „alten Idee“ propagieren. Diese lautet und verkündet: „Die Menschheit
steht im Mittelpunkt der Realität.“ *
(*John Horgan: „Neo-Geozentrismus: Hängt das Universum von uns ab?“
1.2.2017 – http://www.spektrum.de/news/schafft-unser-bewusstsein-die-
realitaet/1436898)
Nun ist der Geozentrismus bekanntlich durch die Entdeckungen und
Erkenntnisse der modernen Wissenschaften widerlegt worden. Kopernikus,
Kepler und Galilei bieten Beweise und Haftung genug. Daher ist anzunehmen,
daß die neuen Verfechter einer „alten Idee“ nicht einen Kampf gegen die
Windmühlen des überwundenen (ptolemäischen) Weltbildes eröffnet haben.
Sollten sie in der Schatzkiste der Philosophiegeschichte fündig geworden sein?
Seit Beginn der Neuzeit an der Schwelle vom 15. zum 16. Jahrhundert hatten
und haben die verschiedenen Richtungen der Philosophie bekanntlich keine
Schwierigkeit, das heliozentrische Weltbild als unbestreitbare Tatsache
anzuerkennen. Aber mit der „Realität“ haben sie gleichwohl noch eine Rechnung
offen und damit eine Frage, um deren Beantwortung unter den Wissenschaften
eine Art „Kompetenzstreit“ unvermeidlich wurde.
Denn der alten Frage nach der Realität, für deren Beantwortung in den
vormodernen Epochen die Philosophie zuständig war, nehmen sich in der
modernen Wissenskultur viele Wissenschaften der Natur und der Kultur, auch
viele Künste, auch einige Religionen und überdies auch noch „fremde Kulturen“
an. Folglich ist Streit um die Kompetenz und Konfusion in der Frage nach der
Realität der Realität unvermeidlich. Hätte jede der genannten Instanzen ihre je
eigene Realität und Welt, wäre „die Menschheit“, die angeblich „im Mittelpunkt
der Realität“ steht, nichts weiter als ein bunter Haufen von Kultur-Stämmen, die
sich ihre jeweils kommode Realität konstruieren.
Doch wird lediglich von strenggläubigen Imamen des Islams berichtet, daß sie
an der liebgewordenen Vorstellung von der Erde als Scheibe festhalten. Auch
kein moderner Künstler dürfte die Tatsache des heliozentrischen Weltbildes
ernsthaft in Frage stellen, auch wenn sich für die Zwecke moderner Malerei eine
um die Erde kreisende Sonne interessanter und innovativer ausnehmen mag als
ein Planet Erde, der immer nur um die Sonne kreist.
II.
Wenn wir lesen oder hören, etwas sei Mittelpunkt von etwas anderem,
bemühen wir unwillkürlich eine geometrische Metapher. Wir verstehen
unmittelbar, daß der Mittelpunkt eines Kreises alle übrigen Punkte des Kreises
und auch dessen Peripherie, die Kreislinie, dazu bestimmt, Fläche oder Linie,
aber nicht Mittelpunkt des Kreises zu sein. Und indem unser anti-
neogeozentrischer Physiker weiß: Was für den Kreis gilt, gilt gleichfalls oder
noch mehr für unsere Vorstellung der Kugel, gewinnt er nicht nur die dritte
Raumdimension hinzu. Er kann die Vorstellungsrelation von Mittelpunkt und
Kugel zur Vorstellungsrelation von Mittelpunkt und Welt erweitern und als
wissender Geozentriker das schlagende Argument verkünden: Es war einmal,
daß Mensch und Menschheit glaubten, sie stünden im Mittelpunkt der Welt alias
Realität.
In Wahrheit und Wirklichkeit aber hat uns die erkennende moderne
Wissenschaft aus diesem Mittelpunkt, der keiner war, unsanft
hinausgeschleudert und irgendwo an einen unbedeutenden und zufälligen Ort
im Ganzen der Realität alias Welt versetzt. Da stehen oder sitzen wir nun, tief
gekränkt und doch zugleich stolz über dieses Wissen, das uns unendlich über
alle vormodernen Gemüter erhebt. Diese glaubten noch an
vorwissenschaftliche Weltbilder und deren unhaltbare Märchen, weil sie der Kuß
der wissenden Wissenschaften noch nicht erweckt hatte. Sind wir nun
„gekränkt“ oder nicht? – das ist hier die Frage.
Und um seinen Kontrahenten in seiner scientfic community lächerlich zu
machen, versetzt der anti-neogeozentrische Physiker den Neo-Geozentrikern
einen psychologischen Hieb. Maliziös werden sie daran erinnert, daß nur
Narzissten und Autisten glauben, im Mittelpunkt der Realität zu leben. Eine
Psychologisierung der Mittelpunkt-Metapher, – sie ersetzt und steigert die
geometrische zur pathologischen Metapher -, die den narzisstischen Neo-
Geozentriker darüber aufklärt, woher sein Narzissmus stammt und wie er ihn
bei Gelegenheit heilen könnte. Denn auch in allen Religionen sei
„Selbstzentriertheit“ das verhängnisvolle Übel gewesen, durch das die Mär von
einer Menschheit, die sich im Mittelpunkt in der Welt befinde, in die Welt
gekommen sei.
