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41 Selbstmord oder Neugründung Europas?

I. Staat und Demokratie im Zeitalter ihrer globalen Bedrohung

Die Frage, ob Staaten lediglich ein Aggregat vieler Einzelmenschen sind, oder, im
genauen Gegensatz dazu, das andere Extrem: eine quasi-organisch
zusammengewachsene Einheit seiner Staatsbürger, ist mittlerweile als idyllische
Schulübung staatsrechtlicher Anfangsdiskurse obsolet geworden.

Denn die kolossalen Probleme, mit denen die (nicht wenigen)
Einwanderungsländer Europas, dramatisch gesteigert seit 2015, zu kämpfen
haben, führten zu neuen und nunmehr realistischen „Anfangsdiskursen“ über
die Grundlagen der modernen Staaten: Worauf sind diese begründet, und was
hält sie in Zeiten globaler Bedrohung zusammen? Vielleicht eine EU, die in naher
oder ferner Zukunft fähig sein könnte, ein gemeinsames Asylrecht
durchzusetzen und überdies den oft versprochenen „Schutz der EU-
Außengrenzen“ wirksam zu organisieren und irgendwie nebenbei auch noch die
„Fluchtursachen“ von Pakistan bis Marokko, von Gambia bis Somalia und Sudan
zu „bekämpfen“? Mit dieser Frage gibt der Fragende zu erkennen, daß er das
Problem der Massenmigration für Europas Schicksalsfrage hält. Womit das
Vereinigungsprojekt EU zugleich mit in Frage gestellt wird, weil ungewiß ist, ob
das EU-Dauermantra „Nur gemeinsam“ mehr ist als eine Phrase, die beruhigen
soll, oder doch das Motto einer durchsetzbaren Gemeinschaftspolitik, die das
Migrationsproblem für Europa „lösen“ könnte. (Viele, allzuviele Anführungszeichen-Worte:                         Schlagworte der hohen Politik, die das Kainsmal der Ratlosigkeit an ihrer Stirnseite tragen.)

Andere haben andere Probleme und Abgründe entdeckt, an deren Bewältigung
das Schicksal Europas hängen soll. Weltklima und Welthandel seien bedroht,
und die demographischen, finanzpolitischen, bildungs- und
arbeitsmarktpolitischen und nicht zuletzt EU-politischen Probleme bedürften
einer gemeinsamen Antwort auch und gerade durch ein rasch und verbindlich
sich vereinigendes Europa.

Dieses müsse, obwohl zurzeit von vertiefter Vereinigung wenig gemeldet wird,
mit einer Stimme und Macht („nur gemeinsam“), den Bedrohungen
entgegentreten, und alle Probleme, die samt und sonders „global“ seien,
gleichfalls „nur gemeinsam“ lösen.

Mögen nun die Bedrohungen und Probleme, die Europa und seine Staaten
heute einschüchtern, diese oder jene oder auch noch andere sein, in jedem Fall
ist die Frage nach dem Wesen, das den Staat definiert und zusammenhält in
einen völlig neuen Focus gerückt.

Der basale staatliche Antagonismus verläuft nun nicht mehr zwischen einem
Aggregat aus Individuen, die sich als angeblich atomisierte Einzelne mit ihren
individuellen Unterschieden gegen die „organische“ Macht eines
Nationalstaates positionieren. Dort die freien Einzelnen, hier der unfreie
Leviathan, der eine verwaltete Welt regiert. Dieser Unterschied, von gewissen
Ideologien immer wieder aufgewärmt, ist nun in den Hintergrund getreten. Die
individuellen Unterschiede der Individuen sind nicht verschwunden, aber ihr
politisches Gewicht ist geschwächt, weil die kollektiven Unterschiede
verschiedener Kulturen und Religionen, die den „globalisierten“
Einwanderungsstaat entweder „bereichern“ oder an den Rand des
Zusammenbruchs führen, die Bühnen der staatspolitischen und
staatsrechtlichen Diskurse erobert haben.

Da zwischen jenen, die von „Bereicherung“ reden und schwärmen, und ihren
Gegnern, die einen „Zusammenbruch“ behaupten oder erleben, keine
vermittelnde Mitte existiert, werden EU und die Staaten Europas durch eine
flächendeckende Polarisierung gespalten. Die Scheinmitte der Gleichgültigen,
die das politische Leben oder Überleben ihrer Staaten oder Europas nicht
interessiert, fällt politisch nicht ins Gewicht.

Und obwohl die Spaltung nicht die Ursache der Bedrohung, sondern lediglich
deren reagierende Wirkung ist, wirkt sie dennoch wie eine primäre Ursache,
weil sie zu unaufhörlichen und unversöhnlichen Konflikten und
Auseinandersetzungen der beiden Blöcke führt. Daran ändert die Tatsache
wenig oder nichts, daß sich beide Parteien ihrerseits in gemäßigtere und
radikalere Fraktionen differenzieren. Befürchten die einen den Zerfall ihrer
Staaten in Parallelkulturen und einander fremde Sondergesellschaften, sehen
die anderen das Gegenteil von Gefahr und Bedrohung, weil erstens die
europäischen Staaten schon seit langem in Parallelkulturen zerfallen wären und
zweitens die Überalterung des Kontinents einen dringlichen Austausch des
Genpools der europäischen Bevölkerung fordere.

Neubevölkerung und Neubesiedlung lautet demnach das Gebot der Stunde,
und um dieses befolgen zu können, sei die Völkerwanderung nach Europa (von
Pakistan bis Marokko, von Libyen bis Sudan und weiter) ein Geschenk des
Himmels. Wünschen die Befürworter der modernen Völkerwanderung
wenigstens eine Million Flüchtlinge jährlich nach Europa zu führen, versuchen
jene, die das Prinzip offener Grenzen und freier Fluchtrouten ablehnen, neue
Fluchtrouten ausfindig zu machen und abzuriegeln sowie alte Fluchtrouten
nachhaltig zu blockieren. Und während die Verweigerer und Grenzen
Sichernden noch besorgt fragen, wie man die schon nach Europa Geflüchteten
in die europäische Kultur integrieren könnte, behaupten die Befürworter
offener Grenzen, daß eine „Integration“ gar nicht nötig sei, weil die
europäischen Staaten und deren Kulturen ihrerseits längst schon parallel- und
multikulturell organisiert seien und ohnehin nur tägliche Zuwanderung die
Überlebensfähigkeit Europas sichere.

II. Europas Einwanderungsländer

Werden die Staaten Europas zu multinationalen Staaten, scheinen sie dem
Modell Schweiz als gelungenes Vorbild nachzueifern und zugleich das große Ziel
der neuen EU: das neue Volk des Vereinigten Europa als Souverän eines
übernationalen Nationalstaates direkt anzusteuern. Endlich erhielte der große
Bruder jenseits des Ozeans einen gleichmächtigen Bruder diesseits des Ozeans.

Zwar könnte die beschworene „Integration“ von Millionen Immigranten, wie
kürzlich der Bundespräsident Deutschlands nachdenklich vermutete, „noch
Jahrzehnte dauern“, doch scheint die globale Immigration nach Europa von
Teilen der EU und ihrer Eliten auch gewünscht.

Während diese, entweder offen oder verdeckt, eine multinationale und
multikulturelle Leitkultur als neue europäische Leitkultur durchzusetzen
versuchen, wird die Frage nach der nationalen Identität der europäischen
Staaten mittlerweile mit dem Tabu „Populismus“ denunziert und unter
Denkverbot gestellt. Denn was nicht mehr sein soll, das darf nicht mehr gedacht
werden.