Die Selbstzentriertheit der Religiösen aller Religionen, und ganz besonders der
christlichen in Europa am Vorabend der Neuzeit, sei Grund und Ursache jener
haßerfüllten Feindschaft gewesen, mit der die Protagonisten des
geozentrischen Weltbildes bekämpft wurden. (Dabei unterschlägt der moderne
Geozentriker, ihm vermutlich schon völlig unbewußt, daß die Religiösen der
Religionen auf Götter oder Gott hin zentriert waren und sind, weil ihnen diese
Instanzen im Mittelpunkt der Welt zu stehen schienen und scheinen.)
Erst der Mut und die Kraft der neuen Menschen der neuen Wissenschaften
(über die Religiosität Keplers, Galileis und Kopernikus fällt kein Wort mehr)
hätten die Menschheit von ihrer „ursprünglichen Selbstzentriertheit“ befreit. Mit
den Mitteln der Wissenschaften hätten sie durch Verstand und Beobachtung,
durch Vernunft und systematische Rationalität das alte durch das neue Weltbild
ersetzt. (Sie wären demnach zugleich die ersten Religionsüberwinder gewesen,
und die Jahrhunderte währenden Religionskriege Europas zwischen Katholiken
und Reformatoren und anderen erweisen sich plötzlich als verzichtbare
Unsinns-Kapitel in der Geschichte Europas und der Menschheit.)
Doch war der Anfang der neuen Wissenschaften und ihres neuen Weltbildes nur
der Beginn einer noch viel großartigeren Erfolgsgeschichte: Wer könnte heute,
nachdem wir ein Universum mit Millionen Galaxien mit Abermilliarden Sonnen
und Planeten entdeckt haben, auch nur fragen, ob, geschweige behaupten, daß
die Menschheit im Mittelpunkt der Welt lebe und existiere? Wer zweifelsfrei
weiß, daß unsere Galaxie nur eine von unzähligen im Universum ist, das
angeblich zweifelsfrei vor nicht ganz 14 Milliarden Jahren durch einen Urknall
entstand, der weiß auch zweifelsfrei, daß die Erde vor 4,5 Milliarden Jahren
entstand.
III.
Das letzte Glied dieser Erfolgsgeschichte, den Gründervätern der modernen
Wissenschaft noch unbekannt, hat uns auch über die Evolution von biologischen
Arten als Vorgängern der Menschheit belehrt, die mit ersten einzelligen
Organismen vor vielleicht 3 Milliarden Jahren einsetzte. Kurz: weder räumlich
noch zeitlich ist da ein Ort und Raum, der uns einen auserwählten Platz in der
Mitte der Welt zuweisen könnte. Die religiöse Konstruktion eines physischen
Mittelpunktes der Welt hat sich als vollkommen illusorisch erwiesen.
Mehr noch, belehrt uns der kampfbereite Anti-Neogeozentriker der Gegenwart,
alle „Kränkungen“, die uns die Entdeckungen der modernen Wissenschaften
bereitet haben, haben bewiesen, daß wir unbedeutende Zwerge und
verschwindende Zufälligkeitsprodukte sind. „Im Vergleich zur unermesslichen
Größe von Raum und Zeit“ müssen wir uns als vollkommen Gedemütigte
erkennen. Nur noch ein Mensch, der sich weiterhin als Homo narcissus
verkenne, könne mutwillig behaupten, der „ganze Kosmos sei nur für uns
gemacht“, und wir seien die einzigen und die auserwählten Einen im Mittelpunkt
des Universums.
Doch wo das Vernichtende droht, wächst das Rettende auch. Die Entdeckungen
und Erkenntnisse der modernen Wissenschaften sollten uns nämlich auch mit
Stolz erfüllen, erklärt der getreue Geozentriker. Denn nur durch diese sei die
Menschheit dem „finsteren Mittelalter“ und dessen „wahnhafter
Selbstüberschätzung“ entkommen. Diese Deutung erfreut uns Gekränkte: Der
Mensch ist vielleicht doch ein homo sapiens – ein Günstling der Natur, – in voller
Länge, Tiefe und Breite?
Weil aber das Dogma vom Stolzsein unvermittelt neben dem Dogma vom
Gekränktsein steht, sollten wir auch die Wochentage unseres Lebens zeitgemäß
diszipliniert, weil wissenschaftsgemäß aufteilen: In Selbstverachtung von
Montag bis Donnerstag, in stolzer Selbsterhöhung ab Freitag lebend, denkend,
glaubend, wissend… Ein gedemütigter Zwerg der Evolution wäre zugleich der
einzig Wissende von dieser und der Welt überhaupt? Letzteres kann er
bekanntlich doch nicht wissen, weil er mit potentiellen Außerirdischen in
Abermillionen realen Planetensystemen noch nicht zu kommunizieren versteht.
Und an diesem Punkt ereilt uns wieder die weltkluge Metapher vom
„Mittelpunkt.“ Ein später Mehrzeller der Evolution mag viel wissen und entdeckt
haben, aber als Mittelpunkt der Evolution kann er niemals Karriere machen.