Nationalstaat „war gestern“, ebenso Churchills Vision eines künftigen Europas
der vereinigten Vaterländer. – Der neue Multinationalstaat, zunächst in den
absterbenden Nationalstaaten Europas erprobt, dann als europäisches Projekt
realisiert, „wird morgen sein.“ Wie Phönix aus seiner Asche neugeboren, werde
der entschlossene Konkurs der Nationalstaaten schon bald zu einer
Neugründung der Vereinigten Staaten von Europa führen.

In Deutschland führt die periodisch aufflammende Diskussion um eine speziell
deutsche Leitkultur, die als Ziel der Integration genannt wird, regelmäßig in
Sackgassen. Teils wird sie generell als sinnloses Ablenkungsmanöver tabuisiert,
teils wird festgestellt, daß „das Deutsche“ schon in jedem Bundesland anders
definiert und gelebt wird. Zählte man auch noch die diversen Sparten der Kultur
hinzu, ebenso die der Berufs- und Freizeitwelten, wäre der gesuchte Wald
angesichts endlos vieler verschiedener Bäume nicht mehr zu finden. Die Kultur
Deutschlands sei schon durch sich selbst bunt und vielfältig (geworden), warum
sollte die Zuwanderung aus dem islamischen und afrikanischen Welt-Gürtel,
dem Reichtum deutscher Vielfalt nicht weitere unbegrenzte Möglichkeiten
eröffnen?

Die vielen Arten des Deutschseins schließen einander zwar in der Regel aus, –
ein Bayreuth-Fan verirrt sich eher selten auf das Münchner Oktoberfest – aber
beide tolerieren einander. Und weil man im Tolerieren noch der sonderbarsten
Kulturstämme deutscher Nation mittlerweile virtuose Übung erlangt hat, könne
die genannte „fremdkulturelle“ Zuwanderung aus dem islamischen und
afrikanischen Welt-Gürtel doch nur ein erfreulicher Anlaß sein, die Grenzen der
Toleranz abermals zu erweitern.

Außerdem benötige der deutsche Alltag ohnehin einen kräftigen Schuß
Abwechslung. Stets dieselben vertrauten Gesichter sehen und dieselben
langweiligen Gebräuche der verschiedenen „native-speaker“ wiederholen zu
müssen, das bezeuge eine „ewiggestrige“ Weltfremdheit in einer Welt, die ihre
grenzenlose Globalisierung längst schon eingeleitet hat. Mehr liberale
Gesinnung im Dienste globaler Humanität, lautet demnach die aktuelle
Forderung des Weltgeistes.

Aber diese naive Apologie unter dem Deckwort „offene Globalisierung“ verkennt
nicht nur die ohnehin vorhandene „Vielfalt an Lebensformen“ in den
Nationalstaaten Europas, sie übertüncht vor allem ihre Furcht vor dem
nahenden Abgrund.

Man bemerkt unterdessen, daß es nicht genügt, das Ziel der gewünschten
„Integration“ von Hunderttausenden Immigranten (aus Dutzenden Staaten
Asiens, Arabiens und Afrikas) auf das Erlernen der deutschen oder einer
anderen nationalen Sprache Europas zu reduzieren. Denn es ist verhängnisvoll
naiv zu meinen, die westliche Kultur der europäischen Staaten sei auf deren
Sprache reduzierbar. Obwohl selbstverständlich immer noch gilt, daß die vielen
Sprachen Europas (mehr als zwanzig) mit den (schwindenden) Nationalkulturen
der europäischen Staaten untrennbar verbunden sind.

Und auch das Erlernen der arabischen Sprache, wie von deutschen
Akademikern in vorauseilendem Anpassungsgehorsam vorgeschlagen
(„Integration ist keine Einbahnstraße“), wäre nur ein Tropfen auf dem großen
Stein von wenigstens zwanzig bis fünfzig fremden Sprachen der
„Zugewanderten“, die nun von den deutschsprechenden Einheimischen, aber
auch von den Immigranten selbst zu erlernen wären.

Dazu kommt, daß Deutsch als Hochsprache nicht einmal in Deutschland
ausschließlich verbindlich ist. Zwar ist Dialekt-Sprechen und Dialekt-Schreiben
im gesetzlich verankerten Schulunterreicht vorerst noch verpönt (in der
Perspektive des postmodernen Libertinismus und seiner „für alles offenen“
Demokratie: noch nicht „inkludiert“, weil ausgegrenzt und diskriminiert),
dennoch regieren in der Alltagskultur der sechzehn Bundesstaaten
Deutschlands zahlreiche anerkannte Dialekte als normative Umgangssprachen.
Nicht zu vergessen die Mischsprachen der schon seit Jahrzehnten in
Deutschland lebenden Migranten (anfangs „Gastarbeiter“), die ihren je eigenen
Migranten-Deutsch-Dialekt praktizieren. Und diese Sprachlandschaft im
Einwanderungsland Deutschland findet sich analog in allen
Einwanderungsländern Europas.

Versteigt sich nun ein deutscher Rechtsexperte – in überfliegender
Toleranzgerechtigkeit – zur Aussage, im deutschen Rechtsstaat sei
„grundsätzlich niemand verpflichtet, deutsch zu sprechen“, beschädigt und
unterminiert er das Prinzip „Integration durch gemeinsame Sprache“ mit dem
Segen der juridischen Gewalt, indem er diese mitentsorgt. (Er ist bereit, bei
Rechtshändeln unter multinationalen Streitparteien nach dem Anhören ebenso
vieler Dolmetscher zu urteilen und zu richten.)

Derselbe Rechtsexperte ist aber zugleich überzeugt, daß in Deutschland nur
dessen Grundgesetz geeignet ist, für alle, die in Deutschland leben, das
Verbindende, das Gemeinsame, das Rechtlich-Verbindliche zu sein.
„Verfassungspatriotismus“ für alle Migranten, die in Deutschland bleiben,
woraus natürlich folgt, daß auch für die deutschen Deutschen in Zukunft nur
noch dieser neue, nichtmehr der nationale Patriotismus lebbar sein soll. Die
Konflikte, die aus dieser nicht mehr nur stillen Revolution folgen, lassen sich
vorerst nur in groben Umrissen erahnen: Zwei Beispiele: Immer noch die
deutsche Nationalhymne bei Spielen der deutschen Nationalmannschaften?
Eidschwur aller Soldaten der Bundeswehr auf das Grundgesetz und die
deutsche Fahne, – auch für muslimische Wehrdiener?

Auf jeden Fall ist aber mit dem Grundgesetz, das den Freiheiten, die in
Deutschland gelebt werden dürfen und können, jener „Rahmen“ vorgegeben,
der garantieren soll, daß Staat und Gesellschaft nicht auseinanderbrechen und
in eine mittelalterliche Fehde-Gesellschaft zurückfallen. Wer sich an die Gesetze
des Grundgesetzes hält, ist unser Gesetzesbruder, unsere Gesetzesschwester.
Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Aber die Frage, ob das Leben unter
gemeinsamen Gesetzen auch schon zureichend verbindend und verbindlich sein
kann, ist eine Frage, die nicht nur in das Gebiet gelebter Alltagskultur führt. Sie
führt auch in das umstrittene und dunkle Grenzgebiet zwischen Legalität und
Moralität.

Denn auch ein „hundertprozentig“ legal lebender und handelnder Deutscher
oder Immigrationsdeutscher kann und darf bekanntlich keiner (moralischen)
Gesinnungskontrolle unterworfen werden. Nicht weil die „Gedanken frei sind“,
sondern weil ein durch Institutionen kontrollierbares Gewissen das Gegenteil
seiner selbst wäre. Nach rechtstaatlicher Norm ist wirkliche Freiheit – die
„Würde des Menschen“ – nur vor und für sich selbst verantwortlich.