Dann „da draußen“ ist kein Mittelpunkt, nirgendwo und nirgendwann, und
daher könne auch in ihm kein Mittelpunkt sein, durch den er im Mittelpunkt der
Welt stünde.
Dieses Credo der modernen Wissenschaften, das dem Säkular-Menschen der
modernen Welt aus vielen Richtungen entgegenschallt und ihn zu missionieren
versucht, wirkt wie eine kollektive Selbstvernebelung, aus der kein Entrinnen
möglich scheint. Auf die Idole eines räumlich-zeitlichen Vorstellens fixiert, sieht
er auch sein Denken, seinen Verstand, seine Vernunft, den großen Raum seiner
Theorien über die Welt an irgendeinen Zufallsort des Universums geworfen, auf
diesen Globus, den er Erde nennt, ein irgendwie unwürdiger Heimatort, aus den
zu entfliehen, er fast schon entschlossen ist. Unmöglich, ihm klarzumachen, daß
der Verstand des Menschen nicht auf einem Globus geht, die Vernunft nicht auf
der Erde läuft und kreist, der Raum der Theorien nicht in seinem Kopfe existiert.
Gegen das gespaltene Credo der modernen Naturwissenschaften hilft ihm auch
das Gegen-Credo vieler moderner Kulturwissenschaften nicht hinweg. Denn das
hinfällige Gegenargument, alles was der Mensch als Welt behaupte und
vorstelle, sei ohnehin nur seine Konstruktion, weil er den Grenzen seines
Vorstellens nicht entlaufen könne, und weil jede Epoche und jede Kultur jeweils
nur spezielle und relative, überdies geschichtlich vergängliche Bühnen des
Weltkonstruierens errichte, schleudert ihn in ein noch verworreneres Nebelloch.
Wir wären die Zauberlinge, die den Stoff, aus dem die Welt gemacht wurde,
selbst gemacht haben, nun aber über unser Machertum und dessen Produkt in
erhebliche Zweifel und Verzweiflung geraten sind.
Die beiden Paradox-Kuriosa: Einmal total gekränkt und zugleich total stolz, zum
andern totaler Konstrukteur und zugleich totaler Dekonstrukteur, gereichen der
modernen Menschheit nicht zur Ehre. Eine nicht mehr vernebelte Menschheit
der Zukunft wird über uns staunen und unsere Verwirrtheit richten.
IV.
Daß „angesehene Wissenschaftler“ in jüngster Zeit versuchten, etwas „in den
Mittelpunkt“ der Welt zu rücken, das dort weder hingehöre noch jemals
gewesen sei: „unseren Verstand, unser Bewusstsein“ – dies sei der Skandal des
revisionistischen Neo-Geozentrismus. Nach den bisherigen Argumenten des
leidenschaftlichen Verteidigers des geozentrischen Weltbildes würde man
erwarten, daß Kopernikus und Kepler zusammen mit der Erde auch den
Verstand und das Bewußtsein der Menschheit delogiert hätten. Weil unsere
Körper seit Beginn der Neuzeit unsere Köpfe nicht mehr auf einem Welt-
Mittelpunkt-Planeten herumtragen, eben daher wären zusammen mit der Erde auch Verstand und Bewußtsein der Menschheit in einen dezentralen Punkt und
auf eine periphere Bahn geworfen worden.
Auf einem Planeten als Welt-Mittelpunkt hätten unsere Köpfe vielleicht noch
eine Chance auf Einsicht in und Überblick über das Weltganze gehabt, jetzt aber
sei es damit vorbei. Unbewußt scheint der fundamentalistische Geozentrist die
absurden Konsequenzen dieser absurden Prämisse zu ahnen. Denn plötzlich
haben doch nicht Kopernikus, Kepler und Galilei die Bahn unseres Verstandes
verrückt und den Standort unsres Bewußteins delogiert.
Viel bedeutendere Nachfolger dieser drei Heroen des wissenschaftlichen
Weltbildes haben dies bewirkt: Gehirnforschung nämlich habe bewiesen, daß
„Bewusstsein eine Eigenschaft einer besonders bizarren Form von Materie ist:
Gehirn.“ Und diese bizarre Materieform sei „erst in kosmisch gesehen jüngster
Zeit auf der Erde entstanden.“ Da nun nicht die langmächtige Evolution selbst
uns offenbart hat, daß wir Spätgeburten der Evolution sind, kann nur
Gehirnforschung entdeckt haben, daß Gehirne die Welt und deren Evolution
entdeckt haben. Und vielleicht sogar mehr als nur entdeckt?
Sind wir als erkanntes und erkennendes Gehirn nicht sogar in einem neuen
Mittelpunkt der Welt angelangt? In einem endgültigen Alpha-und Omega-Punkt,
weil ein höherer und tieferer, ein gründlicherer und begründungsmächtigerer
Mittelpunkt unseres Bewußtseins und Verstandes nicht mehr gefunden werden
kann? Gewiß, jeder gewissenhafte Gehirnforscher schränkt sein Credo an die
Macht des Gehirns durch die bekannte Klausel „soweit wir heute wissen“ wieder
ein. Aber dies ändert wenig an der Tatsache, daß „hinter dem Gehirn“ im Körper
des Menschen kein höheres Machtorgan, kein mittelpunkartigerer Mittelpunkt
gefunden werden kann. (Die alten Zentralmächte Nervensystem, Zirbeldrüse,
Schädel und auch alle Mächte der Astrologie, – Kepler war einer ihrer gläubigen
Verfechter -, läßt das moderne Gehirn weit hinter sich.)