Auf die Frage (an alle): wie hältst Du es mit dem Grundgesetz?, sollte daher
jeder Bürger eine legal zustimmende Antwort geben. Doch wie die Gesinnung
des Zustimmenden beschaffen ist, ist durch legalen Wortlaut oder legale
Schrifterklärung nicht zu beantworten. Nur eine die Legalität der Gesetze nicht
anerkennende Antwort wäre sogleich als Vergehen gegen das Grundgesetz zu
ahnden.

Indes der legal Zustimmende, aber zugleich mit seiner Gesinnung, etwa aus
religiösen oder kulturellen Gründen, insgeheim nicht Zustimmende, sich mit
diesem Widerspruch selbst ahndet, selbst richtet. Jedenfalls nach den Gesetzen
der moralischen Welt des säkularen Westens, von denen die politischen
Grundgesetze zwar voraussetzend zehren, nicht aber an deren Stelle treten
dürfen. (Die Gesetze des Staates dürfen das Gewissen weder belehren und
erziehen noch brechen und versklaven.)

Weil aber die Gesetze der religiösen Kulturen, die nun in den Westen mit
einwandern, ein vormodernes religiöses Gewissen hegen und pflegen, sind
nicht westliche Diktaturen, die irgendwo bestünden oder drohten, sondern just
diese einwandernden Gesetze und deren vormoderne Art von Gewissen das
„globale“ Problem, das die Demokratien und Staaten der Ersten Welt bedroht.
(Von diesem sollte nicht dadurch abgelenkt werden, daß bei jeder Gedenkfeier,
die an die düstere Geschichte Europas erinnert, Nationalsozialismus und
Kommunismus neuerlich, nun aber endgültig, weil mit unüberbietbarer
Wortgewalt besiegt werden.)

Aus der Problematik im Dunkelfeld zwischen Legalität und Moralität folgt für die
Massen-Einwanderungs-Staaten der Ersten Welt ein Konflikt, der schon seit
geraumer Zeit seinen richtigen Namen gefunden hat: Clash of Civilizations.

Dieser ereignet sich seit dem Wendejahr 2015 auf allen Ebenen des öffentlichen
und privaten Lebens, von der militärischen bis zur Schulklasse, von der
weltpolitischen bis zum Arztbesuch, von der Asylverwaltung bis zum Alltag in
Stadtvierteln, in denen sich islamische oder/und kriminelle Parallelkulturen
festgesetzt haben. Und im Dunkelfeld zwischen Moralität und Legalität zeitigt
der große Clash die vermeintlich kleinen Konflikte im religiösen Gewissen nicht
weniger Immigranten wie auch derer, die in den Migrationsländern die
„Integration“ der Fremdkulturellen in die westliche Kultur ermöglichen sollen.

Die im Westen seit langem eingeübte Trennung von Politik und Religion existiert
in den Staaten und Kulturen der islamischen Länder nur sehr rudimentär.
Folglich haben die meisten Migranten in ihren Herkunftsländern keinen
Unterricht darüber erhalten, wie man sich im Westen „verfassungspatriotisch“
verhält. Ein Mangel, der sich durch nachgereichte „Integrationskurse“
schwerlich beheben läßt. Ein Beispiel aus vielen ähnlicher Art: Antisemitismus ist
in den meisten Herkunftsländer der Migranten seit einem Jahrhundert und
länger Staatsdoktrin und gelebtes Alltagsdenken. Doch ein Moslem, der sich als
bekennender Antisemit durchs deutsche oder europäische Leben bewegt, kann
nicht als „integriert“ gelten. Wieder platzt eine Seifenblase der Multi-Kulti-
Ideologie.

III. Mentaler Bürgerkrieg

Mittlerweile (2018) sammelt sich an den afrikanischen und asiatischen
Südgrenzen Europas ein Heer von Millionen, das nach Norden drängt, weil der
Magnet Europa und der Supermagnet Deutschland unwiderstehliche
Anziehungskräfte ausstrahlen.