Allerdings würden auch Gehirne als vermeintlicher Mittelpunkt der Welt nur das
gekränkte Schicksal der Erde und ihrer Erdenbürger teilen, in Köpfen und auf
Körpern von menschlichen Lebewesen auf einem Planeten von unzähligen um
eine Sonne von unzähligen in einer Galaxie von unzähligen kreisen zu müssen.
Und auch diese Erkenntnisse können uns nach dem neuesten Stand des
wissenschaftlichen Weltbildes nur unsere Gehirne eröffnet haben. Es scheint sie
zu ergötzen, ihre Kränkung als unsere Kränkung zu verkaufen.
Andererseits wird nun auch deutlich, wer Kopernikus, Kepler und Galilei als
Souffleur zur Seite stand, als diese das geozentrische Weltbild zu entdecken und
systematisch zu entwickeln begannen: Es war eine „bizarre Materie Namens
Gehirn.“ Ein Name, der für ein neues Alpha und Omega, für ein neues Zentrum
aller Realität zu stehen scheint.
Nun ist aber ‚Verstand‘ schlicht und ergreifend ‚Denken‘; und wer leugnet, daß
dieses im Zentrum stand, als die Begründer des geozentrischen Weltbildes zu
forschen und zu überlegen begannen, wie sich ihre neuen Beobachtungen und
Berechnungen mit den bisherigen (ptolemäischen) Begriffen von Sonne, Erde
und Mond widerspruchsfrei reimen könnten, dem bleibt nur übrig, eine andere
Instanz in den Mittelpunkt dieses Erforschens zu setzen. Ein unmittelbares
Wahrnehmen oder ein direktes Beobachten beispielsweise, durch das sich
urplötzlich ein wahres Abbild der Realität des Sonnensystems offenbart hätte.
Wie ein Spiegel könnte das Bewußtsein der Forscher und Entdecker funktioniert
haben, weshalb ihnen die bewegten und unbewegten Sterne am Himmelszelt
unmittelbar mitteilten, wie das Sonnensystem eigentlich und wirklich aussieht.
Unter den Bildmassen und Bildpunkten, die auf die Linsen ihrer Fernrohre und
die Netzhaut ihrer Augen – nach neuestem Weltbild: auch in die
Neuronengänge ihrer Gehirne – prasselten, könnte ein Gesamtbild gewesen
sein, daß unser Sonnensystem in der Vogelschau von oben zeigte. Folglich war
evident: nur die Sonne, nicht die Erde und auch kein anderer Planet konnte die
gesuchte Mitte ausfüllen.
Und nur weil sich Kopernikus, Kepler und Galilei dabei gänzlich inaktiv
verhielten, frei von allen narzisstischen und selbstzentrierten Gedanken und
Beobachtungen, wurde ihnen das neue Weltbild (eine Metapher, die ihre
verräterische Blindheit sprachlich offenbart) widerspruchsfrei zugesandt und
eingetröpfelt, wahrheitsgemäß eingebildet und eingetrichtert.
Und dieses Wunder geschah während eines unaufhaltbaren Sturzfluges der
Erde um die Sonne, (nach heutigen Berechnungen: 29 000 km/s = 110 000
km/h) ohne daß die Entdecker auch nur ein Gran Schwindelgefühl oder sonstige
Verwirrung übermannte, und auch von wackelnden Fernrohren und sich
verrückenden Schreibtischen wird nicht berichtet.
V.
Niemand leugnet, daß die Entdecker des geozentrischen Weltbildes,
Kopernikus zunächst noch hypothetisch, Kepler bereits kategorisch und
realistisch, für ihre Forschungen neue Instrumente und Methoden des
Beobachtens und Berechnens und überdies einen hohen Entwicklungsstand von
Mathematik und Physik voraus- und einsetzten. Und daß sie dabei „bei
Bewußtsein“ waren, sollten wir anerkennen, um nicht ihren Ruf als
verantwortungsvolle Forscher zu beschädigen.
Doch erhebt sich nun gegen diese Anerkennung und Zuerkennung der
genannte Einwand des modernen wissenschaftlichen Weltbildes. Denn „soweit
wir heute wissen“, bedeutet die Floskel „bei Bewußtsein“ lediglich, daß sich
Kopernikus, Kepler und Galilei einer „bizarren Form von Materie“ bedienten.
Bedienten oder bedient wurden?
Wenn das Gehirn als eigentlicher Akteur, als bizarre Kopfmaterie tätig war, dann
wurden die Forscher gut und bestens bedient, – unfehlbar diktierte das Gehirn,
was zu erkennen war. Wenn aber das Bewußtsein der Forscher – als
denkendes, beobachtendes und berechnendes – als eigentlicher Akteur
anzunehmen ist, dann konnten sie sich nicht ihres Gehirns bedienen. Das
Gehirn kann nicht als Werkzeug und Mittel für das Entdecken und Erkennen von
Welt fungieren. Weder kann das Gehirn ein Wissen über die Welt diktieren, noch
kann man sich seiner als einer Maschine bedienen, – im Gehirn kann man nicht
„googeln.“
Eine „bizarre“ Kopfmaterie „Bewußtsein“ müßte das Kunststück zustande
bringen, zugleich als Werkzeug und Mittel dienen wie auch als Befehlsgeber und
kontrollierender Mittelpunkt des Menschen und seines Welt- und
Selbsterkennens fungieren zu können. In diesem Falle wäre das menschliche
Bewußtsein eine neo-archaische Form von Orakel oder Dämon, ein denkendes
und sprechendes, ein beobachtendes und schreibendes Gehirn. Und diese
mysteriöse Instanz würde auch die Synthese von Verstand und Beobachtung,
von Denken, Anschauen und Berechnen leisten, der sich die Forscher, nachdem
was wir bisher zu wissen glaubten, bedienten.
Der (post)moderne Anti-Neo-Geozentriker hat eigentlich keine Wahl, – sein
physikalistischer Reduktionismus hat ihn verführt, „Bewußtsein als bizarre
Materie“ zu qualifizieren. Doch kann ihm dabei nicht wohl sein in seiner Haut.
Denn seine grandiose Laudatio über die Befreier aus dem Gefängnis des
finsteren Mittelalters wäre verlorene Liebesmüh, wenn die Heroen der
neuzeitlichen Wissenschaft lediglich reproduziert hätten, was ihr Gehirn immer
schon wußte, nur leider seit Beginn der Menschheit verborgen gehalten hatte.
Die „Finsternis des Mittelalters“ wäre durch eine neue Finsternis abgelöst
worden.
Mit einem Wort: die Entdeckung des geozentrischen Weltbilds verdankt sich
nicht einem abspiegelnden und passiv reproduzierenden, sondern einzig und
allein einem überaus (kon)zentrierten Verhalten des menschlichen Bewußtseins.
Wenn man will: einer Erleuchtung und Offenbarung, die davor nicht oder nur in
dunklen Keimen und unsicheren Vermutungen in der Welt der Menschheit
gewesen ist.
VI.
Doch kann ein fundamentalistischer Physikalist dieser Deutung schwerlich
zustimmen, verfügt er doch über keinen rationalen Begriff von Bewußtsein.
Denn wer die unleugbare Realität des Bewußtseins als eine „bizarre Form von
Materie“ qualifiziert, stellt seine Gesprächspartnerschaft in Frage. Eine
betrübliche Einsicht, die auf ein Grundübel unserer Kultur verweist: auch
Koryphäen der Naturwissenschaft denken und schreiben oft wie philosophische
Analphabeten.
Nun kann der Satz „Die Menschheit steht im Mittelpunkt der Realität“,
selbstverständlich auch im Sinn moderner Esoteriken verstanden und für deren
Zwecke mißbraucht werden. Wenn aber der polemische Neo-Geozentriker
behauptet, hinter diesem Satz stehe nichts als betrügerische Esoterik, verrät er
nur seinen Mangel an Verständnis für die Frage nach dem Was und Woher von
Bewußtsein. Und verweist zugleich auf das aufschlussreiche Faktum, daß
moderne Physiker immer wieder in moderne Esoterik „aufsteigen“ und dadurch
abstürzen.
Mit der Behauptung der aktuellen Neo-Geozentriker, Bewußtsein sei eine
„bizarre Form der Materie“, es sei sogar für das Ganze von Welt und Menschheit
„nicht weniger wichtig als die Existenz von Materie“, werde ein Irrweg
beschritten, dem wahre Wissenschaft schon zu Ehren der heroischen
Heliozentriker der ersten Stunde Einhalt gebieten müsse.
In seinem polemischen Eifer übersieht der fundamentale Physikalist, daß die
Frage nach dem Bewußtsein, was es und ob überhaupt eines sei, mit der Frage,
ob die Sonne oder die Erde im Mittelpunkt unserer kosmischen Welt steht, rein
gar nichts zu tun hat. Beide Annahmen lassen sich nur durch, mit und in einem
Bewußtsein, für dessen Wissen oder Glauben, annehmen.
Und die Realität dieser Wahrheit wird auch nicht dadurch aufgehoben, daß
gewisse Esoteriker an eine Welt- oder Erdseele (Gaia) glauben und als neues
Weltbild verkünden. Auch Gaia bleibt, ob beseelt oder nicht, ob von sich wissend
oder nicht, ein normgerechter Planet, ein Trabant unserer Sonne, der nicht
mehr in die Mitte unserer Welt verrückbar ist.
Das Schlagwort von einem real existierenden „Neo-Geozentrismus“ dient
unserem wissenschaftlichen Don Quichote nur als Vorwand, um einen ganz
anderen Kampf zu kämpfen. Den Kampf des physikalischen Reduktionismus
und seiner materialistischen Ideologie gegen gewisse Obskuranten, die zu
behaupten wagen, Bewußtsein und Geist seien etwas anderes als nur
Nebenprodukte des Gehirns.