Die nordafrikanischen Staaten, selbst schon an den Rand einer Destabilisierung
ihrer Gesellschaften gedrängt, weisen Abertausende entweder in ihre
Herkunftsländer im Süden zurück, oder lassen zu, daß der Strom der
Fluchtreisenden durch übernational organisierte Schleppermafias nach Norden
wandert. Wobei „Wandern“ und „Zurückweisen“ Worte sind, die das Leiden der
Fluchtheere verharmlosen und unsichtbar machen.

In den (halb)asiatischen Anrainerstaaten Europas, vor allem Türkei und
Jordanien, sollen spezielle Verträge und enorme Geldsummen bewirken, daß
der Zustrom teils kontrolliert erfolgt, teils zum Erliegen kommt. Doch beklagen
Italien, Griechenland und Spanien, die europäischen Erstankunfts-Länder der
Migrantenströme, seit Jahren, daß sie zur Bewältigung des Problems
„Völkerwanderung“ keine zureichende Hilfe durch die EU („Brüssel“) erhalten.
Man lasse sie allein, und dies werde sich noch rächen oder gerächt werden.

Aber auch diese Staaten spaltet die angeführte Polarisierung der europäischen
Mentalität. (Nationalen)EU-Europäern, die die moderne Völkerwanderung
befürworten und unterstützen, stehen auf der Widersacher-Seite andere
(nationale)EU-Europäer gegenüber, die das angeblich als Naturgewalt sich
ereignende Unternehmen ablehnen und zu verhindern oder wenigstens zu
kontrollieren versuchen. Die Befürworter und Unterstützer agieren oft im
Schlepptau oder als Vorhut der international vernetzten NGOS vieler Staaten der
Ersten Welt. Sie machen – gewollt oder ungewollt – mit den Schleppermafias
außerhalb und in Europa gemeinsame Sache.

Nicht zur Freude ihrer Widersacher, die das Migrations-Projekt, das jährlich
wenigstens eine Million Fluchtreisende nach Europa führen soll, mit Entsetzen
und Furcht betrachten. Sie stellen das Prinzip „offene Grenzen für alle“ an den
Pranger und versuchen die jeweils neuesten Fluchtrouten abzuriegeln und die
alten Fluchtrouten nachhaltig zu blockieren. Sie trifft der Vorwurf des
„Abschottens“, mit welchem Makel sie nun an den gemeinsamen Pranger
gestellt werden.

Folglich entsteht in der Ersten Welt ein mentaler Bürgerkrieg zweier neuer
„Religionen“: Unerbittlich treibt der Clash of Civilizations seinen spaltenden Keil
mitten durch das Herz eines Europa, das sich eben noch dünkte, als neue
Weltmacht zur führenden Friedensmacht der Welt aufzusteigen. Seien die
bisherigen Unfriedensmächte der Welt besiegt, diesmal durch Friedensarbeit an
allen „Fronten“, die keine mehr sind, werde eine neue Zeit anbrechen, – die
große Zeit des großen Friedens der erstmals friedlich vereinigten Menschheit.
Europa schafft die Rettung der Menschheit, und unsterbliche Lorbeeren
sammeln sich auf seinem klugen Haupt.

Die Gegenrechnung zu dieser Friedensrechnung läuft auf ein unlösbares
Dilemma hinaus: Entweder (a) rettet Europa aus „Menschlichkeit“ ganz Afrika
und halb Asien, indem man über Jahrzehnte eine Million „Flüchtlinge“ jährlich
nach Europa bringt, oder (b) Europa rettet sich selbst, indem es seine
pazifistische Rettung der Welt unterläßt und erkennt, was möglich und was
unmöglich ist. Unter (a) erfolgt der Selbstmord Europas mit gesteigerter
Progression, unter (b) bleibt die Hoffnung, daß sich Afrika und Halb-Asien selbst
retten können, weil ihnen UNO, USA, China, Rußland und Europa, ökonomisch
und politisch über Runden helfen, um ihren fatalen Rückstand gegenüber der
Ersten Welt, spät aber doch, aufzuholen.

Für die Befürworter und Unterstützer ist „Menschlichkeit“ eine Kategorie, in der
sich die politische Kategorie der Menschenrechte metachristlich religiös
überhöht und unerreichbar vollendet hat. Und aus dieser selbsternannten
Immunität heraus, wird gegen die Verweigerer des großen
Weltfriedensprojektes entweder die Kolonisierungs- oder die Nazikeule oder
beide geschwungen.

Die Befürworter haben sich die Konsequenzen ihrer Quasireligion weder schon
bewußt gemacht, noch scheinen sie gewillt, dies jemals zu tun. Folglich könnten
sie nur an der unmöglichen Realisierbarkeit ihrer Utopie – gleichsam mit dem
Kopf an die Wand gestoßen – einsichtig werden.

Ob es dann für Europa zu spät sein wird, noch rechtzeitig auf den rettenden
Weg umzulenken? Also wird viel, vielleicht alles davon abhängen, ob es gelingt,
dieses Dilemma zu vermeiden, zu umgehen, zu überlisten. Die Fallen der
politischen Weltgeschichte sind stets und überall lebensgefährlich.

Die unmögliche Realisierbarkeit erfahren viele europäische
Einwanderungsländer schon seit 2015. Aber die näher rückende Wand wird
entweder geleugnet oder schöngeredet. Der Elefant steht im Laden, aber wer
erblickt und erkennt ihn, da ihm die Anerkennung verwehrt wurde?

Daß die Befürworter und Unterstützer weder eine „unmögliche Realisierbarkeit“
noch eine „näher rückende Wand“ erblicken können, versteht sich von selbst:
Ihr Optimismus ist grenzenlos, ihr Vertrauen in die Richtigkeit und Wahrheit
ihres Standpunktes ebenso. Offene Grenzen für offene Migration,
multikulturelle Integration („keine Einbahnstraße“) für die „Vision“ eines neuen
Europa, einer neuen posteuropäischen Kultur, einer neuen Menschheit.

Diesen Optimismus und dieses Selbstvertrauen erreichen keine Argumente aus
den Abgründen der aktuellen Realität und ihrer drohenden Entwicklung und
auch kein Vorschlag, man möge ein rationales Vorausschauen in die Zukunft
versuchen. Angesichts der Ghettos und Sondergesellschaften, in denen
Hunderttausende „Flüchtlinge“ (deren wirklicher Status zumeist unklar ist) in
vielen Ländern Europas hausen, bedürfte es lediglich einiger rationaler
Hochrechnungen, um den Zeitpunkt zu eruieren, an dem der Umschlag
maximaler Quantitäten in katastrophale Realitäten erfolgen wird.
Würde man beispielsweise in den Ankunftsländern der Migration an der
Mittelmeergrenze Europas (aber auch im reicheren Norden: Deutschland und
Skandinavien) die bisherige Politik des laissez-faire beibehalten, würde der
Alarmruf, der manchmal schon jetzt, wenn auch verhalten, durchdringt, die
gesamte EU, vielleicht ausgenommen die Länder Osteuropas, erfassen: Zu
wenige „Lager“, zu wenige Gefängnisse, zu wenige Polizisten, zu wenige Ämter,
zu wenige Gerichte, zu wenige Gelder, zu wenige freie Arbeitsstellen. Und am
Ende: zu wenige sichere Ortschaften und Stadtviertel. Gegen alle diese und
ähnliche Übel wird zur Stunde wieder einmal auf den Straßen Jordaniens, des
Iraks, Ägyptens usf. demonstriert, nicht von Außenseitern und Minderheiten,
sondern von Massen, die Mehrheiten repräsentieren.

In Europa war ein vergleichbarer Zustand einer europaweiten Erregung und
Erhebung bisher nur bei Protesten gegen die Anschläge des islamistischen
Terrors und bei Kundgebungen für offene Grenzen, freie Migration und
„Integration ohne Einbahnstraße“ zu beobachten.