Was ihn entrüstet, ist nicht, daß irgendwer die Erde wieder in den Mittelpunkt
des Sonnensystems zu rücken beabsichtigt, sondern daß neuerdings nicht nur
Esoteriker, sondern auch namhafte Wissenschaftler der modernen
Wissenschaften die Ansicht vertreten, Bewußtsein lasse sich nicht auf Gehirn
und Materie zurückführen.
Während das „neo-geozentrische“ Denken noch vor Jahren bloß am Rande der
Wissenschaften grassierte, sei es nun zu einem allgemeinen Trend geworden.
Nicht mehr nur die einschlägigen Gurus einer „ganzheitlichen
Gesundheitsszene“, nicht mehr nur die Anhänger der „transzendentalen
Meditation und hinduistischen Metaphysik“ wagen nun zu behaupten, eine neue
Wissenschaft müsse das Phänomen Bewußtsein als grundlegend anerkennen.
Sogar Neurowissenschaftler, die es doch besser und am allerbesten wissen
müßten, weil sie direkt an der Quelle von Bewußtsein und Geist sondieren und
beobachten, wurden vom Bazillus des „Neo-Geozentrismus“ angesteckt. Erst vor
kurzem haben sie neuerlich, zusammen mit Psychologen und Psychiatern, bei
einem Wissenschaftskongreß an der New York University, die kühne These
vertreten, „Bewußtsein sei von zumindest ebenso großer Bedeutung wie
Materie.“
Wenn aber nicht nur Psychologen und Psychiater, die schon von Berufs wegen
gewissen unwissenschaftlichen Vorurteilen anhängen müssen, sondern auch
prominente Kollegen der Naturwissenschaften der neuen Irrlehre nachhängen,
ist Alarm angesagt und Einspruch durch kritische Aufklärung gefordert.
Immerhin zählen naturwissenschaftliche Theorien (auch über Bewußtsein und
Geist) zu den angesehensten unserer Kultur, sie regieren das öffentliche Meinen
und Denken der führenden Medien.
Im kritischen Focus des Anti-Neo-Geozentristen stehen zunächst
informationstheoretische und quantentheoretische Modelle von Bewußtsein.
Jene ermöglichen durch die Zauberkategorien „Information“ und
„Informationsverarbeitung“ eine (natur)wissenschaftstaugliche Theorie des
Bewußtseins; diese prophezeien eine quantenmechanische Deutung von
Bewußtsein als künftiges Ziel und Heil.
Das informationstheoretische Modell von Bewußtsein und Geist sei
„grundsätzlich neo-geozentrisch“, weil ‚Information‘ als Vermögen eines
Systems definiert wird, einen Beobachter zu überraschen. In klaren Worten: ein
Bewußtsein wird unterstellt, das in der Mitte aller seiner Akte, auch seiner
Überraschungen, stehe. Wie die Erde einst im Mittelpunkt des Planetensystems
stand, soll ein Bewußtsein des Menschen im Mittelpunkt seiner Erfahrungen
stehen. Ganz ohne Befragung seines Gehirns soll es überraschungsfähig sein
und durch Kommunikation mit Informationen seine Existenz als Bewußtsein
beweisen.
Und aus dieser Unterstellung einer Überraschungsinformation für einen
überraschbaren Informanten wird dann unverschämterweise auch noch eine
„Theorie für alles“ destilliert. Was naturgemäß den Zorn des anti-
geozentrischen Physikers erregen muß, weil viele Wissenschaften der
modernen Physik schon seit Jahrzehnten an einer „Theorie für alles“ basteln,
ganz ohne den Faktor Bewußtsein zu benötigen. Die bisher bekannten vier
Grundkräfte genügen durchaus, die Weltformel einer theory of everything
anzupeilen, auch wenn neuerdings Dunkle Materien und Dunkle Energien
dunkle Sorgen bereiten. Aber auch diese, wenn einmal in naher oder ferner
Zukunft als existierende Substanzen bewiesen, werden gewiß nicht des bizarren
Faktors „Bewußtsein“ bedürfen.
Mit deutlichen Worten: Das bizarre Denken des Anti-Neo-Geozentrikers tickt
nach falschen Takten. Er bemerkt das „bizarre“ Phänomen, daß bei und in
informationstheoretischen Systemen deren Theoretiker als Beobachter ihrer
Systeme in deren Mittelpunkt stehen müssen. Der Werkmeister und sein Werk
sind nicht identisch. Nicht hat die materielle Welt informationstheoretische
Systeme als Erkenntnissysteme der materiellen Welt geschaffen.