Würden aber die Proteste gegen ein unbegrenzt steigerbares „Zu wenig“ (an
Sicherheit durch den Staat, an Sicherheit durch die Gemeinden, an Sicherheit
durch die EU-Politik usf.) auch in Europa um sich greifen, wäre dies der
politische Beweis, daß sich das heute noch stolz und optimistisch verfolgte
Prinzip der allseitigen Offenheit selbst widerlegt und ad absurdum geführt
hätte.

Europa würde sich vom Nahen Osten und anderen Staaten der Zweiten Welt
nicht mehr unterscheiden. Und der zynische Vorteil: dann kämen auch keine
„Fluchtreisenden“ und „Wandervölker“ mehr nach Europa, weil dieses so arm
und rückständig geworden wäre wie die Länder der Zweiten und Dritten Welt
immer schon waren, wäre kein schwacher, es wäre gar kein Trost.

Dennoch würde diese Katastrophe von den leidenschaftlichen Anhängern einer
Politik des „no border“ und „open border“ nicht als selbstverschuldete
Katastrophe erkannt und anerkannt werden. Das Vertrauen einer Ideologie in
ihr Rechtgehabthaben ist grundsätzlich nicht erschütterbar, Anhänger von
Ideologien sind grundsätzlich nicht belehrbar. Da man immer nur das Gute und
Wahre und Allerbeste gewollt habe, sei die Ursache und Schuld des
europäischen Selbstmordes bei den Verweigerern und Widersachern, bei den
unmenschlichen „Abschotterern“ Europas zu suchen. Diese wären vom
„alternativlosen“ Weg zum Heil nicht zu überzeugen gewesen, sie hätten
immerfort obstruiert und den Erfolg des Projektes, das mit Europa zugleich die
halbe Menschheit gerettet hätte, verhindert. Professionelle Realitätsblindheit
behält das letzte Wort.

Dagegen konstatieren die nichtrealitätsblinden Eliten Europas ernüchtert, daß
das „europäische System, wie es in den Dubliner Übereinkommen festgelegt
wurde, komplett versagt hat.“ (Pascal Brice, Leiter der französischen
Asylbehörde Ofpra. FAZ, 19. Juli 2018.) Und dieses klägliche Scheitern von
„Dublin“ lastet wie ein Menetekel auf allen: auf Europa und auf allen
Herkunftsländern der Migration. Daß aber ein „offenes Asylrecht“, wie von der
„menschlichen“ Ideologie von „no border“ gefordert, nur ein weiteres und noch
verhängnisvolleres Scheitern bewirken würde, bleibt nur ihnen verborgen, da
sie alle politischen Kategorien und realen Bewegungen ihren Wünschen und
Hoffnungen auf eine neue „menschliche“ Kolonisierung der Zweiten und Dritten
Welt opfern.

Eine wahrhaft neue Kolonisierung, die mit den Geschichte gewordenen vom 15.
bis zum 20. Jahrhundert nur mehr den Namen gemeinsam hätte. Denn die
Enteignung ganzer Völker durch deren Abwanderung kann ihren Staaten und
Staatslenkern zwar für den Augenblick erfreulich erscheinen, weil die
Überweisung der westlichen Sozialgelder in die Heimatländer sowohl Völker wie
Staaten entlastet. Ganz abgesehen davon, daß die Arbeitsmärkte der Zweiten
und Dritten Welt, die diesen Namen nicht verdienen, durch die massenhafte
Abwanderung gleichfalls entlastet werden. Doch dieser Pyrrhussieg muß sich an
der Zukunft aller drei Welten rächen.

Eine massenhafte Entvölkerung der Zweiten und Dritten Welt durch eine
folgende Überbevölkerung Europas mit Millionen Migranten muß beide
Beteiligten, mögen sie sich noch so innig als Partner einer neuen („globalen“)
Menschlichkeit präsentieren, in einen gemeinsamen Abgrund stürzen. Die
Umrisse des Endes der Pax americana werden sichtbar.
Leo Dorner, Juli 2018