Folglich setzt jeder Wissenschaftler, bemüht, die Welt zu erkennen, sich als
erkennendes Selbst in seinem erkennenden Tun voraus. Und dieses für die
Naturwissenschaften ominöse „Selbst“ kann nur als nichtmaterieller Punkt
vorausgesetzt werden, als innerster Mittelpunkt aller Kreise des erkannten
Wissens. Keplers Gesetze laufen in seinem (und unserem) Bewußtsein
zusammen; aus dem Zentrum unseres Wissens folgen sie mit rationaler
Begründung und Vermittlung. Die Ratio der Planetenwelt wurde durch die Ratio
unserer Erkenntniswelt begriffen und bewiesen. Eine Ratio, die voraussetzt, daß
der sie Wissende auch seinerseits von sich und seiner Erkenntnis weiß.
Doch wer in der alltäglichen Menschenwelt von heute immer noch von
Bewußtsein und Selbstbewußtsein, von Geist und Wissen als Zentren der
erkannten Welt(en) spricht, begeht den Frevel, gegen die Dogmen des
gehirnwissenschaftlichen Welt- und Menschenbildes zu verstoßen. Und dieser
„neo-geozentrische“ Frevel wird geahndet und an den Pranger gestellt, als wäre
das erkennende Bewußtsein von Forschern und Wissenschaftlern – auch von
Gehirnforschern – mit dem Ort und der Bahn der Erde im Planetensystem
unserer Sonne vergleichbar oder gar gleichzusetzen. Der Verwechslung von
Bewußtseinstheorie und Sonnensystemtheorie läßt sich weder ein
wissenschaftliches Meisterstück noch eine neue „theory for everything“
entlocken.
VII.
Das informationstheoretische Modell von Bewußtsein und Geist ist nicht
„grundsätzlich neo-geozentrisch“, es ist grundsätzlich falsch. Die Stimmigkeit
seiner Gesetze hat Kepler nicht „überrascht“, sondern überzeugt und zu
religiöser Bewunderung erhoben. Und die Verarbeitung der „Informationen“
dieser Gesetze war deren Erkenntnis und Darstellung durch sein wissendes
Bewußtsein.
Das informationstheoretische Modell von Bewußtsein und Geist ist zwar
„grundsätzlich neo-geozentrisch“, rechnet aber immerhin noch mit einem
Beobachter, der mit der Information, durch die er überrascht wird, nicht
identisch ist. Der Beobachter und seine Beobachtungen, das Bewußtsein und
dessen Weltinhalte fallen nicht zusammen, hier besteht noch eine Chance, daß
Bewußtsein und Materie zumindest gleiches Existenzrecht erhalten.
Dies ist im nächsten Modell, dem „integrierten informationstheoretischen
Modell“, nicht mehr der Fall. Die Information wird nun selbst in den Status von
Geist und Bewußtsein erhoben, sie weiß von sich, sie ist selbst Beobachter ihrer
Informationsverarbeitungen.
Denn jedes System, das aus interagierenden Teilen besteht, „zum Beispiel auch
ein Proton, das aus drei Quarks besteht“ – verarbeitet Information und „besitzt
daher Bewusstsein.“ Auch diese These ist kein „Neo-Geozentrismus“, sondern
ein reduktionistischer Irrtum, allerdings ein Reduktionismus in umgekehrter
Richtung: kein naturwissenschaftlicher, sondern ein animistischer – nach
modernen Begriffen: ein pseudoreligiöser Reduktionismus. (Der vorhin beklagte
Umschlag moderner Naturwissenschaft in mythisches Denken.)
In der Interpretation des polemischen Geozentrikers führt das „integrierte
informationstheoretische Modell“ zu einer „neuen Version des mystischen
Panpsychismus, dem zufolge jeder Form von Materie Bewußtsein innewohnt.“
Ein zutreffendes Urteil, das aber auch seine eigene Theorie verurteilt, – die
Reduktion von Bewußtsein auf biologische Gehirnaktivitäten. Denn eine „bizarre
Materie Bewußtsein“ ist lediglich die Umkehrung des mystischen
Panpsychismus in einen mystischen Panbiologismus.
Nach der Logik des Panpsychismus müßte die Erde ein Bewußtsein von den
glühenden Lavaströmen in ihrem Erdmantel, von ihren Vulkanausbrüchen und
Erdbeben und natürlich auch von ihrer rasanten Rotation und dem noch
rasanteren „Flug“ um die Sonne haben. „Gaia“ wäre kein „moderner Mythos“,
sondern bare und wirkliche Realität. Ganz ohne Gehirn hätte die Erde
Bewußtsein und Selbstempfindung, denn wie alle Staubteilchen des Universums
hört auch die Erde niemals auf, Informationen aufzunehmen und zu
verarbeiten.
Auch die weiteren Varianten des bekämpften „Neo-Geozentrismus“ sind
lediglich Varianten moderner naturwissenschaftlicher Theorien über
Bewußtsein und Geist. Schon vor Jahrzehnten habe beispielsweise der Physiker
John Wheeler festgestellt, daß die Quantenmechanik ein „partizipatorisches
Universum“ erfordere. Denn die zweifache Antwort auf die Frage, ob ein Photon
als Welle oder Teilchen erscheine, kann nur in der Partizipation durch ein
wissendes Bewußteins erfolgen. Von unserer Art, ein Photon zu betrachten,
hänge ab, welche Antwort gewählt wird. Also hänge das Universum „auf
irgendeine Weise von uns ab.“
Auch der „moderne Mythos“ von „Schrödingers Katze“ gehört in dieses
naturwissenschaftliche Schatzkästlein. Lebendigsein und Totsein von
Schrödingers Katze sind die zwei Seiten ihrer Medaille, die in fideler
Gleichzeitigkeit miteinander auskommen. Die Partizipation des Physikers leistet,
was in der modernen Welt beinahe schon verschwunden war: Wunder und
Wundertäter, jetzt aber durch Gleichungen bewiesen und wissenschaftlich exakt
verfahrend.
Weil sich die Teilchen der Materie nicht selbst beobachten, berechnen und
vermessen, wenn sie ihre Informationen verarbeiten und an andere Teilchen
weitergeben, stecken wir sie bekanntlich in Teilchenbeschleuniger, um hinter
ihre verborgenen Schliche zu kommen. Selbstverständlich einen nur minimalen
Bruchteil aller Teilchen dieses Universums. Aber das genügt, um die
beobachteten als „pars pro toto“ zu nehmen, ein kühnen Schluß vom Teil auf
das Ganze, zu dem uns entweder eine mystische Gehirnaktivität oder doch nur
unsere Neugier auf eine mögliche Erkenntnis dessen anhält, was die physische
Welt im Innersten zusammenhalten mag. Nur im letztgenannten Fall kann von
Partizipation, im ersten Fall nur von Teilen und Teilchen – des Gehirns als
spezieller Form universaler Materie – gesprochen werden.
Eine andere Variante, die der „orchestrierten objektiven Reduktion“, dreht die
„partizipative“ Deutung der Quantenmechanik – es sei unsere Beobachtung, die
die probabilistischen Quantenzustände der Materie in die anschauliche Ruhe
der „klassischen“, der mesokosmischen Materie unserer alltäglichen Dinge (vom
Apfel bis zu Mond und Sonne) transformiere – radikal um. Der „Kollaps der
Wellenfunktion“ sei die Ur-Ursache von Bewußtein. Und weil dieser Kollaps in
jeder Form von Materie Realität sei, also nicht nur in unseren Gehirnen, sei
anzunehmen, daß das Bewußtsein „eng mit den Gesetzen verbunden ist, die
das Universum regieren“.
Das Bewußtsein macht Fortschritte, jetzt ist es nicht mehr eine „bizarre Form
der Materie“, sondern der berechenbare Kollaps einer Wellenfunktion in jeder
Materie. Von hier ist es dann nicht mehr weit zur höchsten Erleuchtung:
„Bewußtsein sei möglicherweise sogar der Funke, der den Urknall ausgelöst
hat.“
Bewußtsein als „Funke“ ist sympathischer als die These der nächsten Variante:
die Menschheit lebe in einer durch Computersimulation geschaffenen Welt.
Womit der neueste Gott der modernen Wissenschaften, der alles erschaffende
Ur-Computer die Bühne betritt.
Schon Descartes habe darüber gegrübelt, ob die Welt eine für uns von
Dämonen erzeugte Illusion sein könnte. Aus dieser Möglichkeit eines
Gedankenexperiments wird Wirklichkeit, wenn ein Computer-Philosoph
pflichtgemäß verkündet, „wir leben wir in einer Computersimulation.“ Auch
Physiker und selbstredend der „Technologie-Titan“ Elon Musk bekennen sich zur
Simulations-Hypothese unserer „hochtechnisierten Zivilisation.“ Ist auch diese
wahnhafte Wissenschafts-Ideologie eine Manifestation des „Neo-
Geozentrismus?“ Nein, diesmal würden wir nur den „Kreationismus in neuer
Verpackung“ erblicken.
Fehlt noch das „anthropische Prinzip“, bei dem es sich sogar um eine „neo-
geozentrischen Tautologie“ handeln soll, dem übrigens auch der prominente
Physiker Stephen Hawking anhänge. Irgendwann hatten die Physiker nämlich
die Hoffnung aufgegeben, jemals erklären zu können, „warum unser Universum
gerade so ist, wie es ist.“ In diesem Augenblick der Hoffnungslosigkeit konnte
nur noch ein Prinzip helfen, das besagte, „unser Universum müsse gerade so
sein, wie wir es beobachten, weil wir sonst nicht da wären, um es zu
beobachten.“
Diesem Satz, der von einem unserer abertausend Kabarettisten stammen
könnte, kann nun wirklich nicht mehr geholfen werden. Mag er eine Tautologie
sein, mit „Geozentrismus“ hat er nicht das Geringste zu tun. Die Erkennbarkeit
der Welt durch die Methoden der Wissenschaften bedeutet nicht, daß die Welt
um unseres Erkennens und unserer Existenz willen da ist. Das Gegenteil von
Tautologie findet statt: denn eine Menschheit, der sich die Gesetze und
Realitäten der Welt erschließen, muß mehr als ein Geo-Zentrum, sie muß ein –
auch sich selbst – erschließendes, ein intelligibles Machtzentrum sein. Daran
ändert sich nichts durch die Tatsache, daß die Menschheit erst wenige Millionen
Jahre in einer Milliarden Jahre alten Welt unterwegs ist.
Leo Dorner, März 2017